Sustainable Shareholder Activism – bald auch in Deutschland?

Im ersten Teil des Beitrags wurden die globalen Entwicklungen rund um den Sustainable Shareholder Activism beleuchtet. Dabei wurde insbesondere das Beispiel Exxon Mobile aufgegriffen. Sicherlich stellt das in Teil I beschriebene Beispiel eines ESG-Aktivismus Exxon Mobile einen Sonderfall dar und natürlich gilt generell, dass die Sitten an den US-amerikanischen Kapitalmärkten rauer sind und zumindest in Kontinentaleuropa die dortigen Gebräuche zwar nachvollzogen werden, aber meist weit weniger akzentuiert. Dennoch wird man auch in Deutschland damit zu rechnen haben, dass bei zukünftigen Kampagnen und Initiativen aus dem Aktionariat ESG-Themen eine wachsende Bedeutung erlangen werden.

I. Keine Hauptversammlungszuständigkeit für ESG-Themen

Dem deutschen Aktienrecht ist ein rein konsultatives Votum ohne Bindungswirkung, das der Hauptversammlung die Beschäftigung mit mehr oder weniger beliebigen Themen zur Aufgabe machen könnte, grundsätzlich fremd. Die Hauptversammlung ist im Ausgangspunkt nur in den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen zuständig, wobei ausdrückliche Zuständigkeiten im Bereich ESG bisher fehlen. Trotz der Aufwertung, die Nachhaltigkeit aktuell auch bei Unternehmen und ihren Anteilseignern erfährt, wird man selbstverständlich auch keine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung in ESG-Themen nach den Grundsätzen der Holzmüller-Gelatine-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes annehmen können. Voraussetzung und Rechtsfolgen dieser Rechtsprechung sind für andere Fälle entwickelt worden und passen kaum auf Bemühungen, den ökologischen und sozialen Fußabdruck der Gesellschaft zu verbessern.

II. Möglichkeiten eines Sustainable Shareholder Activism nach deutschem Recht

Wenn auch dem deutschen Recht das Instrument des shareholder proposal als Instrument der Wahl eines Sustainable Shareholder Activism fremd ist, ist nachhaltigkeitsbezogener Aktionärsaktivismus nicht qua Gesetzes unmöglich. Vielmehr stehen auch hier Anteilseignern grundsätzlich die drei bereits benannten allgemeinen Instrumente zur Durchsetzung einer ESG-Agenda zur Verfügung: Nutzung der Aktionärsrechte, trategiegespräche mit der Zielgesellschaft und allgemeines Werben für die eigene Agenda gegenüber der Gesellschaft oder Öffentlichkeit.

1. Ausübung von Aktionärsrechten

Das deutsche Aktienrecht steht bekanntlich auf dem Standpunkt, dass die Aktionäre ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft – grundsätzlich nur – in der Hauptversammlung ausüben (§ 118 AktG). Wenn auch ein „say on climate“ oder ein „say on ESG“ dem deutschem Aktienrecht grundsätzlich unbekannt sind (umfassend Harnos/Holle, AG 2021, 853), existieren multiple Möglichkeiten, die Nachhaltigkeitspolitik der Gesellschaft im Rahmen der Hauptversammlung zu thematisieren, kommentieren und bis zu einem gewissen Grade einer Abstimmung zu unterwerfen.

(1) Durch die nicht-finanzielle Berichterstattung nach §§ 289b ff., §§ 315b f. HGB sind die ESG-Anstrengungen der Gesellschaft (bzw. ein nach dem comply-or-explain-Prinzip erklärter Verzicht) integraler Bestandteil der Rechnungslegung.

(2) Da Gegenstand der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat letztlich die gesamte Unternehmensführung des abgelaufenen Geschäftsjahrs ist, kann diese zu einem Urteil über die Corporate Responsibility-Bemühungen des abgelaufenen Geschäftsjahres gemacht werden. Die gerade aktualisierten Proxy Voting Guidelines u.a. der Stimmrechtsberater (ISS, Glass Lewis) wie auch die hauseigenen Abstimmungsrichtlinien großer Vermögensverwalter wie BlackRock für die Hauptversammlungssaison 2022 lassen denn auch tatsächlich eine Tendenz erkennen, diagnostizierte Defizite im ESG-Bereich entweder bei Wahlen oder aber im Rahmen der Entlastung zu adressieren bzw. sanktionieren.

(3) Nächster naheliegender und auch durch das Aktiengesetz gewiesener Hebel sind die Beschlussfassungen zu Vergütungssystem und Vergütungsbericht, nachdem das Vergütungssystem nunmehr ausdrücklich Angaben zur Ausgestaltung von eventuell vorhandenen vergütungsrelevanten Nachhaltigkeitsparametern zu enthalten hat.

(4) Da das Aktiengesetz Geschäftsführung und Leitung der Gesellschaft bzw. des Unternehmens in die Hände des Vorstands legt (§§ 76, 77 AktG) und die Hauptversammlung damit weitgehend von operativen Entscheidungen ausschließt, stellen die Wahlen zum Aufsichtsrat wohl den wichtigsten Hebel für Aktionäre dar, (mittelbar) Einfluss auf die ESG-Politik der Gesellschaft zu nehmen. Das Beispiel Exxon Mobile/Engine No. 1 zeigt, dass Aufsichtsratswahlen durchaus auch als Kampfabstimmung unter ESG-Gesichtspunkten instrumentalisiert werden können. Dass das deutsche Recht in diesem Zusammenhang das Instrument der Wahl US-amerikanischer Kampagnen, die proxy solicitation nicht kennt, ist nur bedingt ein Hinderungsgrund. Auch nach deutschem Recht bestehen hinreichende Möglichkeiten, eine Kampagne zu organisieren. Zudem wirken sich zugunsten potenzieller Aktivisten die strukturellen Verschiebungen im Aktionariat von Publikumsgesellschaften seit Beginn der 90er des letzten Jahrhunderts aus (allgemein Gilson/Gordon, Colum. L. Rev. 113 (2013), 863; 864 f.; Gilson/Roe, Yale L. J. 102 (1993), 871, 878). Die Substitution echten Streubesitzes (dispersed ownership) nach dem Muster der Berle-Means-Corporation (Berle/Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932; hierzu etwa Gilson/Roe, Yale L. J. 102 (1993), 871, 876 ff.) durch große institutionelle Investoren reduziert die mit einer Kampagne verbundenen Such-, Anbahnungs- und Abschlusskosten drastisch. Im Einzelfall kann es genügen, sich der Unterstützung durch eine überschaubare Anzahl institutioneller Investoren zu versichern, um den Erfolg des eigenen Vorhabens zu gewährleisten. Zumindest naheliegende Zielgesellschaften von ESG-Aktivisten wie traditionelle Energieversorger, Rohstoffkonzerne etc. werden zukünftig mehr als nur einen Seitenblick darauf zu werfen haben, ob die eigenen Kandidaten nicht nur von ihrer finanzwirtschaftlichen Expertise, Herkunft und Hintergrund geeignet erscheinen, sondern ob sie auch den ESG-Ansprüchen der Mehrheit der Anteilseigner genügen. Die nach AktG und DCGK geschuldeten Angaben zu den eigenen Kandidaten der Gesellschaft für die Besetzung des Aufsichtsrats bieten hier eine Möglichkeit, diese Themen proaktiv zu adressieren und mögliche Zweifel an der ESG-Expertise des Aufsichtsrats erst gar nicht aufkommen zu lassen.

(5) Ein unter Berücksichtigung der bisherigen Praxis deutscher Publikumsgesellschaften vorläufig wohl nur theoretisches echtes Einfallstor für die Einflussnahme auf konkrete Aspekte der ESG-Agenda wäre § 119 Abs. 2 AktG, mit dem die Zuweisung der operativen und strategischen Entscheidungen an die Hauptversammlung bis zu einem gewissen Grad unter Vorbehalt gestellt werden (zu § 119 Abs. 2 AktG etwa Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721; speziell im vorliegenden Kontext jetzt Harnos/Holle, AG 2021, 853, 858 und im Gesellschaftsrechts-Blog).

(6) Die genannten Ansatzpunkte stehen nur beispielhaft. Auch bei anderen Maßnahmen wie etwa Fusionen & Übernahmen, die etwa über den Umweg des Umwandlungsrechts ein Votum der Aktionäre verlangen, werden neben strategischer Logik, finanzwirtschaftlicher Angemessenheit von Preis bzw. Umtauschverhältnis ESG-Fragen wohl einer strengeren Prüfung durch Investoren unterzogen werden.

2. Engagement

Das deutsche Aktienrecht steht auf dem Standpunkt, dass die Aktionäre ihre Rechte grundsätzlich (nur) in der Hauptversammlung ausüben. Dass allerdings Investorenkontakte auch in der Bundesrepublik ein Faktum sind, mit dem Beratung und Rechtsprechung umgehen müssen, belegt die jüngere Debatte um die Zulässigkeit von Investorenkontakten des Aufsichtsrats, die ihr zwar nicht rechtsverbindliches vorläufiges Ende damit gefunden hat, dass der DCGK unter A.3 nunmehr anregt, dass der Aufsichtsratsvorsitzende in angemessenem Rahmen bereit sein sollte, Gespräche mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen zu führen (hierzu etwa Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360; J. Koch, AG 2017, 129; E. Vetter, AG 2016, 873). Aus Sicht der Unternehmen bieten entsprechende vertrauliche Gespräche die Möglichkeit, sensible Themen nicht in der-zumindest halböffentlichen Arena der Hauptversammlung ausfechten zu müssen, die durchaus vorhandenen juristischen Untiefen entsprechender Kontakte sind aber ernst zu nehmen und ex ante zu minimieren (Insiderrecht, selektive Vorabinformation und informationelle Gleichbehandlung etc.). Bereits diese tour d’horizon zeigt, dass trotz ihres zunehmenden Routine-Charakters die entsprechenden Gespräche mit wesentlichen Investoren aufgrund zahlreicher Fallstricke nicht nur inhaltlich, sondern auch juristisch sorgfältig vorbereitet und begleitet werden sollten.

3. Advocacy / Kampagnen

Institutionelle Investoren und Aktivisten entwickeln darüber hinaus generell oder im Einzelfall erhebliche Öffentlichkeitsarbeit, um die eigenen Themen und Anliegen zum Erfolg zu führen, wobei Form und Inhalte nach Investorentypus und Anlass differieren. Unter der Überschrift Advocacy, worunter sich klassisches Lobbying, die Mitgliedschaft in Verbänden (z.B. United Nations Principles for Responsible Investing (PRI)) und die eigene Unternehmenskommunikation fassen lassen, engagieren sich insbesondere die großen Vermögensverwalter für die Einführung nachhaltigkeitsbezogener best practices durch die Portfoliounternehmen. So werben etwa die Großen Drei seit geraumer Zeit für die Beachtung und Vereinheitlichung der noch zahlreichen und teilweise in Konkurrenz zueinander stehenden Standards für eine nachhaltige Berichterstattung.

Hinzutreten fokussierte Medienkampagnen. Sowohl traditionelle institutionelle Investoren wie auch Aktivisten greifen in diesem Zusammenhang häufig auf eine – eventuell parallel öffentlich bekanntgegebene – Eingabe an den Vorstand zurück, in der die eigenen Ziele formuliert werden (Letter writing campaign). Bei Aktivisten steht eine entsprechende Eingabe nicht selten am Anfang einer weit umfänglicher angelegten Kampagne, in der durch kumulierten Einsatz aller zur Verfügung stehenden rechtlichen und tatsächlichen Instrumente versucht wird, maximalen Druck aufzubauen, um die Einigungsbereitschaft der Verwaltung zu erhöhen. Als Lehrbuchbeispiel taugt auch insoweit der „Fall“ Exxon Mobile, der mit der öffentlichen Aufforderung des Investors Enkraft Capital an den Vorstand der RWE, sich aus dem Kohlegeschäft zurückzuziehen und einen stärkeren Fokus auf erneuerbare Energien zu legen, bereits einen ersten Nachahmer in der Bundesrepublik gefunden hat.

III. Fazit

Das Thema ESG ist mittlerweile bei Unternehmen und Investoren nicht nur als Marketing- und Recruiting-Instrument angekommen. Nachdem auch Gerichte und Gesetzgeber zunehmend verbindliche Anforderungen an ESG formulieren, ist es zugleich als harter Erfolgsfaktor der Unternehmensführung erkannt worden. Wie die zunehmende Zahl von Beispielen aus dem Schrittmacherstaat Vereinigte Staaten zeigt, müssen sich Publikumsgesellschaften darauf einstellen, dass Forderungen nicht mehr nur durch Gesetzgeber und Rechtsprechung formuliert werden, sondern auch aus den Reihen der eigenen Anteilseigner. Insbesondere zentrale Akteure wie die „Großen Drei“ und ihre europäischen Pendants räumen ESG-Fragen auf ihrer Dringlichkeitsskala aktuell eine hohe Priorität ein.

Angesichts dieses Befundes sind die auch die deutschen Publikumsgesellschaften gehalten, sich auf entsprechende Forderungen ihrer Anteilseigner, die notfalls auch mit den zur Verfügung stehenden Aktionärsrechten durchzusetzen versucht werden, vorzubereiten. Der Umstand, dass das deutsche Aktienrecht zumindest grundsätzlich keine unmittelbare Befassung der Hauptversammlung mit ESG-Themen vorsieht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aktionären Instrumente für die Implementierung von ESG-Zielvorstellungen zur Verfügung stehen. Möglichkeiten und Konsequenzen eines Sustainable Shareholder Activism sollten deshalb bei zukünftigen Planungen auf der Agenda stehen und proaktiv adressiert werden.

Ein ausführlicher Aufsatz des Autors zum Sustainable Shareholder Activism erscheint demnächst in der AG.

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