Hauptversammlungssaison 2025: Was erwartet uns?

Vor wenigen Tagen ist im Verlag Dr. Otto Schmidt das Handbuch börsennotierte AG in brandaktueller 6. Auflage erschienen. Über die Datenbanken des Verlags und von juris ist das Handbuch elektronisch bereits verfügbar. In der kommenden Woche soll es dann auch als gedrucktes Werk ausgeliefert werden. Ich freue mich, dass ich dazu abermals das Kapitel zur Hauptversammlung beisteuern konnte – einschließlich zweier gänzlich neuer Abschnitte speziell zur virtuellen HV (§ 38 und § 39). Aber auch in unzähligen anderen Punkten hat das eingespielte Team aus Verlag, Herausgebern und Autoren das renommierte Werk auf den aktuellen Stand gebracht. Wichtige Stichworte sind etwa die Börsenmantel-AG, die Wiedereinführung der Mehrstimmrechte, die Reform des Kapitalerhöhungsrechts, der EU Listing Act, die CSRD und die CSDDD.

Dabei könnte das Timing kaum besser sein – denn die HV-Saison 2025 hat just in diesen Tagen begonnen. Mit Siemens, TUI und thyssenkrupp haben erste Schwergewichte (mit abweichendem Geschäftsjahr) ihre ordentlichen Hauptversammlungen 2025 bereits hinter sich gebracht. Der Höhepunkt der Saison liegt wie immer im Mai. Dann hält bekanntlich der Großteil der DAX-, MDAX- und SDAX-Gesellschaften (mit regulärem Geschäftsjahr) seine Aktionärstreffen ab. Die rechtlichen und organisatorischen Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren.

Was erwartet uns nun in der HV-Saison 2025?

Präsenz oder virtuell?

Die Frage des HV-Formats spielt in mehrfacher Hinsicht eine Rolle:

Erstens geht es darum, welches Format die Unternehmen in der soeben eingeläuteten HV-Saison 2025 nutzen. Das ist noch nicht in jedem Fall absehbar. Der Rückblick auf die Jahre 2023 und 2024 zeigt, dass im DAX mit einem Verhältnis von 3:1 das virtuelle Format dominierte. Im MDAX hingegen hielten sich physische und virtuelle Veranstaltungen in beiden Jahren die Waage. Und im SDAX sowie außerhalb der wesentlichen DAX-Indizes überwog sehr klar: das Präsenzformat. Daraus lässt sich ableiten, dass in erster Linie sehr große deutsche Börsenunternehmen das virtuelle Format schätzen und nutzen – namentlich aufgrund der Kostenvorteile, der besseren Planbarkeit und der potenziell größeren Reichweite. Mittelgroße und kleinere Aktiengesellschaften, mit oder auch ohne Listing, stellen hingegen oftmals andere Erwägungen in den Vordergrund. Diese Interessenlage und damit auch das empirische Gesamtbild dürften sich in der Saison 2025 nicht grundlegend verschieben. Einige Unternehmen werden zwar das Versammlungsformat wechseln: So möchten etwa SAP und BASF nach zwei Jahren der Präsenz erstmals das neue virtuelle Format testen. Umgekehrt plant beispielsweise die Deutsche Börse erstmals seit der Pandemie wieder ein physisches Aktionärstreffen. Solche Wechsel in beide Richtungen gab es aber auch schon im Vorjahr. Auf das Gesamtbild hatten sie keine spürbaren Auswirkungen.

Zweitens steht, ähnlich wie in den Vorjahren, auch das „Wie“ beider Formate in Rede. Im Präsenzformat geht es dabei um freiwillige digitale Zusatzangebote für die Aktionäre. Zu denken ist etwa an eine Übertragung der Veranstaltung im Internet oder in einem zugangsgeschützten HV-Portal. Ferner an eine elektronische Briefwahl bis in die HV hinein – ähnlich wie im virtuellen Format. SAP hat hier in den vergangenen beiden Jahren eine Vorreiterrolle eingenommen. Andere könnten sich in diesem Jahr daran orientieren. Für das virtuelle Format gibt es hingegen nur wenige echte Stellschrauben. Im Kern dreht sich hier alles um die Modalitäten des Fragerechts. Viele Aktionäre erwarten einen Live-Austausch mit dem Management. Das gilt auch für ihre Fragen und deren Beantwortung. Die allermeisten Unternehmen haben sich hierauf schon in den Vorjahren eingestellt. Das Gegenmodell, also das Einsammeln aller Fragen im Vorfeld der HV, nutzten hingegen nur wenige Gesellschaften. Dies im Übrigen mit stetig abschmelzender Tendenz. Die Deutsche Bank hat jüngst angekündigt, für ihre virtuelle HV 2025 nunmehr ebenfalls auf Live-Fragen umzustellen. Damit dürfte das „Fragenvorfeld“ sich für die aktienrechtliche Praxis erledigt haben. Es war stets aktionärsfreundlich gemeint. Bei Aktionärsschützern und in der Presse kam es aber leider niemals gut an.

Schließlich und drittens: Nahezu alle börsennotierten Gesellschaften müssen die Aktionäre in der Saison 2025 um eine neue Ermächtigung ersuchen, ihre HV bei Bedarf auch künftig rein digital abzuhalten. Hintergrund ist, dass die Notstandsgesetze der Coronazeit im Jahr 2022 ausgelaufen sind und der Gesetzgeber mit dem VHVG 2022 für das virtuelle Format einen neuen Rechtsrahmen geschaffen hat. Seither steht das virtuelle Format nicht mehr kraft Gesetzes zur Verfügung. Vielmehr muss die jeweilige Satzung eine HV im Internet, ohne physische Anwesenheit der Aktionäre, selbst vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen. Beides geht nur befristet auf maximal fünf Jahre – ähnlich wie beim genehmigten Kapital. Abweichend davon wurden die Ermächtigungen im Jahr 2023 aber zumeist nur für zwei Jahre vorgeschlagen und beschlossen – denn so forderten es mächtige Stimmrechtsberater, Investoren und Aktionärsschützer.

Deren Anforderungen haben sich seither eher noch verschärft. Es bleibt darum dabei, dass bei breitem Streubesitz eine Laufzeit der Ermächtigung von mehr als zwei Jahren kaum durchsetzbar sein wird – und entsprechend moderat fallen auch die diesjährigen Beschlussvorschläge aus. Schwer könnte sich auch tun, wer seit dem Ende der Coronapandemie ausnahmslos das virtuelle Format genutzt hat und daran in absehbarer Zukunft auch nichts ändern möchte. Dann kann sich im Aktionärskreis erheblicher Widerstand formieren. Erste Beispiele aus diesem Jahr belegen dies eindrucksvoll: So haben bei Siemens und TUI die Beschlussvorschläge für eine neue Ermächtigung die erforderliche (allerdings jeweils auch qualifizierte) Mehrheit verfehlt. Beide Unternehmen müssen demnach im kommenden Jahr in Präsenz tagen. Anders hingegen bei thyssenkrupp: Eine Präsenzversammlung im vergangenen Jahr sicherte hier die notwendige Unterstützung der Stimmrechtsberater und Investoren. Ähnlich dürfte es sich bei Infineon verhalten. Dort hat das Management für das kommende Jahr 2026 eine Präsenzversammlung in Aussicht gestellt. Auf diese Weise ließ sich ein positives Votum des einflussreichen Stimmrechtsberaters ISS erreichen. Die eigentliche HV steht bei Infineon allerdings noch bevor.

Say on Pay

Viele Unternehmen müssen im Jahr 2025 überdies den Say on Pay einholen. Gemeint sind damit die Beschlüsse der HV sowohl über das Vorstandsvergütungssystem als auch über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder. Denn hierfür sieht das Gesetz eine Vorlage wenigstens im vierjährigen Turnus vor. Zuvor ist es erforderlich, das bestehende System sorgsam auf Überarbeitungsbedarf zu überprüfen. Zwar hat sich der gesetzliche Rahmen in den vergangenen Jahren kaum verändert. Gleiches gilt für die flankierenden Empfehlungen im Corporate Governance Kodex. Die Erwartungen der Investoren und Stimmrechtsberater sind jedoch erheblich gestiegen. Von besonderer Bedeutung ist es, das Vergütungssystem für den Vorstand überzeugend auf die Strategie des Unternehmens abzustimmen – und mit der Strategie wiederum muss, je nach Aktionärskreis, der Spagat zwischen unterschiedlichen und teilweise sogar gegensätzlichen Investorenerwartungen gelingen. Das gilt vor allem in puncto ESG. Aus europäischer Sicht ist der Schutz von Klima, Umwelt und Menschenrechten weiterhin, wenn nicht sogar mehr denn je eine wichtige Richtschnur. Demgegenüber gerät er in den USA als strategisches Ziel zunehmend unter Druck. Der jüngst vermeldete Ausstieg zahlreicher US-Unternehmen, US-Banken und US-Investoren aus Klimaallianzen macht dieses Dilemma besonders sichtbar.

Say on Climate

Aus demselben Grund dürfte der sogenannte Say on Climate in der HV-Saison 2025 allenfalls eine Nebenrolle spielen. Es besteht keine gesetzliche Pflicht, die Aktionäre über die Klima- und Umweltpolitik des Unternehmens abstimmen zu lassen. Folgerichtig können die Aktionäre einen solchen Beschlusspunkt auch nicht rechtsverbindlich verlangen. Zwei deutsche Börsenunternehmen, die Alzchem Group und die GEA Group, haben in den Jahren 2023 bzw. 2024 auf freiwilliger Basis ein Aktionärsvotum hierzu eingeholt – und dies auch mit großem Erfolg. Andere Unternehmen zeigen sich in diesem Punkt allerdings zurückhaltend. Das galt schon vor den US-Wahlen im November 2024. Jedoch wird die Zurückhaltung durch deren Ergebnis sowie den dadurch massiv beschleunigten „ESG-Backlash“ noch verstärkt. Die gute Nachricht ist aber: Auch auf Investorenseite spürt man aktuell offenbar kein echtes Bedürfnis nach einem Say on Climate. Der Beschlusspunkt wird also kaum einmal offensiv eingefordert, schon wegen der hohen Komplexität des Themas sowie auch deshalb, weil das bloße Prozedere einer Aktionärskonsultation für sich genommen keinerlei klima- oder umweltschützende Wirkung versprechen dürfte.

Wahl eines Nachhaltigkeitsprüfers

Die Umsetzung der CSRD in deutsches Recht ist überfällig. Eigentlich hätte sie bis Mitte des Jahres 2024 stattfinden müssen. Gleichwohl haben mehrere Unternehmen schon im vergangenen Jahr – sei es auch nur vorsorglich – ihre HV einen Prüfer für den erwarteten Nachhaltigkeitsbericht 2024 wählen lassen. Zu nennen sind aus dem DAX40 namentlich Deutsche Bank, Deutsche Börse, Deutsche Post, E.ON, Fresenius, MTU Aero Engines, Münchener Rück, SAP und Symrise. Demgegenüber setzte die Mehrheit der Unternehmen im vergangenen Jahr ihre Hoffnung noch in eine gesetzgeberische Übergangslösung. Diese ist aber nunmehr – ebenso wie die Umsetzung der CSRD insgesamt – auf unabsehbare Zeit vertagt. Hinzu kommt, dass die EU-Kommission kürzlich unter dem Stichwort „Omnibus“ eine Konsolidierung und Komprimierung der CSRD, der CSDDD, der Taxonomie-VO sowie weiterer „grüner“ Regelwerke in Aussicht gestellt hat. Gleichwohl dürfte die Wahl eines Nachhaltigkeitsprüfers auch in der Saison 2025 auf zahlreichen Tagesordnungsordnungen stehen – vermutlich sogar noch öfter als im Jahr 2024. Infineon jedenfalls verfährt so, ebenso wie zuvor schon Siemens, TUI, thyssenkrupp und thyssenkrupp nucera. So lassen sich die Weichen für den Nachhaltigkeitsbericht 2025 zumindest in diesem Punkt frühzeitig stellen.

Nachhaltigkeitsbericht 2024

Davon unabhängig stellt sich die Frage, wie die Unternehmen für ihr jüngst abgelaufenes Geschäftsjahr 2024 über Nachhaltigkeit berichten werden, nachdem die Umsetzung der CSRD weiter auf sich warten lässt. Die CSRD als solche hat als europäische Richtlinie keine unmittelbare Wirkung für oder gegen die Unternehmen. Fakt ist aber, dass börsennotierte Unternehmen bereits seit vielen Monaten, wenn nicht sogar deutlich länger, ihren Nachhaltigkeitsbericht 2024 in mühevoller Detailarbeit vorbereitet haben. Die Texte sind auf dem Papier und wollen verwendet werden. Eine denkbare Lösung ist es, den vorbereiteten Nachhaltigkeitsbericht (auch) als nicht-finanziellen Bericht im Sinne der CSR-Richtlinie 2014 und des CSR-RL-UmsG 2017 zu etikettieren und zu veröffentlichen – mit den neuen ESRS als Referenzrahmenwerk. Zahlreiche Unternehmen entscheiden sich für diesen Weg, auch um hierauf im kommenden Jahr wieder aufsetzen zu können. Demgegenüber erwägen andere, es für 2024 bei einem „klassischen“ nicht-finanziellen Bericht schlankeren Zuschnitts bewenden zu lassen. Beide Wege sind rechtlich und unternehmenspolitisch vertretbar. Eine einheitliche Praxis wird erst das CSRD-UmsG herbeiführen – wenn und sobald es denn kommt.

Gesetz zur virtuellen HV – mehr Schein als Sein

Das Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen hat die letzten wichtigen Etappen des Gesetzgebungsverfahrens bewältigt: Expertenanhörung im Rechtsausschuss am 22.6.2022, Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1.7.2022, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 6.7.2022, zweite und dritte Lesung im Bundestag am 7.7.2022. Wer die Anhörung im Rechtsausschuss verfolgt hat, durfte den Eindruck gewinnen, dass der dort diskutierte Regierungsentwurf nicht nur an punktuellen, sondern an sehr grundsätzlichen, konzeptionellen Mängeln leidet. Deutlich zu spüren war deshalb auch die Sorge der Parlamentarier, mit dem neuen virtuellen Format eine Karteileiche zu schaffen – ähnlich wie früher schon mit den Vorschriften zur Online-Teilnahme, zum Aktionärsforum, zur Geschäftsordnung der HV und einigen anderen mehr. Dessen ungeachtet hat auch der Rechtsausschuss die Eckpfeiler des Gesetzes nicht mehr angetastet (sie dürfen als bekannt gelten, siehe hierzu meine Blog-Beiträge vom 15.2.2022 zum RefE und vom 28.4.2022 zum RegE). Nur kleinere Änderungen haben sich auf den letzten Metern noch ergeben:

Rechtsgrundlage

Es bleibt dabei, dass das virtuelle Format nur für einen Übergangszeitraum bis zum Herbst 2023 unmittelbar kraft Gesetzes genutzt werden darf (entscheidend ist die Einberufung der HV spätestens am 31.8.2023). Danach steht es nur noch zur Verfügung, wenn die Satzung es vorschreibt oder den Vorstand entsprechend ermächtigt – jeweils für eine Dauer von maximal fünf Jahren. Abweichend vom Regierungsentwurf ist aber nicht mehr vorgesehen, dass die Satzung bestimmte Beschlussgegenstände vom virtuellen Format ausnehmen, sprich: sie einer herkömmlichen Präsenzversammlung vorbehalten kann. Der Gesetzgeber kehrt damit zurück zum breiteren Ansatz des Referentenentwurfs. Dieser Schritt soll laut dem Ausschussbericht die Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung hervorheben. Überdies wurde offenbar erkannt, dass eine Beschränkung der Beschlussgegenstände für virtuelle Versammlungen auf europarechtlich vermintes Gelände geführt hätte – mit Blick auf das Recht der Aktionäre aus Art. 6 der EU-Aktionärsrechte-RL, eine Ergänzung der Tagesordnung zu verlangen.

Doppeltes Rederecht

Das Rederecht der Aktionäre wird weiterhin doppelt verwirklicht: im Vorfeld der virtuellen HV per Stellungnahme, die vorab übermittelt und veröffentlicht wird, sowie während der HV per Live-Redebeitrag. Neu ist, dass die Stellungnahme im Vorfeld nur noch ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären angeboten werden muss. Außerdem, dass die Gesellschaft sie nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zugänglich machen muss und dies auch über die Internetseite eines Dritten geschehen darf. Das eröffnet die Möglichkeit, hierfür das zugangsbeschränkte HV-Portal zu nutzen, das sich üblicherweise auf der Internetseite eines Dienstleisters befindet. Schließlich ist auch neu, dass die Gesellschaft sich in der Einberufung vorbehalten darf, einen Live-Redebeitrag während der HV von einem Funktionstest abhängig zu machen. Schlägt dieser Test fehl, darf die Gesellschaft den Redebeitrag zurückweisen. Dies begrenzt dann nicht nur die Rechtsfolgen etwaiger Funktionsstörungen (Stichwort: Anfechtungsausschluss). Die Gesellschaft wird vielmehr in die Lage versetzt, Funktionsstörungen während der virtuellen HV vorzubeugen – auch im Interesse der (anderen) Aktionäre an einem geordneten Versammlungsablauf.

Doppeltes Fragerecht

Auch das Fragerecht bleibt ein doppeltes. So jedenfalls, wenn der Vorstand den Aktionären aufgibt, ihre Fragen schon im Vorfeld der virtuellen HV einzureichen. Diese Option war aus Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorzug des virtuellen Formats unter Geltung des COVMG. Sie schaffte Raum dafür, Fragen zur weiteren Bearbeitung entweder nach Themenkomplexen oder nach Urhebern zu bündeln, im Zusammenhang zu antworten und sachgerechte Schwerpunkte zu setzen. Das neue virtuelle Format jedoch gewährt diesen Vorzug nur noch um den Preis, dass die Gesellschaft die vorab eingereichten Fragen nicht erst in der HV aufgreift, sondern samt schriftlicher Antworten schon vorher veröffentlicht. Dies mit der Folge, dass der Vorstand in der HV keine mündlichen Auskünfte mehr erteilen muss – einerseits. Andererseits kann diese Vorgabe die Anforderungen an Vollständigkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit der Antworten erhöhen, überlässt dem Fragesteller den Erstzugriff auf kritische Themen und degradiert die mündliche Vorstandsrede am Versammlungstag vom Auftakt zum Schlusspunkt des kommunikativen Prozesses.

Nach- bzw. Rückfragen zu den (vorab) erteilten Antworten bleiben in der HV allerdings statthaft. Jeder angemeldete Aktionär kann sie stellen, sowohl zu eigenen als auch zu fremden Ausgangsfragen. Auch bleibt es beim Ansatz des Regierungsentwurfs, dass die Aktionäre während der virtuellen HV erstmalige Fragen noch zu solchen Sachverhalten stellen dürfen, die sich erst kurzfristig ergeben haben und daher vorab nicht berücksichtigt werden konnten.

Wieder entfallen ist hingegen das noch weitergehende Aktionärsrecht, bei ausreichender Restzeit sogar noch längst bekannte Sachverhalte erstmalig in der HV zu thematisieren. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis wenig ändern. Denn es bleibt dabei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Nach- oder Rückfrage im Zweifel weit verstanden wissen möchte. Die Gesellschaft trägt daher das Risiko, die (ggf. nur lockere) Verbindung zu einer Ausgangsfrage zu übersehen. Das ist umso wahrscheinlicher, je breiter das Spektrum der Ausgangsfragen ausfällt und je allgemeiner diese gefasst sind. Außerdem können findige Aktionäre unschwer argumentieren, ein Altsachverhalt sei erst kürzlich (erneut) in der Presse, in einem Internetforum oder auch im just gehaltenen Redebeitrag eines Mitaktionärs aufgegriffen worden – was ihn in einem neuen Licht erscheinen lasse und daher den Aktionären ein uneingeschränktes Fragerecht in der virtuellen HV eröffne.

Immerhin: Den Vorstandsbericht muss die Gesellschaft nur dann vorab veröffentlichen, wenn sie die Aktionäre mit ihren Fragen im Ausgangspunkt tatsächlich in das Vorfeld der HV verweist.

Doppeltes Antragsrecht

Das doppelte Antragsrecht des Regierungsentwurfs – sowohl vor als auch während der virtuellen HV – bleibt nahezu unberührt. Neu ist nur, dass spontane Anträge und Wahlvorschläge während der HV in jedem Fall mündlich zu stellen sind, nämlich per Videokommunikation. Damit entfällt die Option einer elektronischen Antragstellung per Knopfdruck. Zugleich wird der Antragsteller zeitlich auf die „Aussprache“ verwiesen. Er kann also seine Anträge nicht schon während der Eröffnung oder der Verlesung der Regularien stellen. Ebenso wenig während der Vorstandsrede, des Berichts des Aufsichtsrats, einer Abstimmung oder einer Beschlussfeststellung. Im Ausschussbericht heißt es hierzu, das Antragsrecht werde auf diese Weise dem Mündlichkeitsprinzip der Präsenzversammlung nachgebildet. Dies auch mit der Folge, dass die Einbringung von Anträgen für alle Versammlungsteilnehmer transparent sei. Dem entspricht es, dass das Gesetz an anderer Stelle das Live-Rederecht nicht nur auf etwaige (Nach-)Fragen erstreckt, sondern ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge.

Zu kurz gesprungen

Gemessen am Regierungsentwurf sind all diese Punkte wichtige Fortschritte. Sie ändern aber nichts an dem Befund, dass das neue virtuelle Format kaum mehr ist als eine (schlechte) Kopie der Präsenzversammlung – mit einigen zusätzlichen Hindernissen und Fallstricken für die Unternehmen als Zugabe.

Insbesondere bleibt es dabei, dass die Aktionäre ein doppeltes Rederecht, ein doppeltes Fragerecht und ein doppeltes Antragsrecht erhalten. Der Aufsichtsrat muss sich, trotz seiner traditionell passiven Rolle in der HV, im Regelfall in voller Besetzung vor Ort einfinden. Das ist schon bei Präsenzversammlungen schwer verständlich, bei virtueller HV aber gänzlich sinnlos. Und es werden zahlreiche neue Detailfragen aufgeworfen, bis zu deren gerichtlicher Klärung viele Jahre vergehen dürften – anders als unter dem COVMG nunmehr mit vollem Anfechtungsrisiko. All das macht das neue virtuelle Format aus Sicht vieler Unternehmen wenig attraktiv. Das gilt umso mehr, als das erklärte weitere Reformziel, die virtuelle HV zu „entzerren“, erkennbar verfehlt worden sein dürfte.

Als Anreiz zur Nutzung des virtuellen Formats bleiben damit in erster Linie die niedrigeren Kosten. Nur dürfte der Gesetzgeber auch insoweit einem (Kalkulations-)Irrtum aufsitzen: Erstens müssen die Anbieter der digitalen Infrastruktur ihre Tools an den neuen, deutlich anspruchsvolleren Rechtsrahmen anpassen. Und zweitens werden nicht wenige (auch große) Gesellschaften künftig wohl wieder in Präsenz tagen; es schrumpft also der Kreis der Abnehmer für digitale Lösungen. Beides bleibt gewiss nicht ohne Auswirkungen auf die Preise, zu denen das Produkt „virtuelle HV“ künftig am Markt zu haben sein wird.

Regierungsentwurf zur virtuellen HV – Cui bono?

„Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“ – so heißt es im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus dem vergangenen Jahr. Diesen Programmsatz zu verwirklichen, erweist sich indessen als echte Herkules-, wenn nicht sogar als Sisyphusaufgabe. Aktionärsschützer liefen Sturm, als das BMJ im Februar 2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorlegte und sich dabei eng am COVMG orientierte (zum Referentenentwurf s. den Blog-Beitrag v. 15.2.2022). Ihr Kernanliegen: Das virtuelle Format dürfe nicht dazu dienen, die Aktionärsrechte im Verhältnis zur Präsenzversammlung zu beschneiden oder ihre Ausübung zu erschweren. Am 27.4.2022 hat das Bundeskabinett nun einen überarbeiteten Regierungsentwurf beschlossen. Jedoch schwingt das Pendel damit weit in die andere Richtung – aus Unternehmenssicht wohl: zu weit. Anträge sollen sowohl vor als auch noch in der virtuellen HV gestellt werden können, einfach per Knopfdruck. Vorab eingereichte Fragen soll die Gesellschaft schon vor der HV schriftlich auf ihrer Internetseite beantworten. Und während der laufenden HV sollen nicht nur Rückfragen zulässig sein, sondern auch Erstfragen zu neuen und mitunter sogar zu längst bekannten Sachverhalten. Damit schließt der RegE nicht zur Präsenzversammlung auf; er geht weit über deren Maß hinaus.

Was bleibt?

Der RegE belässt es dabei, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – jeweils befristet auf maximal fünf Jahre. Nach Ablauf der jeweiligen Frist muss die Satzungsklausel erneuert werden. Unmittelbar auf gesetzlicher Basis kann der Vorstand das virtuelle Format nur für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres nutzen. Ebenso bleibt es dabei, dass eine virtuelle HV gewisse Mindeststandards für die Aktionäre einhalten muss, unter anderem:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • elektronische Stimmabgabe
  • ein Antrags- sowie ein „Auskunftsrecht“ (terminologisch richtig wäre: ein Fragerecht), die allerdings beide erheblich aufgewertet werden und auf die noch näher einzugehen sein wird
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sieben (statt ursprünglich sechs) Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen, insbesondere Videobotschaften, bis fünf (statt ursprünglich vier) Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Und schließlich erblickt der RegE in der virtuellen HV auch unverändert eine „vollwertige Versammlungsform“, d.h. ausdrücklich keine „Versammlung zweiter Klasse“. Eine virtuelle HV dürfe daher über sämtliche Gegenstände beschließen, die auch Gegenstand einer Präsenzversammlung sein können, insbesondere auch über Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Neu ist allein, dass die Satzung konkrete Ausnahmen bezeichnen, d.h. bestimmte Beschlussgegenstände einer Präsenzversammlung vorbehalten darf.

Anträge, immer und überall

Gravierende Änderungen finden sich hingegen beim Antragsrecht:

Wie schon der RefE sieht zwar auch der RegE vor, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge innerhalb der bekannten 14-Tagesfrist an die Gesellschaft übersandt werden können und damit als gestellt gelten. Es ist also nicht erforderlich, sie in der virtuellen HV noch mündlich zu stellen – ein wesentlicher Unterschied zur Präsenzversammlung.

Damit hat es aber kein Bewenden. Ergänzend möchte der RegE jedem elektronisch zugeschalteten Aktionär spontane Anträge noch während der virtuellen HV erlauben, und zwar im Wege elektronischer Kommunikation. Das gilt ausweislich der Begründung für „[a]lle Anträge und Wahlvorschläge“, einschließlich Geschäftsordnungs- und Sonderprüfungsanträgen. Dafür kann, muss aber nicht unbedingt Videokommunikation genutzt werden. Es soll auch denkbar sein, spontane Anträge über Textfelder des Aktionärsportals oder per E-Mail zu übermitteln. Dahinter steht das erklärte Bestreben, die virtuelle HV der Präsenzversammlung möglichst anzunähern.

Tatsächlich würde dieses Ziel jedoch weit übertroffen. Denn die prozeduralen und psychologischen Hürden zur Stellung von Anträgen, gleich welchen Inhalts oder mit welcher Begründung, würden gemessen an einer Präsenzversammlung erheblich herabgesetzt. Zum einen, weil der Antragsteller sich nicht mehr notwendig zu Wort melden und aufrufen lassen muss; sein Aktionsradius wäre also, anders als in der Präsenzversammlung, nicht mehr auf die Generaldebatte beschränkt. Zum anderen, weil die Anwesenheit anderer Aktionäre und ggf. der Presse sowie auch die Stimmung im Saal oftmals eine disziplinierende Wirkung auf einen Redner haben. Die anderen Aktionäre lassen es einen Redner durchaus spüren, wenn er einen allzu langen, aussichtslosen oder unsinnigen Antrag stellt. Ebenso, wenn er seinen Antrag erkennbar zur Unzeit vorbringt – von wiederholten oder konzertierten Aktionen ganz zu schweigen. Nötigenfalls kann auch der Versammlungsleiter präventiv eingreifen. Diese mäßigenden Faktoren entfallen, wenn der Antragsteller nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern aus seinem Wohnzimmer vorbereitete Texte per Knopfdruck einreicht.

Fragen über Fragen

Eine ähnliche Doppelung ergibt sich beim Fragerecht:

Einerseits soll der Aktionär befugt sein, seine Fragen elektronisch vorab einzureichen – ähnlich wie auch heute schon unter der Geltung des COVMG, allerdings nicht mehr mit nur einem Tag, sondern mit immerhin drei Tagen Vorlauf auf die HV. Während der HV soll er anschließend noch Nach- bzw. Rückfragen stellen können. Das gilt nicht nur für eigene, sondern ausdrücklich auch für fremde Ausgangsfragen und die dazu erteilten Antworten.

Andererseits soll der Aktionär aber berechtigt sein, erstmalige Fragen noch während der laufenden HV zu solchen Sachverhalten zu stellen, die sich erst kurzfristig ergeben haben – beispielsweise zu Geschäftszahlen oder Presseartikeln, die unmittelbar vor der HV veröffentlicht worden sind. Und mehr noch: Es sollen sogar (weitere) erstmalige Fragen zu längst bekannten Sachverhalten zulässig sein, die man auch schon im Vorfeld hätte adressieren können. Dies aber nur, sofern deren Beantwortung nach Behandlung vorrangiger Erst- und Rückfragen noch „innerhalb des angemessenen Zeitraums der Versammlung“ möglich ist.

Eine echte Filterfunktion dürfte damit aus praktischer Sicht nicht verbunden sein. Es sollte ein Leichtes für den Fragesteller sein, in der HV oder auch erst später im Beschlussmängelstreit zu behaupten, ein entscheidender Zusammenhang oder ein verstärkendes Adjektiv sei erstmals kurz vor der HV zu lesen gewesen, in der Presse, in einem Internetforum oder auch anderenorts. Denkbar ist auch, dass er sich auf den just gehaltenen Live-Redebeitrag eines Mitaktionärs mit (vermeintlich) neuen Behauptungen bezieht. Die Grenze zwischen neuen und alten Sachverhalten verschwimmt dann. Es ist somit kaum vorstellbar, dass eine auf Rechtssicherheit bedachte Gesellschaft eine Frage als verspätet zurückweist. Dies umso weniger, als selbst verspätete Fragen ja ohnehin zulässig bleiben sollen, solange nur die HV nicht zeitlich aus dem Ruder läuft.

Für all diese Erst- und Rückfragen in der HV kann der Aktionär neben Texteingaben auch seinen Live-Redebeitrag per Videokommunikation nutzen. Der Versammlungsleiter kann ihn umgekehrt auf den Weg der Videokommunikation beschränken.

Kommunikative Lufthoheit

Hinzu kommt, dass die Gesellschaft laut dem RegE vorab eingereichte Fragen auf ihrer Internetseite schriftlich beantworten muss – und zwar spätestens einen Tag vor der virtuellen HV. Davon verspricht das Bundeskabinett sich mehr Transparenz sowie straffere Abläufe am eigentlichen Versammlungstag. Denn der Vorstand soll befugt sein, die Aktionäre in der virtuellen HV auf seine schriftlichen Antworten zu verweisen; er müsste sie also nicht mehr eigens verlesen. Dieses Prozedere fasst der RegE unter die Stichworte „Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen“ sowie „Entzerrung der HV“.

Besagtes Prozedere hat aber noch ganz andere Konsequenzen:

Erstens verkürzt sich die Bearbeitungsfrist für die Gesellschaft von drei auf zwei Tage. Denn die Antworten müssen ja nicht erst am Versammlungstag bereitstehen, sondern schon einen Tag zuvor. Das ist immer noch mehr Zeit, als aktuell unter dem COVMG zur Verfügung steht. Vom komfortablen Zeithorizont des RefE (vier Tage) entfernt sich der RegE damit aber doch deutlich.

Zweitens ist absehbar, dass eine schriftliche Beantwortung die Gesellschaft auch inhaltlich vor neue Herausforderungen stellen wird. Das geschriebene Wort ist nicht nur leichter zitierbar und hat größere Verbindlichkeit. Es erhöhen sich auch die Anforderungen an Vollständigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit der Antworten. Ebenso daran, dass die Antworten auf verwandte Aktionärsfragen zusammenpassen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Und überdies wird stets zu prüfen sein, ob vorab erteilte Antworten am Tag der eigentlichen HV noch aktuell sind – widrigenfalls der Vorstand wohl auch ohne weitere Nachfrage ein Update geben müsste.

Drittens und noch viel wichtiger: Die Gesellschaft büßt mit dem neuen Prozedere in erheblichem Umfang ihre kommunikative Hoheit ein. Es gibt nämlich nicht nur rechtliche, sondern auch handfeste praktische Gründe, aus denen eine HV mit der mündlichen Vorstandsrede beginnt – nicht hingegen mit einer Fragestunde. Das zu Beginn gesprochene Wort, vorgetragen mit der Autorität und Ausstrahlung eines Vorstands, entfaltet enorme Wirkung. Es erlaubt, die Lage der Gesellschaft im Ganzen zu präsentieren, eigene Schwerpunkte zu setzen und Dinge in einen größeren Kontext zu stellen. Dabei ist gut beraten, wer auch und gerade kritische Punkte proaktiv anspricht – und auf diese Weise erwartbaren späteren Fragen und Unmutsäußerungen vorgreift.

Diese frühen, klaren Kernbotschaften sind es denn auch, die erfahrungsgemäß ihren Weg in die Presse finden. Und sie sind es, die den späteren Vortrag eines Kritikers abschwächen, bisweilen sogar im Keim ersticken. Diese Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, sollten sich schriftliche Fragen und Antworten demnächst schon vor der HV auf der Internetseite finden. Dann nämlich geben die kritische Frage und ein damit etwa verbundener Vorwurf den Ton an; die Antwort muss sie mühsam entkräften. Die Presse wird regelmäßig schon vor der HV auf dieser Basis berichten. Das kann die Gesellschaft auf einem zentralen Forum in die Defensive bringen.

Cui bono?

Es fragt sich, wem mit einer virtuellen HV dieses Zuschnitts noch gedient sein soll. Viele Aktionäre werden weiterhin die physische Bühne und den unmittelbaren Dialog schätzen; für sie ist und bleibt das virtuelle Format die zweite Wahl. Und auch die Unternehmen werden schwerlich Anlass sehen, ein virtuelles Format zu nutzen, das ihnen gemessen an einer Präsenzveranstaltung zusätzliche Klimmzüge abverlangt. Kleinere Nachbesserungen in die eine oder andere Richtung versprechen keine Abhilfe. Dies umso weniger, als der RegE leider insgesamt sehr kleinteilig und unpräzise ausfällt und den Rechtsanwender mit zahlreichen offenen Fragen zurücklässt – Rückwirkungen auf das Recht der Präsenzversammlung nicht ausgeschlossen.

Referentenentwurf zur virtuellen HV

In diesen Tagen erscheint im Otto Schmidt Verlag die Neuauflage des renommierten Handbuchs börsennotierte AG, u.a. mit einem umfassenden Kapitel zur Hauptversammlung aus meiner Feder. Behandelt wird darin selbstverständlich auch die virtuelle HV auf Basis des COVMG, die als Notstandsinstrument die Praxis der letzten beiden Jahre geprägt hat und noch bis Ende August 2022 genutzt werden kann. Unterdessen arbeitet das BMJ daran, die virtuelle HV inhaltlich aufzurüsten und dauerhaft im Aktiengesetz zu implementieren. Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften liegt seit dem 9.2.2022 offiziell vor.

Worum geht es?

Zunächst ist bemerkenswert, worum es im RefE überhaupt geht – und auch worum nicht. Der RefE behandelt allein die neue virtuelle HV und deren Mindestanforderungen, außerdem eine punktuelle Absicherung der Gesellschaften gegen Anfechtungsrisiken bei technischen Pannen. Im Übrigen bleibt das Beschlussmängelrecht jedoch unangetastet. Gleiches gilt für das Recht der Präsenzhauptversammlung, die vollständig erhalten bleibt und gegenüber dem neuen virtuellen Format den gesetzlichen und wohl auch den praktischen Regelfall bilden soll.

Wer regelt was?

Die virtuelle HV soll, außer für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres, nicht unmittelbar durch Gesetz ermöglicht werden. Der RefE sieht vielmehr vor, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – wie es bereits von der Briefwahl und der Online-Teilnahme bekannt ist. Hinzu kommt, dass die Satzungsklausel zum virtuellen Format stets eine beschränkte Laufzeit von maximal fünf Jahren haben soll. Das macht es erforderlich, die Hauptversammlung wiederkehrend mit der Frage zu befassen, ähnlich wie beim genehmigten Kapital, bei Anleiheermächtigungen oder beim Erwerb eigener Aktien. Damit verbinden sich beachtliche Hürden. Allen voran: Es bedarf im Regelfall einer Drei-Viertel-Kapitalmehrheit, außerdem der Eintragung der Satzungsänderung in das Handelsregister, die durch etwaige Anfechtungsklagen erschwert sein kann. Für Publikumsgesellschaften mit breitem Streubesitz ist beides kein triviales Unterfangen.

Was gehört zum Programm?

Die Eckpunkte der neuen virtuellen HV sehen laut RefE wie folgt aus:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • Stimmabgabe der Aktionäre im Wege elektronischer Kommunikation
  • Geschäftsordnungsanträge während der HV im Wege elektronischer Kommunikation
  • Gegenanträge i.S.v. § 126 AktG nur vorab unter Wahrung der bekannten 14-Tagesfrist, es sei denn, die Einberufung gestattet Gegenanträge auch noch in der HV
  • „Auskunftsrecht nach § 131“ (gemeint ist: Fragerecht) im Wege elektronischer Kommunikation, wobei der Vorstand eine Vorabeinreichung der Fragen bis vier Tage vor der HV anordnen kann – dann allerdings hat der Aktionär in der Versammlung noch ein thematisch beschränktes Nachfragerecht im Wege elektronischer Kommunikation
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts (d.h. des Redemanuskripts des CEO) oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sechs Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen (insbesondere Videobotschaften) zur Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation bis vier Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation – mit vorherigem Anmeldeerfordernis und Vergabe der verfügbaren Slots nach dem Prioritätsprinzip
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Was darf die HV?

Der RefE schränkt die Kompetenzen einer HV im neuen virtuellen Format in keiner Weise ein. Auch das virtuelle Format ist also geeignet, sämtliche Gegenstände zu behandeln, die in die Zuständigkeit der HV als Organ fallen – einschließlich weitreichender Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Ausdrücklich heißt es in den Materialien, die virtuelle HV sei eine vollwertige Versammlungsform, im Verhältnis zur Präsenzversammlung also keine „Versammlung zweiter Klasse“.

Wie geht es weiter?

Die Verbände haben bis zum 11.3.2022 Gelegenheit, zum RefE Stellung zu nehmen. Dabei dürfte es wenig aussichtsreich sein, auf weiterreichende Reformen, namentlich des Beschlussmängelrechts oder der Präsenzversammlung, zu drängen – denn dafür fehlt neben der Zeit augenscheinlich auch ein konsensfähiger Ansatz. Was aber zu diskutieren ist, sind die Bausteine der virtuellen HV. So fällt beispielsweise auf, dass Videobotschaften (auf freiwilliger Basis) schon bisher vielfach ermöglicht, aktionärsseitig aber kaum genutzt worden sind. Es besteht also offenbar kein nennenswertes Interesse hieran. Es sollte daher überdacht werden, ob dieses Element im Gesetz wirklich verankert sein muss – zumal neben den Live-Redebeiträgen. Auch sind einige dogmatische Fehler zu beheben: So verwechselt der RefE das Auskunftsrecht (d.h. den Anspruch auf eine Antwort) mit dem Fragerecht (d.h. dem Auskunftsverlangen), übersieht die erhebliche Schnittmenge zwischen Geschäftsordnungs- und Gegenanträgen und umschreibt die vorgelagerte Übersendung von Briefwahlstimmen und Weisungen rechtsirrig als „Abstimmung“.

Fokus statt Flickenteppich

Ein weiterer Punkt: Die Entwurfsmaterialien signalisieren, dass die virtuelle HV neuen Zuschnitts kein breites Massenphänomen mehr sein wird (vgl. die zurückhaltenden Schätzungen i.R.d. Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Begr. RefE S. 19). Genau das mag vom BMJ politisch auch durchaus gewollt sein. Dann aber fragt sich, warum sich ihre Regelung zersplittert in nahezu jeder zentralen HV-Vorschrift niederschlagen soll. Meine Anregung ist: ein eigener, in sich geschlossener Unterabschnitt zur virtuellen HV, z.B. als neue §§ 132a ff. AktG. Dort wäre dann en bloc zu lesen, dass die HV auf Satzungsgrundlage auch im virtuellen Format stattfinden kann – mit unmittelbar anschließender Regelung aller Besonderheiten gegenüber der klassischen Präsenzversammlung. Die Vorteile liegen auf der Hand: eine schlankere und klarere Regelung, keine systematischen und thematischen Sprünge im bisherigen HV-Recht sowie die Möglichkeit, das virtuelle Format im Gesetz schlicht zu überblättern, falls es denn für die eigene Praxis keine Rolle spielt.

Hinweis des Verlags:

Weitere Informationen zu Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, finden Sie hier.

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