Squeeze Out: BGH zur Relevanz des Barwerts der Ausgleichszahlung – ist damit alles geklärt?

Bei einem Squeeze Out sowie bei Vorliegen eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrags (kurz: „Unternehmensvertrag“) stellt sich die Frage der Relevanz der in der Regel festen Ausgleichszahlung (auch „Garantiedividende“) für die Bemessung der Barabfindung. Der BGH (v. 12.1.2016 – II ZB 25/14, AG 2016, 359) hatte in der „Nestlé“-Entscheidung 2016 die Frage, ob der Barwert der Ausgleichszahlungen (kurz: „BdA“) neben dem Börsenkurs als (weitere) Untergrenze zu berücksichtigen ist, explizit noch offengelassen. In der Folge hatte das OLG Düsseldorf (v. 15.11.2016 – 26 W 2/16, AG 2017, 672) unter Bezugnahme auf rechtliche Argumente die Auffassung bekräftigt, der BdA sei prinzipiell nicht zu berücksichtigen. Dagegen hatte das OLG Frankfurt in seinem Beschluss vom 20.11.2019 (21 W 77/14, AG 2020, 298) ausgeführt, der BdA sei als Mindestwert zu berücksichtigen, und die Rechtsfrage dem BGH vorgelegt.

In seinem Beschluss vom 15.9.2020 (II ZB 6/20, AG 2020, 949 – „Wella III“) hält der BGH nunmehr zunächst allgemein fest, die angemessene Barabfindung könne nach dem BdA bestimmt werden, wenn dieser höher als der anteilige Unternehmenswert ist, der Unternehmensvertrag zum nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG maßgeblichen Zeitpunkt bestand und von seinem Fortbestand auszugehen war. Die Diskontierung der festen Ausgleichszahlungen sei eine Methode zur Errechnung des Barwerts des Fruchtziehungsrechts. Ob der BdA, der quotale Unternehmenswert nach dem Ertragswertverfahren oder eine Kombination aus beiden den Wert der Unternehmensbeteiligung zutreffend abbilde, sei eine Frage des Einzelfalls.

Im Hinblick auf die Relevanz des BdA als Untergrenze argumentiert der BGH mit dem OLG Frankfurt über die Vermögensposition des außenstehenden Aktionärs. Infolge der Übertragung der Aktie verliere der Minderheitsaktionär seine Stellung als außenstehender Aktionär und damit den Anspruch auf die Garantiedividende. Für den Minderheitsaktionär bestimme sich der Wert der Unternehmensbeteiligung primär durch die Erträge, die er ohne Übertragung der Aktien auf den Hauptaktionär zukünftig erhalten hätte. Während der Laufzeit des Unternehmensvertrags seien das die Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG. Der Ausgleichsanspruch ersetze (allerdings) nur die Aussicht auf Dividende, nicht aber den Anteil an der Vermögenssubstanz, auf den bei Auflösung und Liquidation ein Anspruch bestehe. Daher stelle der BdA regelmäßig nur den Mindestwert der Abfindung dar.

Im Ergebnis hat der BGH mit der „Wella III“-Entscheidung die vorgelegte Rechtsfrage nunmehr im Sinne einer notwendigen Berücksichtigung der Ausgleichszahlungen entschieden. Allerdings ergeben sich für die Bewertungs- und Rechtspraxis weiterhin interessante Auslegungs- und Umsetzungsfragen, die in diesem Blog-Beitrag nur angerissen werden können. Für eine ausführlichere Diskussion der BGH-Entscheidung sowie für eine Diskussion weiterer Entscheidungen und Entwicklungen in Spruchverfahren aus dem Jahr 2020 verweisen wir auf unseren Beitrag   „Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2020“ in AG 2021, 296.

In methodischer Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, ob eine zeitlich erst nach dem Squeeze Out im Spruchverfahren zum Unternehmensvertrag rechtskräftig erhöhte Ausgleichszahlung (nachträglich) heranzuziehen ist. Darüber hinaus ist der für die Diskontierung der Ausgleichszahlungen (risiko-)adäquate Zinssatz zu ermitteln. Daneben eröffnen die Entscheidungen des BGH in Sachen „Nestlé“ und „Wella III“ Interpretationsspielräume, ob der Börsenkurs ggf. keine Untergrenze im Sinne des BGH darstellt.

Ob der BdA, der anteilige Ertragswert oder eine Kombination aus beiden den Wert der Unternehmensbeteiligung zutreffend abbildet, ist nach der Auffassung des BGHs eine Frage des Einzelfalls. Sofern aus der Sicht des Bewertungsstichtags (vereinfachend) von einer unendlichen Laufzeit des Unternehmensvertrags ausgegangen wird und der BdA (berechnet über die Formel der ewigen Rente) über dem anteiligen Ertragswert und dem Börsenkurs liegt, greift entsprechend dem BGH – im Sinne einer Meistbegünstigung – der BdA als Untergrenze der Abfindung. Wird dagegen eine begrenzte Laufzeit prognostiziert, dürfte der Kombinationswert greifen. Dabei wird für die prognostizierte Laufzeit des Unternehmensvertrags der Barwert der festen Ausgleichszahlungen angesetzt und der auf den Bewertungsstichtag bezogene Barwert des anteiligen Ertragswerts nach der erwarteten Beendigung des Unternehmensvertrages addiert. Der Prognose einer realistischen Laufzeit des Unternehmensvertrags unter Abstraktion von dem Squeeze Out kommt somit eine maßgebliche Bedeutung zu. Wirtschaftlich entscheidend sind dabei die planerischen Überlegungen der herrschenden Gesellschaft. Von gewichtiger Bedeutung ist daher der vom BGH bei den Ausführungen zum Verhältnis zwischen BdA und Börsenkurs gegebene Hinweis auf die wirtschaftliche Interessenlage der betroffenen Parteien. Dazu wird vom BGH darauf hingewiesen, dass ein Unternehmensvertrag, der erheblich über dem Ertragswert liegende Ausgleichszahlungen gewährt, nicht dauerhaft von Bestand sein werde. Dahinter steht die wirtschaftliche Überlegung, dass für ein vertraglich herrschendes Unternehmen in einem solchen Fall die festen Ausgleichszahlungen „teurer“ sind als der entsprechende Anspruch der außenstehenden Aktionäre an der beherrschten Gesellschaft ohne Unternehmensvertrag. Für das herrschende Unternehmen bzw. den Mehrheitsaktionär wäre in einem solchen Fall grundsätzlich die Beendigung des Unternehmensvertrags ökonomisch rational.

Aus einer entscheidungstheoretischen Sicht ist die somit vom BGH angeregte Vornahme von wirtschaftlichen Rationalitätsüberlegungen zu begrüßen. Genauso wie der Ertragswert über den Börsenkurs und/oder Multiplikatoren und der Börsenkurs über den Ertragswert zu plausibilisieren ist, besteht die Notwendigkeit den (rein technisch) ermittelten BdA ökonomisch zu plausibilisieren. Bei dieser Plausibilisierung ist der BdA dem quotalen Ertragswert gegenüberzustellen. Dabei sollten nicht nur die Plausibilität der unterstellten Laufzeit, sondern auch die weiteren im Rahmen der Ermittlung des BdA angesetzten Parameter (im Wesentlichen der Diskontierungszins) gewürdigt werden.

Liegt der BdA im konkreten Fall erheblich über dem anteiligen Ertragswert und wird von einer adäquaten Festlegung der weiteren Bewertungsparameter ausgegangen, dürfte dies entsprechend ein starkes Indiz für die sachgerechte Annahme einer begrenzten Laufzeit sein. Dies wäre grundsätzlich selbst dann der Fall, wenn noch keine konkretisierten Überlegungen des herrschenden Unternehmens bekannt oder dokumentiert sind. Vereinfachend könnte in diesen Fällen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände sowie rechtlichen Beendigungsmöglichkeiten bspw. eine frühestmögliche Beendigung des Unternehmensvertrags nach der Detailplanungsphase oder eine alternative typisierende Laufzeitannahme sachgerecht sein.

Bei Wella lag der vom OLG Frankfurt herangezogene BdA bei rund 94 € je Aktie und der anteilige Ertragswert bei rund 65 € je Aktie. Der BdA lag somit um rund 46 % über dem anteiligen Ertragswert. Ob demnach bereits eine „erhebliche“ Diskrepanz vorlag, die letztendlich aufgrund wirtschaftlicher Plausibilisierungsüberlegungen für die Prognose einer begrenzten Laufzeit des Unternehmensvertrags oder eine Diskussion der weiteren bei der Ermittlung des BdA angesetzten Bewertungsparameter sprechen könnte, wird vom BGH nicht weiter ausgeführt.

Hinweis: Für eine ausführliche Darstellung der Entscheidung des BGH in Sachen „Wella III“ sowie  zu weiteren Entwicklungen in Spruchverfahren aus dem Jahr 2020 verweisen wir auf Ruthardt/Popp, Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2020, AG 2021, 296. Zu Bewertungsmethoden in der Rechtsprechung verweisen wir umfassend auf Popp/Ruthardt in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, § 12.

Barwert der Ausgleichszahlungen als (weitere) Untergrenze beim Squeeze-out bei Vorliegen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages – (wie) wird sich der BGH entscheiden?

Bei einem Squeeze-out bei Vorliegen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages stellt sich die Frage der Relevanz der in der Regel festen Ausgleichszahlungen für die Barabfindung. Der BGH (v. 12.1.2016 – II ZB 25/4) hat klargestellt, dass die als ewige Rente kapitalisierte Ausgleichszahlung bzw. der Barwert der Ausgleichszahlungen („BdA“) keine Wertobergrenze für die Abfindung darstellt. Der anteilige Unternehmenswert sei maßgeblich, wenn dieser über dem BdA liegt. Die Frage, ob der BdA neben dem Börsenkurs als (weitere) Untergrenze zu berücksichtigen ist, hat der BGH im Jahr 2016 explizit offengelassen.

In der Literatur wird in Bezug auf die Bedeutung des BdA von einer unsicheren Rechtslage, der Irrelevanz der Ausgleichszahlungen, der Möglichkeit eines Kombinationswertes aus zeitlich begrenzter Ausgleichszahlung und Ertragswert, sowie davon ausgegangen, dass der BdA als Untergrenze zu berücksichtigen ist (vgl. zu einzelnen Nachweisen Popp/Ruthardt in: Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, Rz. 12.219).

Das OLG Düsseldorf (v. 15.11.2016 – 26 W 2/16, AG 2017, 672) hat nach der Entscheidung des BGH im Jahr 2016 seine Auffassung bekräftigt, nach der der BdA generell nicht zu berücksichtigen sei und zur Begründung auf rechtliche Überlegungen abgestellt (vgl. zu den Kernaussagen Ruthardt, DB 2017, 535): Die Ausgleichsberechtigung vermittele keine grundrechtlich relevante und damit verfassungsrechtlich schutzbedürftige Rechtsposition. Sie stelle kein mitgliedschaftliches Recht dar und beinhalte lediglich ein vorübergehendes schuldrechtliches Forderungsrecht gegenüber Dritten, das durch zahlreiche Maßnahmen, die zur Beendigung des Unternehmensvertrages führen, entschädigungslos entzogen werden könne.

Dagegen hat jüngst das OLG Frankfurt (v. 20.11.2019 – 21 W 77/14, AG 2020, 298) die Auffassung vertreten, der BdA sei als Mindestwert zu berücksichtigen, wenn dieser den anteiligen Ertragswert und den Börsenkurs übersteigt. Aufgrund der Divergenz zur Auffassung anderer OLG hat das OLG Frankfurt mit seiner Entscheidung v. 20.11.2019 die sofortigen Beschwerden dem BGH zur Entscheidung vorgelegt.

Das OLG Frankfurt hält dabei insbesondere fest, das Anteilseigentum vermittele neben der mitgliedschaftlichen Stellung auch vermögensrechtliche Ansprüche. In vermögensrechtlicher Hinsicht trete bei einem Unternehmensvertrag der i.d.R. festbemessene Ausgleich nach § 304 AktG an die Stelle der Dividende und stelle wirtschaftlich nichts anderes dar als die Verzinsung der vom Aktionär geleisteten Einlage. Vor diesem Hintergrund stelle die Fruchtziehung in Form der Ausgleichszahlung einen Teil der Beteiligung des Minderheitsaktionärs in vermögensrechtlicher Hinsicht dar, die bei der Kompensation zwingend zu berücksichtigen sei. Eine Berücksichtigung dieses Teils der Beteiligung des Minderheitsaktionärs habe dabei in Form einer Untergrenze der Abfindung zu erfolgen.

Das OLG Frankfurt argumentiert insofern aus der Perspektive des außenstehenden Aktionärs. Es sei der Grenzpreis (des Anteils) zu ermitteln, zu dem ein außenstehender Aktionär aus der Gesellschaft ausscheiden könne, ohne einen wirtschaftlichen Nachteil zu erleiden. Das OLG Frankfurt orientiert sich grundsätzlich an den Beträgen, die einem außenstehenden Aktionär mit dauerhafter Halteabsicht („Daueranleger“) unter Abstraktion von der Strukturmaßnahme unter Berücksichtigung der aus der Sicht des Stichtages (unter vereinfachenden Annahmen) erwarteten Laufzeit des Unternehmensvertrages zukünftig zugeflossen wären.

Die Frage, ob durch den Rückgriff auf die im Spruchverfahren erhöhte Ausgleichszahlung nach Einkommensteuer, die unterstellte unendliche Laufzeit des Unternehmensvertrages und den für die Kapitalisierung angesetzten Zinssatz im vorliegenden Fall eine betriebswirtschaftlich nachvollziehbare Wertindikation für diese Perspektive ermittelt wird, soll hier nicht vertieft werden.

Für eine erhöhte Transparenz lässt sich jedenfalls bezogen auf den Ausgleich nach Einkommensteuern für die Stamm- und Vorzugsaktie und den festgelegten Kapitalisierungszinssatz mittels Rentenbarwertfaktor die implizite Laufzeit des Unternehmensvertrages bestimmen, die sowohl für die Stammaktien als auch die Vorzüge zu einem Barwert der Ausgleichszahlungen führt, der gerade noch unterhalb der korrespondierenden Börsenkurse liegt. In den Rentenbarfaktor geht die Laufzeit sowie der Abzinsungseffekt aus dem zeitlichen Anfall der Ausgleichszahlung ein. Hiernach muss die Vertragslaufzeit für die Stammaktien mehr als 56 Jahre betragen. Für die Vorzüge liegt die entsprechende Laufzeit bei mehr als 53 Jahren. Ob es sich bei impliziten Laufzeiten in dieser Größenordnung um realitätsgerechte Annahmen handelt, soll hier wiederum nicht vertieft werden. Festzuhalten bleibt, dass die Parameterfestlegungen des OLG Frankfurt für beide Aktiengattungen zu einem um rund 22,9 % gegenüber dem Bewertungsgutachten erhöhten Barwert der Ausgleichszahlungen führen.

Abgesehen von der Frage der konkreten Berücksichtigung der Ausgleichszahlungen bzw. deren betriebswirtschaftlich richtiger „Bewertung“ sind vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren intensiv geführten Diskussionen zur grundsätzlichen Bedeutung des BdA keine wesentlich neuen Argumente mehr zu erwarten. Es bleibt nur abzuwarten, ob sich der BGH hier positioniert bzw. sich auch dezidiert mit der betriebswirtschaftlichen Sichtweise zur grundsätzlichen Relevanz und konkreten Berücksichtigung der Ausgleichszahlungen auseinandersetzen wird.

Hinweis: Für eine ausführliche Darstellung des Vorlagebeschlusses des OLG Frankfurt sowie zu weiteren Entwicklungen in Spruchverfahren aus dem Jahr 2019 verweisen wir auf Ruthardt/Popp, Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2019 – Teil II: Ertragswertverfahren und Barwert der Ausgleichszahlungen, AG 2020, 322 sowie den umfassenden Beitrag zu Bewertungsmethoden in der Rechtsprechung von Popp/Ruthardt in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, § 12.

Stürmische Zeiten an der Börse – Bedeutung des Börsenkurses für die Ermittlung der angemessenen Kompensation in Spruchverfahren

Die Furcht vor den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sorgt für dramatische Kursverluste an den Aktienmärkten und stellt die Unternehmensbewertungspraxis vor neue Herausforderungen. Die aktuellen Entwicklungen werden auch (zukünftige) aktien- und umwandlungsrechtliche Strukturmaßnahmen (bspw. Squeeze Out, Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages, etc.) prägen, bei denen außenstehenden Aktionären eine „angemessene“ Kompensation anzubieten ist.

In der jüngeren Vergangenheit wird dazu von juristischen Kommentatoren eine stärkere Gewichtung bzw. im Extremfall alleinige Orientierung an Börsenkursen vertreten. In Spruchverfahren aus dem Jahr 2019 haben sich insbesondere die Landgerichte Stuttgart und Frankfurt a.M. in ihren Beschlüssen vom 8.5.2019 bzw. 27.6.2019 ausführlich dazu geäußert, warum nach ihrer Auffassung die marktorientierte Bewertung (allein) anhand eines umsatzgewichteten durchschnittlichen Börsenkurses eine grundsätzlich geeignete und in der Regel zu angemessenen Ergebnissen führende Bewertungsmethode sei. Eine gerichtliche Prüfung des Ertragswerts sei entbehrlich, wenn es aussagekräftige Börsenkurse gebe (vgl. LG Stuttgart v. 8.5.2019 – 31 O 25/13, BeckRS Rz. 255; LG Frankfurt/M. v. 27.6.2019 – 3-05 O 38/18, AG 2020, 143 = BeckRS Rz. 66).

Gerade in Krisenzeiten wird deutlich, dass Börsenkurse „Preise“ für einzelne Wertpapiere darstellen. Nicht weniger aber eben auch nicht mehr. „Preise“ sind – als Momentaufnahme – das Ergebnis von Angebot und Nachfrage und können (mehr oder weniger stark) durch nicht fundamental begründbare Faktoren bzw. (irrationale/erratische) Marktstimmungen beeinflusst sein. Zu Verkäufen aufgrund schlechterer Ertragsaussichten kommen solche aufgrund kurzfristiger Liquiditätsbedürfnisse von Investoren hinzu. Algorithmus-basierte Handelsstrategien können bestehende Trends verstärken (vgl. FAUB, Fachlicher Hinweis zur Auswirkung des Coronavirus auf Unternehmensbewertungen v. 25.3.2020).

Betriebswirtschaftlich ist von „Börsenpreisen“ der nach fundamentalanalytischen Wertermittlungsverfahren – d.h. im Rahmen einer Unternehmensbewertung – ermittelte „Wert“ von Unternehmen und Unternehmensanteilen zu unterscheiden. Für die Wertbemessung wird dabei im Rahmen von Spruchverfahren regelmäßig auf das Ertragswertverfahren zurückgegriffen. Der „Wert“ bestimmt sich dabei durch den Barwert der mit dem Eigentum an dem Unternehmen verbundenen zukünftigen Nettozuflüsse an die Unternehmenseigner (vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 4). Der fundamentale oder innere Wert einer Aktie weicht regelmäßig von ihrem Börsenkurs ab. Der Börsenkurs wird vor diesem Hintergrund als ein Wert bezeichnet, der einem labilen Regelkreis folgend um seinen fundamentalen Wert schwankt. Die Richtung (nach oben oder nach unten) und die Dauer der Abweichungen lässt sich allerdings nicht verallgemeinern. Regelmäßig wird davon ausgegangen, dass nur langfristig eine Rückkehr auf den fundamentalen Wert zu erwarten ist.

Unstrittig dürfte sein, dass es sich weder beim Börsenkurs noch beim Ertragswert um perfekte Wertmaßstäbe handelt und ein eindeutiger „wahrer Wert“ ein unerreichbares Ideal verkörpert. Durch eine fundamentale Unternehmensbewertung kann allerdings eine angebotene Kompensation durch eine fundamentale Unternehmensbewertung durch den Bewertungsgutachter, den gerichtlich bestellten Prüfer sowie das erkennende Gericht unter Rückgriff auf umfassende unternehmensinterne Informationen und Ansprechpartner gewürdigt werden. Auf diese Weise können alle möglichen verfügbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden, um dem hehren Ziel einer verfassungs- und einfachrechtlich angemessenen Kompensation möglichst nahe zu kommen. Vor dem Hintergrund des notwendigen Nebeneinanders von Börsenkurs und Ertragswert kann tatsächlich von der Unternehmensbewertung als einem interdisziplinären Begegnungsfach gesprochen werden.

Hinweis: Für eine ausführliche Diskussion der Bedeutung des Börsenkurses im Rahmen von aktien- und umwandlungsrechtlichen Strukturmaßnahmen verweisen wir auf Ruthardt/Popp, Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2019 – Teil I: Börsenkurs, AG 2020, 240 sowie den umfassenden Beitrag zu Bewertungsmethoden in der Rechtsprechung von Popp/Ruthardt in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, § 12.