Blog powered by Zöller: Erstes Leitentscheidungsverfahren schon wieder beendet

Am 31. Oktober 2024 ist das Gesetz in Kraft getreten, welches dem BGH die Möglichkeit gibt, ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren zu erklären – mit der Wirkung, dass er eine in dieser Sache zu erwartende, für eine Vielzahl anderer Verfahren bedeutsame Entscheidung auch dann erlassen kann, wenn die Revision zurückgenommen werden sollte. Noch am selben Tag hat der VI. Senat des BGH von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und einen Rechtsstreit, in dem es um die Entschädigung für eine von Facebook verursachte Verbreitung persönlicher Daten (Daten-Scraping) geht, durch Beschluss nach § 552b ZPO zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24; s. Blog v. 7.11.2024).

Nicht einmal drei Wochen später ist dieses Verfahren schon wieder beendet, denn am 18. November hat der Senat bereits durch Urteil über die Revision entschieden. Was auf den ersten Blick als wenig planvolle Verfahrensleitung erscheinen mag, ergibt durchaus Sinn, denn die Erklärung zum Leitentscheidungsverfahren verhinderte, dass die Revision bis zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen und dadurch eine Grundsatzentscheidung verhindert werden konnte (wie in Parallelverfahren bereits praktiziert). Die Bedeutung des neuen § 552b ZPO könnte demnach vor allem in dieser Präventivwirkung, gar nicht so sehr in seiner Durchführung liegen.

Infolge des schnellen Endes des Leitentscheidungsverfahrens konnte auch die neue Vorschrift des § 148 IV ZPO keine Wirkung entfalten. Sie hätte es den vielen mit solchen Fällen befassten Instanzgerichten ermöglicht, ihre Verfahren bis zur Entscheidung des BGH auszusetzen (s. hierzu und zu den neuen §§ 552b und 565 ZPO die aktuelle Kommentierung in der Online-Version des Zöller sowie den Aufsatz von Feskorn in MDR 2024, 1413 ff.).

Dafür können sich die Gerichte aber jetzt schon an dem im streitigen Verfahren ergangenen Urteil orientieren. Diesem zufolge kann schon der kurzzeitige Verlust der Kontrolle über eigene personenbezogene Daten einen immateriellen Schaden im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung begründen und auch Ansprüche auf Unterlassung, Ersatz künftiger Schäden sowie Erstattung von Anwaltskosten rechtfertigen. Des Weiteren gibt der BGH Hinweise zur Bemessung des immateriellen Schadens, den er unter den gegebenen Umständen bei 100 Euro verortet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach einer Entscheidung des EuGH v. 4.10.2024 – C‑507/23, ZIP 2024, 2692, sogar eine Entschuldigung als ausreichenden Schadensersatz nach Art. 82 I DSGVO angesehen werden kann, falls das nationale Recht (hier: Lettlands) diese Form der Wiedergutmachung vorsieht (anders als der deutsche § 253 BGB).

Blog powered by Zöller: BGH nutzt neues Leitentscheidungsverfahren gleich am ersten Tag

Am 31.10.2024 ist das Gesetz über das sog. Leitentscheidungsverfahren in Kraft getreten (BGBl. 2024 I Nr. 328). Dieses gibt dem BGH die Möglichkeit, über Rechtsfragen, die in einer Vielzahl von Verfahren relevant sind, auch dann zu entscheiden, wenn es nicht zu einem Revisionsurteil kommt, z.B., weil das Rechtsmittel zurückgenommen wird. Von dieser Möglichkeit hat der BGH bereits am ersten Tag Gebrauch gemacht, und zwar in einem Fall, in dem es um die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung im sog. Scraping-Komplex geht (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24, Pressemitteilung), und in dem die Revision in zwei Parallelverfahren kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen worden war. Einer auf die Verhinderung höchstrichterlicher Entscheidung gerichteten Prozesstaktik ist damit der Boden entzogen. Und Instanzgerichte können jetzt Verfahren aussetzen, deren Entscheidung von den Rechtsfragen abhängt, die der BGH dem Leitentscheidungsverfahren zugeführt hat.

Die neuen Vorschriften (§§ 148 IV, 552b, 555, 565 ZPO) sind in der Online-Aktualisierung des ZÖLLER, die jeder Bezieher des gedruckten Kommentars kostenfrei nutzen kann, bereits kommentiert.


In der nächsten Ausgabe der MDR (Ausgabe 22) finden Sie zudem von Herrn Christian Feskorn einen Aufsatz zum neuen Leitentscheidungsverfahren beim BGH. Sie finden den Aufsatz online bereits vorab in unserer Datenbank.

Blog powered by Zöller: Videoverhandlung – jetzt auch grenzüberschreitend

Die in § 128a ZPO gebotene Möglichkeit, an einer Verhandlung im Zivilprozess per Videoübertragung teilzunehmen, bietet dann besondere Vorteile, wenn sich eine Prozesspartei im Ausland aufhält und eine Anreise zum Gerichtstermin daher mit einem besonders großen Zeit- und Reiseaufwand verbunden wäre. Doch gerade diese Einsatzmöglichkeit begegnete bisher rechtlichen Bedenken, denn nach verbreiteter Ansicht würde damit die Gerichtshoheit unter Verstoß gegen internationales Recht auf ein fremdes Staatsgebiet erstreckt.

Dank der EU-Verordnung zur Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit (VO (EU) 2023/2844) sind diese Bedenken jetzt zumindest innerhalb der Union hinfällig, denn sie lässt in Art. 5 der Verordnung die Zuschaltung von Parteien und Parteivertretern zu zivilgerichtlichen Verhandlungen oder Anhörungen ohne Genehmigung des Aufenthaltsstaates zu. Die Verordnung tritt am 1. Mai 2025 in Kraft. Das Bundesjustizministerium hat jedoch gem. Art. 17 Abs. 2 der Verordnung erklärt, dass sie bereits ab 1. Oktober 2024 wirksam ist.

Alles Nähere hierzu sowie ausführliche Kommentierung des kürzlich geänderten § 128a ZPO in der aktuellen Online-Version des ZÖLLER.

Blog powered by Zöller: Neues beim elektronischen Rechtsverkehr

Ein drängendes Problem des elektronischen Rechtsverkehrs hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz v. 12.7.2024 gelöst. Es kommt ja vor, dass Prozessbevollmächtigte dem Gericht Erklärungen ihrer Mandanten oder Dritter übersenden müssen, die von diesen persönlich zu unterschreiben sind, insbesondere Vollmachten, Erklärungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse im PKH-Verfahren und eidesstattliche Versicherungen. Da Anwälte mit dem Gericht nur noch auf elektronischem Weg kommunizieren dürfen, war fraglich, wie sie diese Erklärungen wirksam übermitteln können. Dass dies möglich sein muss, war klar, aber für das Wie gab es keine gesetzliche Regelung und daher große Unsicherheit.

Nunmehr ist die Frage in einem neuen § 130a Abs. 3 Satz 3 ZPO geregelt. Demnach kann der Rechtsanwalt das einzureichende, handschriftlich unterschriebene Schriftstück in ein elektronisches Dokument übertragen und dieses dann wie einen Schriftsatz als PDF an das Gericht übermitteln, d.h. entweder mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur versehen oder mit einfacher Signatur auf einem sicheren Übertragungsweg, insbesondere über sein elektronisches Anwaltspostfach.

Weitere Erleichterungen bietet ein neuer § 130e ZPO für den Fall, dass in einem an das Gericht adressierten elektronischen Schriftsatz eine an den Prozessgegner gerichtete Erklärung abgegeben werden soll, die der Schriftform bedarf (z.B. eine Kündigung).

Diese und alle weiteren Änderungen der ZPO durch das Gesetz v. 12.7.2024 werden in der Online-Ausgabe des ZÖLLER, die jeder Bezieher des Kommentars kostenfrei nutzen kann, bereits eingehend erläutert. Vertiefende Ausführungen finden Sie auch in dem Aufsatz Neue Regeln für elektronische Schriftsätze – Wie persönliche und rechtsgeschäftliche Erklärungen zu übermitteln sind“, MDR 2024, 1013.

 


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Blog powered by Zöller: Der moderne Zivilprozess kommt näher

Deutschland hinkt bei der Digitalisierung des staatlichen Sektors weit hinterher, und für die Justiz gilt dies in besonderem Maße. Sich aus den verkrusteten Strukturen der Reichsjustizgesetze des vorvorigen Jahrhunderts zu lösen, fällt offenbar schwer. Doch jetzt scheint die Rechtspolitik die Zeichen der Zeit erkannt zu haben und den Zivilprozess für zeitgemäße Verfahrensweisen öffnen zu wollen.

Dass es nicht in jedem Fall erforderlich ist, Parteien, Rechtsanwälte und Beweispersonen zu einer Sitzung im Gerichtssaal zusammenzurufen, sondern dass mit Einsatz elektronischer Übertragungstechnik auch per Video verhandelt werden kann, hat sich in einer Novellierung des § 128a ZPO niedergeschlagen, die nach einem Umweg über den Vermittlungsausschuss soeben das parlamentarische Verfahren durchlaufen hat und am Tag nach der Verkündung im BGBl. in Kraft treten wird. Sie bietet, anders als der ursprüngliche Gesetzesbeschluss, die Grundlage für ein flexibles und praktikables, auf die konkreten Gegebenheiten abgestelltes Verfahrensmanagement des Gerichts und ermöglicht eine vollvirtuelle Verhandlung nur im Rahmen von landesrechtlich zugelassenen Modellversuchen; ein Videostreaming von Gerichtsverhandlungen, wie es der Bundestag zunächst zulassen wollte, ist ausgeschlossen. Die neue Gesetzesfassung ist hier abrufbar und wird in Kürze in der Online-Version des ZÖLLER, auch für alle Bezieher der gedruckten Ausgabe kostenfrei zugänglich, kommentiert.

Einen viel größeren Schritt in die Zukunft unternimmt aber das Bundesministerium der Justiz (BMJ) mit dem soeben veröffentlichten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit. Mit diesem Gesetz sollen die Länder ermächtigt werden, an bestimmten Amtsgerichten für Zahlungsklagen bis zu 5.000 Euro ein vereinfachtes, digital unterstütztes Verfahren anzubieten. Die Klage kann dort auf einem sicheren Übermittlungsweg, persönlich oder mit anwaltlicher Vertretung, in digitaler Form eingereicht werden. Die Vorschriften über frühen ersten Termin oder schriftliches Vorverfahren gelten dann nicht. Das Gericht entscheidet vielmehr, ob eine mündliche Verhandlung überhaupt geboten ist und führt diese, einschließlich einer etwaigen Beweisaufnahme, im Regelfall mittels Video oder einer anderen Übertragungstechnik durch. Ansonsten wird der Prozess über eine elektronische Kommunikationsplattform abgewickelt, die auch zur Bereitstellung oder gemeinschaftlichen Bearbeitung elektronischer Dokumente durch die Verfahrensbeteiligten und das Gericht genutzt werden kann. Das Gericht soll anordnen können, dass die Parteien ihren Vortrag demjenigen der anderen Partei in digitaler Form gegenüberstellen und dass sie ergänzenden oder erläuternden Vortrag dem jeweiligen Streitstoff zuordnen. Die Verkündung von Urteilen oder Beschlüssen wird durch deren Zustellung ersetzt. Der Erprobungszeitraum ist auf zehn Jahre angesetzt. Es ist aber zu hoffen, dass eine begleitende Evaluierung stattfindet, die es ermöglicht, das Verfahren zu perfektionieren und möglichst bald in den Regelbetrieb zu überführen. Über die weitere Entwicklung wird im ZÖLLER-Blog fortlaufend unterrichtet werden.

Der größte Fortschritt ist aber von der vom BMJ auf Antrag der Justizministerkonferenz eingesetzten Reformkommission zu erwarten, die den Zivilprozess in seiner Gesamtheit mit einem interdisziplinären Ansatz grundlegend neu denken soll. Schon Ende des Jahres sollen erste Ergebnisse vorliegen. Auch hierüber wird selbstverständlich hier berichtet.

Blog powered by Zöller: Video-Verhandlung und faires Verfahren

Die mündliche Verhandlung per Video-Übertragung (§ 128a ZPO) soll den Zivilprozess erleichtern und beschleunigen. Zunehmend müssen sich aber Rechtsmittelgerichte mit Rügen eines verfahrensfehlerhaften Ablaufs befassen – jüngst auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23). Die Kläger in einem finanzgerichtlichen Verfahren  hatten mit der Verfassungsbeschwerde gerügt, ihr Recht auf den gesetzlichen Richter sei dadurch verletzt worden, dass die eingesetzte Kamera nur die gesamte Richterbank abbildete und nicht die Möglichkeit bot, mittels einer von ihnen steuerbarer Zoomfunktion die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu überprüfen.

Die Verfassungsbeschwerde stützte sich auf eine Entscheidung des BFH vom 30.6.2023 – V B 13/22, MDR 2023, 1131 (mit Anm. Greger, MDR 2023, 1366; s. auch Blog vom 4.8.2023), mit der eine Verletzung des  Rechts auf den gesetzlichen Richter bejaht wurde, weil bei der Video-Übertragung  nicht alle Richter ständig zu sehen waren. Von diesem hohen verfassungsrechtlichen Podest hat das BVerfG die Unzulänglichkeiten der Video-Verhandlung aber heruntergeholt. Die Garantie des gesetzlichen Richters werde durch solche nicht verletzt; allenfalls könne das Recht auf ein faires Verfahren tangiert sein. Dazu gehöre nämlich, dass die Verfahrensbeteiligten die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank überprüfen können, und daran könne es fehlen, wenn bei Videoverhandlungen aus der Distanz gefilmt wird und die Übertragungsqualität hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei Anwesenheit vor Ort zurückbleibt.

Im vorliegenden Fall hatten die Beschwerdeführer nicht vorgetragen, dass eine solche Beschränkung vorlag und von ihnen in der Verhandlung beanstandet wurde. Die Verfassungsbeschwerde wurde daher nicht zur Entscheidung angenommen. Dem Nichtannahmebeschluss sind gleichwohl zwei wichtige Aussagen zu entnehmen:

  1. Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert bei Videoverhandlungen eine Übertragungstechnik, die es den Beteiligten ermöglicht, die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank zu überprüfen. Hieran kann es fehlen, wenn wegen zu großer Distanz die Körpersprache nicht hinreichend wahrnehmbar ist.
  2. Beeinträchtigungen des fairen Verfahrens durch Unzulänglichkeiten der Video-Technik sind sogleich zu beanstanden.

Der auf den absoluten Revisionsgrund des „gesetzlichen Richters“ gestützten Ansicht des BFH, Übertragungsmängel könnten auch noch nachträglich gerügt werden, hat der Beschluss die Grundlage entzogen. Es bleibt aber das Risiko, dass eine Video-Verhandlung abgebrochen werden muss, weil eine Partei die Unzulänglichkeit der Übertragungsqualität rügt.

In der Online-Ausgabe des Zöller ist der Beschluss des BVerfG v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23 bereits berücksichtigt, Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 128a ZPO Rn. 6.2).

Blog powered by Zöller: Bundesrat zieht Notbremse bei der Video-Novelle

Wie zu erwarten war, hat der Bundesrat das am 17. November 2023 vom Bundestag beschlossene „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ gestoppt und den Vermittlungsausschuss mit dem Auftrag zu einer grundlegenden Überarbeitung angerufen. Dadurch konnte verhindert werden, dass ein Gesetz – noch dazu schon am Tag nach seiner Verkündung – in Kraft tritt, welches gravierende Belastungen für die Ziviljustiz hervorgerufen hätte. Die Entscheidung darüber, ob in Präsenz oder per Video verhandelt wird, hätte nicht mehr im richterlichen Verfahrensermessen gestanden, sondern wäre zum Gegenstand von Anordnungen, Einsprüchen, Anträgen und Ablehnungsbeschlüssen geworden. Da die meisten Gerichte nicht über eine Videoausstattung verfügen, die den jüngst vom BFH aufgestellten Anforderungen genügt (s. MDR 2023, 1366; MDR 2023, 1570; auch bereits in der Online-Version des Zöller enthalten: Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 128a ZPO Rn 6.1) und die ordnungsgemäße Beteiligung der Öffentlichkeit sicherstellt, wären Rechtsmittel und Urteilsaufhebungen vorprogrammiert gewesen.

Zu Recht bekennt sich der Bundesrat in seinem Einberufungsbeschluss zu dem Ziel, die Durchführung mündlicher Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung zu erleichtern. Das vom Bundestag hier praktizierte, alle Stellungnahmen aus der Praxis übergehende Hauruck-Verfahren hätte allerdings das Gegenteil erreicht.

Das nunmehr noch offene Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens wird in der soeben erschienenen 35. Auflage des ZÖLLER unverzüglich nach Verabschiedung und Inkrafttreten kommentiert – per Online-Aktualisierung, die jedem Bezieher des Kommentars zugänglich ist. Weitere Infos hier.

Blog powered by Zöller: Wiedereinsetzung trotz Falschadressierung

Es sollte nicht passieren, geschieht aber immer wieder: Der Rechtsanwalt sendet eine Berufungsschrift über sein beA ans falsche Gericht, und zwar so spät, dass der Fehler nicht mehr korrigiert werden kann. Die Verwerfung der Berufung ist unumgänglich, eine Wiedereinsetzung erscheint wegen eindeutigen Anwaltsverschuldens ausgeschlossen. Doch es gibt eine Rettungschance, auf die der BGH im Beschluss v. 10.10.2023 – VIII ZB 60/22 hingewiesen hat (obwohl sie im dortigen Verfahren nicht genutzt wurde).

Denn nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhält der Absender eines elektronischen Schriftsatzes eine automatisierte Bestätigung über den Zeitpunkt des Eingangs. Wie der BGH bereits wiederholt entschieden hat, muss der Erhalt dieser Bestätigung überprüft und dabei auch kontrolliert werden, ob der richtige Schriftsatz übermittelt wurde und ob er beim richtigen Gericht eingegangen ist (näher dazu Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 130a ZPO Rn. 24 und § 233 ZPO Rn. 23.15). Der Rechtsanwalt darf diese Prüfung seinem Personal überlassen, sofern er es entsprechend eingewiesen und überwacht hat. Hat er dies aber getan und wurde der Fehler trotzdem nicht erkannt, liegt ein Mitarbeiterverschulden vor, welches der Prozesspartei nicht zugerechnet werden kann und zugleich die Kausalität des ursprünglichen Anwaltsfehlers beseitigt. Wiedereinsetzung ist also möglich.

Es ist daher dringend angeraten, die Kontrolle der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO entsprechend geschultem Personal zu übertragen und mit dem Wiedereinsetzungsantrag glaubhaft zu machen, dass dies geschehen ist.

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Hinweis: Die Entscheidung vom 10.10.2023 ist während der Drucklegung des neuen Zöller ergangen, wird aber schon jetzt – wie alle künftigen Entscheidungen von größerer Praxisbedeutung – in der Online-Version des Kommentars nachgewiesen.

Blog powered by Zöller: Video-Novelle – kein Selbstläufer

Bei der 1. Lesung des Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Gerichtsverfahren (BT-Drucks. 20/8095) hat sich gezeigt, dass dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch heiße Debatten in den Ausschüssen bevorstehen.

Für die Unionsfraktion erachtete der Abgeordnete Martin Plum es als unvereinbar mit dem Prozessleitungsermessen des Gerichts, dass es seine Entscheidung, entgegen einem Antrag der Parteivertreter in Präsenz zu verhandeln, trotz Unanfechtbarkeit mit einer besonderen Begründung versehen muss. Kritik übte er auch daran, dass Richter künftig die Sitzungen vom „heimischen Sofa“ aus leiten können; dies entspreche nicht der Rolle der Gerichte als „Zentren unseres Rechtsstaats“. Statt „digitale Leuchtturmprojekte“ zu schaffen, müsse zuerst für eine ausreichende digitale Grundausstattung der Gerichte in der Fläche gesorgt werden.

Die Abgeordnete Luiza Licina-Bode (SPD) befürwortete den Entwurf im Grundsatz, wies aber darauf hin, dass besonders in „sensiblen Verfahren“ die persönliche Anwesenheit der Parteien von großer Bedeutung ist, und sprach sich dafür aus, die Interessenlagen in den Ausschussberatungen noch einmal genau anzuschauen und zusammenzuführen.

In dieselbe Richtung argumentierte Susanne Hennig-Wellsow (Die Linke). In hochsensiblen Lebensbereichen müsse die Präsenzverhandlung weiterhin das übliche Verfahren bleiben. Gegen eine vollvirtuelle Verhandlung brachte sie vor, im Namen des Volkes Recht zu sprechen, erfordere den öffentlichen Raum, also den Gerichtssaal als Ort des Geschehens.

Für die AfD-Fraktion erklärte Fabian Jacobi, es müsse grundsätzlich dabei bleiben, dass das Gericht dem rechtsuchenden Bürger als Person gegenübertritt. Es dürfe nicht dahin kommen, dass er „bei der Verhandlung über für ihn womöglich existenzielle Angelegenheiten auf eine Videokachel auf einem Bildschirm reduziert wird“. An der Möglichkeit, gegen eine entsprechende richterliche Anordnung des Richters Einspruch zu erheben, könne er sich gehindert sehen, um den Richter nicht gegen sich einzunehmen.

Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) monierte, dass der Entwurf nicht weit genug geht. Um unnötigen Aufwand zu reduzieren, zu schnelleren Prozessen zu kommen, die Daseinsvorsorge in der Fläche zu gewährleisten und die Qualität der Rechtspflege zu sichern, müsse man sich wesentlich mehr einfallen lassen. Dazu werde die Fraktion in den Ausschüssen konkrete Vorschläge unterbreiten.

Aus mehreren Redebeiträgen wurde deutlich, dass es zu einer Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss kommen wird. Mit welchem Inhalt das Gesetz den Bundestag eines Tages verlassen wird, ist nicht absehbar. Daher kann die Anfang Dezember erscheinende 35. Auflage des Zöller für den Moment nur Ausblicke auf das künftige Recht geben und es noch nicht in seiner Endfassung kommentieren. Dies wird jedoch in der Online-Version des Kommentars zeitnah geschehen, auf die jeder Erwerber der Printauflage freien Zugriff hat. Das sind gute Aussichten!

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Der Zöller ist das Standardwerk zur ZPO und ein Muss für jeden Prozessualisten. Die Autoren des Zöller informieren im „Blog powered by Zöller“ regelmäßig über einschlägige Gesetzesentwicklungen und aktuelle Rechtsprechung.

Blog powered by Zöller: Vorsicht bei Video-Verhandlung

Eine aktuelle Entscheidung des BFH macht deutlich, dass bei der Durchführung von mündlichen Verhandlungen per Video-Übertragung hohe Anforderungen an die „Bildregie“ zu stellen sind. Es muss sichergestellt sein, dass zugeschaltete Teilnehmer alle an der Verhandlung Beteiligten jederzeit sehen können. Dies gilt insbesondere für die Richterbank. Es genügt nicht, dass – wie im vorliegenden Fall – nur der Vorsitzende oder der gerade sprechende Richter zu sehen ist. Die Richterbank sei dann nicht ordnungsgemäß besetzt, denn der Zugeschaltete könne nicht überprüfen, ob ein Richter z.B. eingeschlafen oder vorübergehend abwesend ist. Damit liege ein absoluter Revisionsgrund vor; dass der Mangel während der Verhandlung nicht gerügt wurde, sei unerheblich. Das aufgrund dieser Verhandlung ergangene Urteil wurde daher aufgehoben. Die Sache wird vor der Kammer – entweder in Präsenz oder mit ordnungsgemäßem Kamerasystem – erneut zu verhandeln sein (BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22).

Diese Entscheidung ist als Warnruf, auch an die anderen Gerichtsbarkeiten, zu verstehen. In der Corona-Zeit wurde – notgedrungen – eine gewisse Großzügigkeit beim Einsatz von Video-Technik an den Tag gelegt; viele Prozesse wären sonst überhaupt nicht zu erledigen gewesen. Inzwischen ist es anders: Die Videoverhandlung wird als entlastende und beschleunigende Alternative zur Präsenzverhandlung geschätzt und soll nach einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung noch gefördert werden. Deshalb rücken nun wieder die Anforderungen an eine rechtsstaatliche Gestaltung der Gerichtsverhandlung in den Vordergrund, die sich gerade in der geordneten, nicht durch Sicht- oder Gehörsbeeinträchtigungen gestörten Interaktion zwischen den Prozessbeteiligten manifestiert. Auch nach der Begründung des genannten Gesetzentwurfs ist sicherzustellen, dass die im Gericht befindlichen Personen von den per Video zugeschalteten visuell und akustisch während der gesamten Verhandlung gut wahrnehmbar sind (BR-Drucksache 228/23, S. 49). Das wird in der Regel nur möglich sein, wenn mehrere Kameras zum Einsatz kommen, die jeden Beteiligten – auch gut erkennbar – erfassen. Systeme, die jeweils nur den Sprechenden zeigen, sind damit nicht zu vereinbaren; Raumkameras, die alle Anwesenden zusammen abbilden, hält der Entwurf nur bei einfach gelagerten Terminen ohne Beweisaufnahme und mit wenigen Verfahrensbeteiligten für ausreichend.

Verfügt das Gericht nicht über eine entsprechende Ausstattung, muss von einer Videoverhandlung abgesehen werden. Nach der jüngst ergangenen Entscheidung drohen sonst massenhafte Urteilsaufhebungen.

Davon unberührt und daher vorzuziehen ist der Einsatz der Videokommunikation bei informellen Erörterungsterminen außerhalb der mündlichen Verhandlung (durch die eine solche samt ihres technischen und organisatorischen Aufwands oft erspart werden kann; s. dazu Zöller/Greger, § 128 ZPO Rn 1a, auch Greger, MDR 2020, 957 Rn. 29 ff. und MDR 2023, 810 Rn. 22 ff.).

Mehr dazu im neuen Zöller, 35. Auflage.