Blog-Update Haftungsrecht: Wirkung und Reichweite des Vertrauensgrundsatzes

Im Verkehrsrecht wird häufig mit dem Vertrauensgrundsatz argumentiert. Was er besagt, ist klar: Wer sich im Straßenverkehr ordnungsgemäß verhält, darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer dies ebenfalls tun. Auf ein verkehrswidriges Verhalten braucht er sich erst dann einzustellen, wenn er Anhaltspunkte für ein solches erkennen kann.

Die Richtigkeit dieses in ständiger Rechtsprechung verfestigten Grundsatzes ist unbezweifelbar. Der Straßenverkehr käme zum Erliegen, wenn man sich jederzeit auf jedes denkbare Fehlverhalten Anderer einstellen müsste. Nicht so klar ist die dogmatische Einordnung dieses Rechtssatzes, und trefflich streiten lässt sich natürlich über seine Anwendung im Einzelfall. Die Kasuistik dazu ist unüberschaubar und soeben durch eine neue Entscheidung des BGH (Urt. v. 4.4.2023 – VI ZR 11/21 ) bereichert worden.

Zunächst zur rechtlichen Einordnung (die vor allem wegen der Beweislast relevant ist):

Der Grundsatz bestimmt die Sorgfaltsanforderungen an einen Verkehrsteilnehmer und damit bei der deliktischen Haftung den Maßstab der Fahrlässigkeit i.S.v. § 823 Abs. 1, § 276 Abs. 2 BGB. Für die Beweisführung bedeutet dies, dass der für das Verschulden des Schädigers beweispflichtige Geschädigte beweisen muss, jener hätte mit seinem verkehrswidrigen Verhalten rechnen müssen. Bei Kfz-Unfällen muss der Fahrzeugführer beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft (§ 18 StVG), d.h. dass er nicht mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Geschädigten zu rechnen brauchte. Bei der verschuldensunabhängigen Haftung des Kfz-Halters kommt der Vertrauensgrundsatz aber ebenfalls ins Spiel: Dem Halter eines anderen Kfz gegenüber kann der Halter des unfallverursachenden Fahrzeugs ihn zum Beweis dafür heranziehen, dass der Fahrzeugführer dem gesteigerten Sorgfaltserfordernis des Unabwendbarkeitsbeweises nach § 17 Abs. 3 StVG genügt hat. Und im Verhältnis zu einem nichtmotorisierten Geschädigten schließlich kann der Vertrauensgrundsatz nur als Element der Mitverschuldensabwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB zum Tragen kommen.

In dem vom BGH jüngst entschiedenen Fall war ein Fußgänger beim Überqueren einer innerstädtischen Straße mit zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen auf dem für ihn jenseits der Mittellinie liegenden Fahrstreifen von einem Pkw angefahren worden. Er verklagte dessen Fahrer und den Haftpflichtversicherer auf hälftigen Schadensersatz, aber diese lehnten unter Berufung auf den Vertrauensgrundsatz jede Haftung ab: Der Pkw-Fahrer habe nicht damit zu rechnen brauchen, dass der Geschädigte über die Fahrbahn läuft, ohne auf den herannahenden Verkehr zu achten, und als er dessen verkehrswidriges Verhalten erkennen konnte, sei es für eine Verhinderung der Kollision zu spät gewesen.

LG und KG gaben den Beklagten Recht. Der Pkw-Fahrer habe darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger an der Mittellinie stehen bleibt. Den Fahrer treffe daher kein Verschulden; deshalb trete auch die Haftung aus Betriebsgefahr hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück.

Nach Ansicht des BGH haben die Vorinstanzen damit jedoch den falschen Bezugspunkt für den Vertrauensgrundsatz gewählt: Es komme nicht auf das Verhalten des Fußgängers an der Mittellinie, sondern auf die Gesamtsituation an. Da der Fußgänger nach den tatrichterlichen Feststellungen die Fahrbahn rennend überquert hat, hätte der Pkw-Fahrer nicht mit einem Stehenbleiben an der Mittellinie rechnen dürfen. Es müsse also festgestellt werden, ob und ggf. ab wann der Fahrer das gefährdende Verhalten des  Fußgänger hätte erkennen und ob er dann noch unfallvermeidend hätte reagieren können.

Nun könnte man zwar darüber diskutieren, ob den im innerstädtischen Verkehr über die Fahrbahn rennenden Fußgänger nicht ein so hohes Eigenverschulden trifft, dass es gerechter Abwägung entspricht, ihm die alleinige Haftung zuzuweisen. Der Fall lehrt aber, dass der Vertrauensgrundsatz nicht von einer möglichst umfassenden Feststellung des Unfallhergangs entbindet und, falls diese nicht möglich ist, die oben angeführten Beweisregeln anzuwenden sind.

Umfassende Rechtsprechungsnachweise zum Vertrauensgrundsatz: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 14.229 ff zu Fußgängerunfällen, Rz. 14.171 ff zu Vorfahrtunfällen.

 

Mehr zum Autor: Prof. Dr. Reinhard Greger ist Mitverfasser des Werks Haftung im Straßenverkehr

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Bemessung des Hinterbliebenengeldes.

Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach einem Verkehrsunfall
BGH, Urteil vom 23. Mai 2023 – VI ZR 161/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit grundlegenden Fragen zur Bemessung des Hinterbliebenengeldes nach § 10 Abs. 3 StVG.

Bei einem Verkehrsunfall im September 2020 wurde der Vater der im Juni 2001 geborenen Klägerin getötet. Die volle Haftung der Beklagten zu 1, die mit ihrem Auto in einer Kurve auf die Gegenfahrbahn geraten war und den auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vater der Klägerin frontal erfasst hatte, steht dem Grunde nach außer Streit. Die Beklagte zu 2, bei der das Auto haftpflichtversichert war, hat der Klägerin außergerichtlich ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500 Euro gezahlt. Die auf Zahlung weiterer 22.500 Euro gerichtete Klage ist in den beiden ersten Instanzen nur in Höhe von 4.500 Euro erfolgreich gewesen.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Die Bemessung der nach § 18 Abs. 1 Satz 1 und § 10 Abs. 3 StVG geschuldeten Hinterbliebenenentschädigung unterliegt gemäß § 287 ZPO dem Ermessen des Tatrichters. Nicht alle vom OLG angestellten Erwägungen sind jedoch frei von Rechtsfehlern.

Bei der Bemessung ist die konkrete seelische Beeinträchtigung des Betroffenen zu bewerten. Hierbei sind alle Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Dennoch ist es nicht zu beanstanden, den in den Gesetzesmaterialien (BT-Dr. 18/11397 S. 11) genannten Betrag von 10.000 Euro als Orientierungshilfe heranzuziehen.

Wie der BGH schon zuvor entschieden hat (Urteil vom 6. Dezember 2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 Rn. 14 f. [insoweit nicht in MDR 2023, 295]), dient das Hinterbliebenengeld dem Ausgleich für immaterielle Nachteile. Maßgeblich sind insbesondere die Intensität und die Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Relevante Indizien bilden in der Regel die Art des Näheverhältnisses, die Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und die Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung.

Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht danach die wirtschaftliche Abhängigkeit der Beklagten von ihrem Vater aufgrund eines kurz nach dem Unfall aufgenommenen Studiums nicht als erhöhenden Faktor herangezogen. Der Verlust von Unterhaltsansprüchen stellt einen materiellen Schaden dar, der nach Maßgabe von § 10 Abs. 2 StVG zu ersetzen ist.

Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das OLG sich nicht mit dem Grad des Verschuldens befasst hat. Dem insoweit maßgeblichen Parteivortrag lässt sich nicht entnehmen, dass das Maß des Verschuldens im Streitfall prägende Wirkung hat. Dass die Beklagte ihre strafrechtliche Verantwortung abgestritten hat, rechtfertigt eine Erhöhung des Hinterbliebenengeldes für sich gesehen nicht.

Zu Unrecht hat das OLG jedoch den Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen des Unfalltods auf deren autistischen Bruder als unerheblich angesehen.

Nach dem Vorbringen der Klägerin war der verstorbene Vater die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für den Bruder. Der Tod des Vaters habe zur Folge, dass die Klägerin nunmehr in erheblichem Umfang in die Betreuung ihres Bruders eingespannt sei, der aufgrund des Todesfalls massive Verhaltensauffälligkeiten zeige. Auch durch diesen Umstand werde die Klägerin täglich mit dem plötzlichen Unfalltod des Vaters und der damit verbundenen Veränderung ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich.

Damit sind entgegen der Auffassung des OLG Umstände vorgetragen, die nicht nur die Intensität und Dauer des seelischen Leids des Bruders betreffen, sondern auch desjenigen der Klägerin. Das OLG wird deshalb zu prüfen haben, ob und ggf. in welcher Höhe diese Umstände die Zubilligung eines höheren Hinterbliebenengeldes gebieten.

Praxistipp: Die Vorschriften über das Hinterbliebenengeld (u.a. § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG und § 5 Abs. 3 HaftPflG) sind gemäß Art. 229 § 43 EGBGB anwendbar, wenn die zum Tode führende Verletzung nach dem 22. Juli 2017 eingetreten ist.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Einstandspflicht für Schäden an einem Leasingfahrzeug aufgrund eines Unfalls mit ungeklärter Ursache.

Regress gegen Fahrer und Halter des bei einem Unfall beschädigten Leasingfahrzeugs
BGH, Urteil vom 18. April 2023 – VI ZR 345/21

Der VI. Zivilsenat beleuchtet eine weitere Facette einer häufig kritisierten Haftungsregelung.

Ein bei der Klägerin haftpflichtversicherter Klein-Lkw war bei einem Verkehrsunfall mit einem Pkw kollidiert, den der Beklagte zu 1 von einer Leasinggesellschaft geleast hat. Fahrer des Pkw im Unfallzeitpunkt war der Beklagte zu 2. Der Unfallhergang konnte nicht geklärt werden. Die Klägerin erstattete der Leasinggeberin als Eigentümerin des Pkw die daran entstandenen Schäden vollständig. Im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs verlangt sie die Hälfte dieses Betrags von den Beklagten ersetzt. Sie stützt sich insbesondere auf Regelungen im Leasingvertrag, wonach der Leasingnehmer für Untergang und Beschädigung des Fahrzeugs unabhängig von Verschulden haftet und Ersatzansprüche gegen Versicherungen und Dritte an den Leasingnehmer abtritt.

Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision der Klägerin bleibt ebenfalls erfolglos.

Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin gegenüber der Leasinggeberin zum vollständigen Ersatz des am Leasingfahrzeug entstandenen Schadens verpflichtet war. Der BGH bestätigt seine ständige Rechtsprechung, wonach der Eigentümer eines Fahrzeugs, der nicht zugleich dessen Halter ist, sich auf einen Anspruch auf Ersatz von am Fahrzeug entstandenen Schäden aus § 7 StVG nur ein eigenes Verschulden anrechnen lassen muss, nicht aber die Betriebsgefahr des Fahrzeugs oder ein Verschulden des Fahrers.

Ebenfalls zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, dass die Beklagten für diesen Schaden nicht als Gesamtschuldner haften.

Ansprüche aus § 7 Abs. 1 oder § 18 Abs. 1 StVG scheiden aus, weil diese Vorschriften nur Schäden an anderen Sachen erfassen, nicht aber den Schaden am Fahrzeug des Halters bzw. Fahrers, gegen den sich der Anspruch richtet. Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB scheiden aus, weil ein Verschulden der Beklagten nicht feststellbar ist.

Ansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB wegen Verletzung von Pflichten aus dem Leasingvertrag sind ebenfalls nicht gegeben. Der Einsatz des Fahrzeugs im Straßenverkehr stellt für sich genommen keine Pflichtverletzung dar. Entsprechendes gilt für die Beschädigung des Fahrzeugs beim Unfall. Die Beschädigung führt auch nicht dazu, dass eine Pflichtverletzung des Leasingnehmers entsprechend § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB zu vermuten ist. Eine solche Umkehr der Beweislast tritt nur dann ein, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein im Obhuts- und Gefahrenbereich des Leasingnehmers liegen. An letzterem fehlt es, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Unfall allein durch Fehlverhalten des Gegners verursacht worden ist.

Die von der Klägerin herangezogenen Haftungsregelungen aus dem Leasingvertrag begründen keine Schadensersatzansprüche. Sie regeln lediglich die Gefahrtragung. Selbst wenn der Beklagte zu 1 als Leasingnehmer der Leasinggeberin nach diesen Vorschriften zum Schadensersatz verpflichtet wäre, fehlte es an dem für ein Gesamtschuldverhältnis mit dem Unfallgegner und der Klägerin erforderlichen Merkmal der Gleichstufigkeit.

Praxistipp: Die Verlagerung des üblicherweise den Halter treffenden Haftungsrisikos auf den Unfallgegner kann in solchen Situationen nur dann vermieden werden, wenn dem Fahrer des Leasingfahrzeugs ein für den Unfall ursächliches Verschulden nachgewiesen werden kann..

Blog Update Haftungsrecht: BGH zum Schockschaden – Besondere Schwere des Schocks ist nicht mehr erforderlich!

Mit seinem Urteil vom 6. Dezember 2022 (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362) ändert der BGH seine bisherige Linie zum Ersatz von sogenannten Schockschäden. Diese neue Rechtsprechung hat auch Auswirkungen auf den Schockschadenersatz bei Haftung im Straßenverkehr.

Bisherige Rechtsprechung

Nicht jede durch einen Unfall ausgelöste seelische Betroffenheit kann zu einer haftungsbegründenden Gesundheitsverletzung führen. Vielmehr ist eine Abgrenzung zum allgemeinen Lebensrisiko vorzunehmen. Nach bisheriger Rechtsprechung kam daher ein Ersatz für Schockschäden, etwa bei durch Überbringen der Nachricht vom Tod eines nahen Angehörigen erlittenen psychischen Gesundheitsschäden, nur unter folgenden engen Voraussetzungen in Betracht (sh. dazu ausführlich Zwickel, NZV 2015, 214 und Greger in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 3.43 ff.):

  • Naher Angehöriger: Nach ständiger Rechtsprechung muss zum Verunglückten eine “enge personale Verbundenheit” bestehen.
  • Pathologische Fassbarkeit der Beeinträchtigung: Anders als beim Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) ist für den Ersatz von Schockschäden eine eigene Gesundheitsverletzung beim Betroffenen erforderlich.
  • Besondere Schwere des Schocks: Der allgemein übliche Trauerschmerz genügte nicht. Vielmehr verlangte der BGH bisher stets, dass die Beeinträchtigungen über die erfahrungsgemäß in solchen Fällen eintretenden nachteiligen gesundheitlichen Folgen hinausgehen.
  • Tod oder schwere Verletzung: Ein Anspruch auf Ersatz von Schockschäden bestand grundsätzlich nur bei Unfalltod oder schwerer Verletzung.

Neue Rechtsprechungslinie nach dem Urteil vom 6. Dezember 2022

Nach dem Urteil des BGH vom 6. Dezember 2022 kommt es auf die beiden letztgenannten Merkmale (Besondere Schwere des Schocks und Tod oder schwere Verletzung des Opfers) nicht mehr an.

Bereits in seinem Urteil vom 27. Januar 2015 (BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, MDR 2015, 391) hat der BGH dem Umstand, ob der Geschädigte den Unfall miterlebt hat oder nicht maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der besonderen Schwere des Schocks beigemessen, ohne mit der ständigen Rechtsprechung zu brechen.

In seinem Urteil vom 6. Dezember 2022 hat der BGH nun genau das getan und das Merkmal besondere Schwere des Schocks ausdrücklich aufgegeben:

„Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Der Senat hält diese Änderung im Sinne einer konsequenten Gleichstellung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen des § 823 I BGB für geboten.“ (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362) 

Nunmehr gilt: Ist gesichert, dass das Geschehen bei der nahestehenden Person eine pathologisch fassbare psychische Störung verursacht hat, liegt nun eine Gesundheitsverletzung unabhängig von der Schwere des Schocks vor.

Die Ersatzfähigkeit von Schockschäden ist laut BGH auch nicht von vornherein auf Fälle beschränkt, in denen das nahestehende Opfer getötet oder schwer verletzt worden ist. Im entschiedenen Fall waren die psychischen Gesundheitsschäden durch die Information über den sexuellen Missbrauch der eigenen Tochter ausgelöst worden. Feststellungen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Tochter selbst gab es nicht. Der BGH lässt aber offen, ob eine Einschränkung für Fälle vorzunehmen ist, in denen „der Geschädigte auf Ereignisse besonders empfindlich und „schockartig“ reagiert, die das objektiv nicht rechtfertigen und die im Allgemeinen ohne nachhaltige und tiefe seelische Erschütterungen toleriert zu werden pflegen“ (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362).

Einordnung des Urteils vom 6. Dezember 2022 und Abgrenzung 

Der BGH weitet durch sein Urteil vom 6. Dezember 2022 die Rechtsprechung zum Schockschaden aus. Eine besondere Schwere des Schocks ist nun, wie von der Literatur seit langem gefordert (Bischoff, MDR 2004, 557, 558; Ch. Huber, NZV 2012, 5, 8; Zwickel, NZV 2015, 214, 215) nicht mehr erforderlich. Zudem kommt ein Schockschadenersatz nicht nur bei Tod bzw. schwerer Verletzung in Frage.

Weitere einengende Elemente des Schockschadenersatzes bleiben aber erhalten. Es fehlt weiterhin am Schutzzweckzusammenhang, wenn der Geschädigte kein naher Angehöriger des Opfers ist. Auch völlig fremde Personen können aber eine psychische Gesundheitsverletzung durch ein Unfallerlebnis erleiden. Dieses Merkmal bleibt damit zweifelhaft (so auch Greger in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 3.47).

Ein Schockschadenersatz setzt zudem stets eine pathologisch fassbare Gesundheitsbeeinträchtigung voraus. Damit bleibt auch die Frage nach der Abgrenzung von Schockschadenersatz und Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) relevant, wo eine eigene Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers gerade nicht erforderlich ist. Das Hinterbliebenengeld wird aber künftig in (etwas) größerem Umfang durch den Schockschadenersatz verdrängt (sh. dazu Zwickel in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 31.202 ff.).

Blog Update Haftungsrecht: „Ein Parkplatz ist keine Straße“

Mit dieser Klarstellung hat der BGH den in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung bestehenden Streit darüber beendet, ob beim kreuzenden Verkehr auf öffentlichen Parkplätzen die „Rechts vor Links“-Regel des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO gilt. Er verneint dies in Übereinstimmung mit der h.M. für den Fall, dass den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt (ebenso Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rn. 14.147). Die Vorfahrtsregel greift demnach nicht ein, wenn auf dem Platz allein durch die Markierung von Parkboxen oder durch die tatsächliche Anordnung der geparkten Fahrzeuge Fahrgassen entstehen, sondern nur dann, wenn sich durch die bauliche Gestaltung der Fahrspuren und die sonstigen örtlichen Gegebenheiten für den Verkehrsteilnehmer unmissverständlich ergibt, dass die Fahrbahnen nicht der Aufteilung und unmittelbaren Erschließung der Parkflächen, sondern in erster Linie der Zu- und Abfahrt und damit dem fließenden Verkehr dienen. Ansonsten gilt das Gebot gegenseitiger Verständigung.

Blog Update Haftungsrecht: Haftet der Kfz-Halter für ungestörten Straßenbahnbetrieb?

Es ist eine im Großstadtverkehr beinahe alltägliche Situation, dass der Straßenbahnverkehr durch ein Hindernis auf den Schienen blockiert wird. Für die Fahrgäste bedeutet dies Verdruss, für das Verkehrsunternehmen – jedenfalls bei länger dauernden Störungen – erhebliche Aufwendungen, z.B. für die Einrichtung und Abwicklung eines Ersatzverkehrs. Wurde die Blockade durch ein Kfz verursacht, etwa weil es nach einem Unfall auf den Gleisen zum Liegen gekommen ist, stellt sich die Frage, ob diese Schäden durch die Gefährdungshaftung des Kfz-Halters (und seine Haftpflichtversicherung) abgedeckt sind. Es überrascht, dass diese Frage erst jüngst vom BGH entschieden werden musste – weil ein Verkehrsunternehmen aus dem Sächsischen derartige Aufwendungen aus vier Verkehrsunfällen zusammengerechnet und auf den Weg durch die Instanzen gebracht hat.

Angesichts der sehr inkonsistenten Rechtsprechung zur Haftung für Nutzungsbeeinträchtigungen verwundert es nicht, dass die Instanzgerichte zu unterschiedlichen Beurteilungen gekommen sind. Beim BGH bekam der Straßenbahnbetreiber aber Recht – ein Urteil, welches die Bahnunternehmen freuen, den Haftpflichtversicherern aber Sorgen machen wird. Mögen die Schäden aus solchen Vorfällen auch überschaubar bleiben, kann deren Häufung doch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben.

Auch in rechtlicher Hinsicht wirft das Urteil Fragen auf. Der BGH leitet die Ansprüche des Verkehrsunternehmens aus § 7 Abs. 1 StVG ab. Die dort vorausgesetzte Beschädigung einer Sache sieht er in der Blockade der Gleise und überträgt die Rechtsprechung, wonach in der Beeinträchtigung der Nutzbarkeit einer Sache eine Eigentumsverletzung iS.v. § 823 Abs. 1 BGB liegen kann, ohne nähere Begründung und Auseinandersetzung mit dem Schrifttum auf die Gefährdungshaftung (anders z.B. Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rn 3.53 m.w.N.). Diese Gleichsetzung von Sachbeschädigung und Nutzungsstörung überdehnt den Wortlaut des § 7 StVG und übergeht den fundamentalen Unterschied, dass die deliktische Haftung nach § 823 BGB an die Verletzung eines Rechts (s. die Definition des Eigentums in § 903 BGB), die verschuldensunabhängige Haftung für den Kfz-Betrieb an die Unversehrtheit einer Sache anknüpft. Dadurch wird der gesetzgeberisch gewollte Ausschluss reiner Vermögensschäden von der Gefährdungshaftung untergraben.

Auch soweit das BGH-Urteil den Zurechnungszusammenhang zwischen Kfz-Betrieb und den Kosten für die Abwicklung des gestörten Bahnverkehrs bejaht, bietet es Diskussionsstoff, denn zumindest kleinere Störungen (hier überschritten die vier Vorfälle zusammen nicht die Zuständigkeitsgrenze des AG) dürften eher dem Betriebsrisiko des Bahnunternehmens zuzurechnen sein. Außerdem kommt es zu schwer erklärbaren Ungleichbehandlungen, denn wenn das Bahnunternehmen (wie häufig) nicht Eigentümer der Schienen ist, bekommt es keine Entschädigung, ebenso wie der Betreiber einer Buslinie bei unfallbedingter Sperrung einer Straße.

Das Urteil des BGH v. 27.9.2022 – VI ZR 336/21 ist in MDR 2023, 32 und mit ausf. Anm. in NZV 2023, 42 abgedruckt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen der Haftung für die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs.

Explosion der ausgebauten Batterie eines Elektrorollers
BGH, Urteil vom 24. Januar 2023 – VI ZR 1234/20

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit den Grenzen der Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG.

Ein Versicherungsnehmer der beklagten Haftpflichtversicherung brachte seinen Elektroroller zur Inspektion in Werkstatträume, die bei der klagenden Gebäudeversicherung versichert waren. Ein Mitarbeiter der Werkstatt entnahm die Batterie des Rollers und begann sie aufzuladen. Als er bemerkte, dass sie sich stark erhitzte, trennte er sie vom Stromnetz und legte sie zur Abkühlung auf den Boden der Werkstatt. Kurz darauf explodierte die Batterie und setzte das Gebäude in Brand.

Die Klage auf Ersatz des Brandschadens blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Die vom BGH zugelassene Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg.

Entgegen der Auffassung des OLG fehlt es an dem für die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG erforderlichen Zusammenhang zu der vom Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr allerdings nicht schon deshalb, weil der Roller zur Inspektion in einer Werkstatt war. Ein Schaden, der durch eine Betriebseinrichtung des Fahrzeugs verursacht wird, geht auch dann auf die Betriebsgefahr zurück, wenn er unabhängig vom Fahrbetrieb eingetreten ist.

Die Berufungsentscheidung erweist sich jedoch im Ergebnis als zutreffend, weil die Batterie im Zeitpunkt des Schadenseintritts nicht mehr in das Fahrzeug eingebaut war. Nach dem Ausbau ist die Batterie nicht anders zu beurteilen als ein anderes Bauteil, das erstmals in das Fahrzeug eingebaut werden soll. Der Umstand, dass die Batterie sich zuvor im Elektroroller befand und sich dort entladen hatte, begründet noch keinen hinreichenden Zusammenhang zum Fahrbetrieb.

Praxistipp: Der Zurechnungszusammenhang kann trotz vorherigen Ausbaus zu bejahen sein, wenn der Schaden in nahem örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit einem Betriebsvorgang steht. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn die Batterie aufgrund starker Belastung im Fahrbetrieb schon bei der Ankunft in der Werkstatt überhitzt war und dieser Umstand für den Schaden ursächlich geworden ist.

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Diese Woche geht es um die Regelungen über die gestörte Gesamtschuld in einem Altfall

Übergang des Direktanspruchs gegen den Kfz-Haftpflichversicherer auf den Sozialversicherungsträger
Urteil vom 7. Dezember 2021 – VI ZR 1189/20

Mit dem Verhältnis zwischen § 116 Abs. 6 SGB X aF und § 116 Abs. 1 VVG befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenversicherung. Ein bei ihr versichertes Kleinkind war bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden. Fahrerin und Alleinverursacherin des Unfalls war die Mutter des Kindes, Halterin des Fahrzeugs die Großmutter. Die Klägerin verlangt von der Beklagten, bei der das Fahrzeug gegen Haftpflicht versichert war, Ersatz der entstandenen Behandlungskosten in Höhe von rund 300.000 Euro und die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich aller weiteren Schäden. Das LG wies die Klage ab, das OLG gab ihr statt.

Die Revision der Beklagten führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Der BGH tritt den Vorinstanzen darin bei, dass ein aus der Haftung der Fahrerin resultierender Direktanspruch gegen die Beklagte aus § 115 Abs. 1 VVG nicht gemäß § 116 Abs. 1 SGB aF auf die Klägerin übergegangen ist. Der Anspruch gegen die Fahrerin ist gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X in der für den Streitfall maßgeblichen, bis 31.12.2020 geltenden Fassung nicht auf die Klägerin übergegangen, weil die Schädigerin in häuslicher Gemeinschaft mit dem geschädigten Kind lebt. Damit konnte auch der Direktanspruch gegen die Beklagte nicht übergehen. Der Kfz-Haftpflichtversicherer tritt zwar gemäß § 116 Abs. 1 VVG als Gesamtschuldner neben den Schädiger. Der Direktanspruch dient aber nur der Sicherung des Anspruchs gegen den Schädiger. Er kann deshalb nur zusammen mit diesem Anspruch übergehen.

Ein Übergang des aus der Haftung der Halterin resultierenden Ersatzanspruchs scheitert im Streitfall nicht an § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X aF, weil diese nicht in häuslicher Gemeinschaft mit dem Kind lebt. Er ist aber nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld ausgeschlossen. Im Innenverhältnis der Schädiger haftet im Streitfall allein die Fahrerin. Eine Inanspruchnahme der Halterin hätte deshalb zur Folge, dass die Fahrerin im Regresswege doch in Anspruch genommen werden könnte. Nach den etablierten Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld hat dies zur Folge, dass der Sozialversicherungsträger auch den Zweitschädiger nicht in Anspruch nehmen darf. Entgegen der Auffassung des OLG ergibt sich aus dem Umstand, dass der Kfz-Haftpflichtversicherer gemäß § 116 Abs. 1 VVG als weiterer Gesamtschuldner haftet und eine Belastung der privilegierten Schädigerin damit im Ergebnis nicht zu besorgen ist, nach der bis 31.12.2020 geltenden Rechtslage nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Auch insoweit ist ausschlaggebend, dass der Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer lediglich der Sicherung des Anspruchs gegen den Schädiger dient.

Praxistipp: Bei Schadensfällen aus der Zeit ab 01.01.2021 kann der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 Abs. 6 Satz 3 SGB X nF den Ersatzanspruch auch gegen einen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Schädiger geltend machen, soweit Versicherungsschutz gemäß § 1 PflVersG besteht.

Das Personen- und Sachschadensrecht bei Verkehrsunfällen in der Corona-Pandemie: Desinfektionskosten usw.

Die Corona-Pandemie hat, nach den Daten des statistischen Bundesamts, zwischen März und Juni 2020 zu einem signifikanten Rückgang der Verkehrsunfälle geführt. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum wurden 26 % weniger Verkehrsunfälle polizeilich aufgenommen. Gleichwohl verbleibt aber allein für diesen Zeitraum die signifikante Zahl von ca. 670.000 Verkehrsunfällen. In der Coronazeit danach dürften, auch wenn dazu noch keine amtlichen Daten vorliegen, tendenziell wieder mehr Verkehrsunfälle passiert sein.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Haftungsrecht des Straßenverkehrs

Wie wirken sich die Besonderheiten der Corona-Pandemie auf das Schadensrecht nach Verkehrsunfällen aus?

Besonderheiten ergeben sich für Unfälle in der Corona-Pandemie v.a. im Rahmen des haftungsausfüllenden Tatbestands, d.h. Schadenspositionen können im Zuge der Corona-Pandemie höher oder niedriger ausfallen als sonst üblich. Inwiefern?

Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Sach- und Personenschadensrecht

Auf die meisten Schadenspositionen wirkt sich die Corona-Pandemie, sowohl im Bereich des Sachschadens als auch im Bereich des Personenschadens, schadenserhöhend aus.

  • Beim Sachschaden ist das beispielsweise für die Mietwagenkosten und die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung der Fall. So waren im Lockdown teilweise Werkstätten geschlossen, der Gebrauchtwagenmarkt war zum Teil vollständig zum Erliegen gekommen. Dadurch kam es zu längeren Fahrzeugausfallzeiten wegen Reparatur oder Beschaffung eines Ersatzfahrzeugs. Es liegen bereits amtsgerichtliche Entscheidungen vor, die andeuten, dass Schädiger deutlich höhere Mietwagenkosten bzw. deutlich höhere abstrakte Nutzungsausfallentschädigung zu leisten haben. Teils wird von 10 zusätzlich ersatzfähigen Tagen ausgegangen.
  • Ähnlich verhält es sich im Bereich des Personenschadens für die Schadenspositionen des Haushaltsführungsschadens und Schmerzensgeldes. So war und ist wegen der Corona-Pandemie oft eine intensivere Führung des eigenen Haushalts erforderlich (wegen Home-Office ist mehr einzukaufen, mehr zu reinigen, mehr Kinderbetreuung zu leisten usw.). Ist dies nachgewiesen, führt dies zu einem höheren Haushaltsführungsschaden. Im Bereich des Schmerzensgeldes wirkt sich schmerzensgelderhöhend aus, dass sich wegen verschobener Operationen bzw. Behandlungen die Leidenszeit des Unfallopfers oft verlängert hat.
  • Der einzige Schadensposten, bei dem ggf. eine Schadensverringerung eintritt, ist der des so genannten Erwerbsschadens, der für einen Ausgleich in der Situation sorgt, in der ein Unfallopfer seiner Berufstätigkeit oder selbständigen Erwerbstätigkeit nicht nachgehen kann. Zu ermitteln ist der Erwerbsschaden über eine vom Gericht anzustellende Prognose. Hätte ein Unfallgeschädigter wegen der Corona-Pandemie voraussichtlich weniger gearbeitet oder wäre er in Kurzarbeit geschickt worden, so mindert dies den zuzusprechenden Erwerbsschadensersatz.

Übersicht

 

Die Behandlung all dieser Schadenspositionen weist zwar durch die Corona-Pandemie ausgelöste Veränderungen auf. Sie erfolgt aber mit den altbekannten juristischen Instrumentarien für diese Schadenspositionen. Änderungen aufgrund der Corona-Pandemie halten sich damit in Grenzen.

Die Problematik der Fahrzeugdesinfektionskosten

Eine neue Schadensposition ist die der Ersatzfähigkeit von Kosten der Fahrzeugdesinfektion bei Reparatur. Kann die Reparaturwerkstatt dem Schädiger ihre Kosten für die Desinfektion des Fahrzeugs in Rechnung stellen? Die Behandlung dieser Schadenspositionen ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten:

Meinungsstand zur Ersatzfähigkeit von Kosten der Fahrzeugdesinfektion

Urteil des LG Stuttgart v. 21.7.2021 – 13 S 25/21

In einem aktuellen Urteil vom 21.7.2021 hat sich nun das Landgericht Stuttgart mit der Ersatzfähigkeit sogenannter Desinfektionskosten nach einem Verkehrsunfall während der Corona-Pandemie befasst (LG Stuttgart vom 21.7.2021 – 13 S 25/21, juris). Das Urteil des LG Stuttgart ist deshalb besonders beachtlich, weil es eines der ersten Berufungsurteile zur Thematik des Schadensrechts in der Corona-Pandemie ist und das Landgericht zudem die Revision nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen hat.

Folgende Punkte aus dem Urteil sind herauszustellen:

  1. Das LG Stuttgart differenziert zwischen den Kosten einer Desinfektion des Fahrzeugs vor Übernahme in die Werkstatt und denjenigen einer Desinfektion vor Übergabe des Fahrzeugs an einen Kunden. Die Erforderlichkeit für die Wiederherstellung wird nur für die letztgenannten Desinfektionskosten bejaht. Das LG führt aus: „In Zeiten der Corona-Pandemie darf der Geschädigte eine Desinfektion der wesentlichen Kontaktflächen vor Abholung des Fahrzeugs erwarten. Unabhängig davon, ob ein nennenswertes Risiko einer Schmierinfektion über Kontaktflächen objektiv besteht, wäre es für den Geschädigten eine über die bloße Lästigkeit hinausgehende Beeinträchtigung, wenn er das Fahrzeug ohne solche Maßnahmen entgegennehmen müsste.“
  2. Das LG Stuttgart lehnt eine Ersatzfähigkeit der Kosten einer Desinfektion des Fahrzeugs vor Übernahme in die Werkstatt nach den Grundsätzen des so genannten Werkstattrisikos ab. Über die Kosten einer Innenraumdesinfektion nach der Reparatur und vor Übergabe an den Kunden hinausgehende Maßnahmen seien kein unmittelbarer Bestandteil der Reparaturarbeiten. Die Grundsätze des Werkstattrisikos fänden mithin auf den Fall keine Anwendung.
  3. Auch die so genannte Indizwirkung der Rechnung führt, mangels bezahlter Werkstattrechnung, nicht zu einer Ersatzfähigkeit von über die unter 1.) genannten hinausgehenden Desinfektionskosten.
  4. Eine Ersatzpflicht sei wertungsmäßig nicht geboten, denn die Versagung des Anspruchs führe zu keiner unangemessenen Benachteiligung des Geschädigten.

Stellungnahme

Die Entscheidung des LG Stuttgart vom 21.7.2021 überzeugt in ihrem Ausgangspunkt, nach dem allenfalls die Kosten einer Innenraumdesinfektion des Fahrzeugs zur Wiederherstellung des Zustands vor dem schädigenden Ereignis erforderlich sind (Desinfektionskosten vor Übergabe des Fahrzeugs an den Werkstattkunden). Bei den übrigen Desinfektionskosten handelt es sich um nicht ersatzfähige Allgemeinkosten der Werkstatt.

Offen lässt das LG aber die Frage, ob sich bei den Kosten der Desinfektion vor Herausgabe des Fahrzeugs an den Kunden nicht nur ein allgemeines Lebens- bzw. Infektionsrisiko verwirklicht, das jeder selbst zu tragen hat. Es bestünde dann kein adäquat kausaler Zusammenhang zwischen Unfall und Desinfektionskosten. Eine Kontrollüberlegung mag bei der Entscheidung helfen: Könnte der Geschädigte seine Behandlungskosten der Corona-Erkrankung dem Unfallschädiger in Rechnung stellen, wenn er sich in einem in der Werkstatt kontaminierten Fahrzeug angesteckt hat? Nach der bisherigen Rechtsprechung, etwa zu einer Grippeinfektion anlässlich einer Krankenhausbehandlung oder zum Sturz bei der Schadensbesichtigung, wohl eher nicht! Viel spricht daher dafür, einen Kausalzusammenhang in einer Zeit hoher Inzidenzwerte mit Schutzmaßnahmen, die alle gesellschaftlichen Bereiche betreffen, für die Desinfektionskosten zu verneinen und diese als mit der allgemeinen Auslagenpauschale abgegolten zu sehen. Auch beim Supermarktbesuch ist ja schließlich niemand auf die Idee gekommen, den Kunden Desinfektionskosten gesondert in Rechnung zu stellen.

Es ist sehr zu begrüßen, dass das LG Stuttgart die Revision zum BGH zugelassen hat. Das Revisionsverfahren bietet über die Gelegenheit zu einer Beendigung des Meinungsstreits zu den Desinfektionskosten hinaus für den BGH die Chance, Grunddeterminanten des Sachschadensrechts abzustecken. So betrachtet könnte ein eventuelles BGH-Urteil auch Relevanz für ähnliche Fragestellungen aus dem Bereich der Nebenschäden wie z. B. der nach der Fahrzeugreinigung im Falle eines Unfalls, entfalten.

Fazit

  1. In der Regel kommt es durch die Corona-Pandemie zu einer Ausweitung einzelner Schadenspositionen (z. B. Mietwagenkostenersatz und abstrakte Nutzungsausfallentschädigung). Neue Rechtsinstrumente für deren Behandlung sind nicht erforderlich.
  2. Zu einer Schadensminderung kann es, infolge der Corona-Pandemie, beim so genannten Erwerbsschaden kommen.
  3. Die Ersatzfähigkeit der neuen Schadensposition der Desinfektionskosten bleibt streitig. Eine BGH-Entscheidung ist mit Spannung, aber wohl kaum zeitnah zu erwarten.

Trotz des Rückgangs der Verkehrsunfallzahlen wird uns die Corona-Pandemie daher auch im Schadensrecht noch länger beschäftigen.

 

Hinweis:
Ausführliche Nachweise sowie Erläuterungen zur Ersatzfähigkeit von Fahrzeugdesinfektionskosten in der Corona-Pandemie finden Sie im Beitrag „Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Schadensabwicklung bei Verkehrsunfällen“ in der MDR 14/2021, S. 845 ff. Gegenstand des Beitrags sind außer den Desinfektionskosten u.a. auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Mietwagenkostenersatz, die abstrakte Nutzungsausfallentschädigung und das Personenschadensrecht (Änderungen beim Erwerbs- und Haushaltsführungsschaden und beim Schmerzensgeld).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Haftungshöchstbeträge für Ansprüche aus dem Straßenverkehrsgesetz und um die Verjährung des Anspruchs auf Einräumung einer Bauhandwerkersicherung

Haftungshöchstbeträge nach § 12 StVG a.F.
Urteil vom 16. März 2021 – VI ZR 140/20

Mit der bis 17. Dezember 2007 geltenden Fassung von § 12 StVG befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der im Jahr 1983 geborene Kläger erlitt bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2000 eine Querschnittlähmung ab dem fünften Halswirbel. Ursache des Unfalls war ein Rad, das sich infolge eines Ermüdungsbruchs von einem bei der Beklagten versicherten Fahrzeug löste und auf das Auto prallte, in dem der Kläger saß. Eine weitere Insassin dieses Autos wurde leicht verletzt, machte aber keine Ersatzansprüche geltend. Die Beklagte zahlte seit dem Unfall eine monatliche Rente von 1.917,34 Euro (ursprünglich 3.750 DM). Im Oktober 2018 stellte sie die Zahlungen ein. Bis dahin hatte sie insgesamt rund 388.000 Euro (rund 760.000 DM) gezahlt. Das LG verurteilte die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente in der bisherigen Höhe. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Der BGH tritt den Vorinstanzen darin bei, dass ein Anspruch auf Rentenzahlung nach den bis 17.12.2017 geltenden Fassungen von § 12 Abs. 1 StVG nur durch den Höchstbetrag für die Jahresrente begrenzt wird, nicht aber durch die separat festgelegte Höchstgrenze für Kapitalbeträge. Nach der im Streitfall maßgeblichen Fassung von § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVG haftet die Beklagte, solange die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, danach bis zu einem Rentenbetrag von jährlich 30.000 DM – unabhängig davon, ob der Gesamtbetrag ihrer Zahlungen die für Kapitalbeträge geltende Höchstgrenze von 500.000 DM überschritten hat.

Der BGH tritt den Vorinstanzen ferner darin bei, dass die Beklagte gegenüber dem Kläger nicht bis zu dem in § 12 Abs. 1 Nr. 2 StVG a.F. für den Fall der Verletzung mehrerer Personen vorgesehenen Höchstbetrag von 45.000 DM jährlich haftet. Diese Grenze ist nur für die Summe aller Rentenzahlungen maßgeblich, die die Beklagte gegenüber Personen erbringen muss, die bei dem Unfall verletzt worden sind. Der Anspruch eines einzelnen Verletzten ist dagegen nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 StVG a.F. auf 30.000 DM jährlich begrenzt.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen können die in der Vergangenheit erbrachten Zahlungen der Beklagten nicht ohne weiteres als Anerkenntnis einer Pflicht zur Zahlung einer Rente von jährlich 45.000 DM angesehen werden. Eine Tilgungsleistung kann nur dann als Angebot zum Abschluss eines bestätigenden Schuldanerkenntnisvertrags ausgelegt werden, wenn im konkreten Fall ein nachvollziehbarer Anlass für ein solches Anerkenntnis bestand. Letzteres kann insbesondere dann anzunehmen sein, wenn Streit oder Ungewissheit über Bestand oder Höhe der Forderung herrschte. Diesbezügliche Feststellungen hat das OLG nicht getroffen.

In der wiedereröffneten Berufungsinstanz wird das OLG insbesondere dem Vortrag des Klägers nachzugehen haben, wonach sein Prozessbevollmächtigter nach dem Unfall in einer abschließenden Besprechung mit der Beklagten zum Ausdruck gebracht habe, er werde von einer gerichtlichen Geltendmachung von weitergehenden Ansprüchen aus § 823 Abs. 1 BGB absehen, wenn die Beklagte im Gegenzug den Haftungshöchstbetrag von 45.000 DM pro Jahr hinnehme.

Praxistipp: Da solche Konstellationen in der Regel erst lange Zeit nach dem Schadensereignis eintreten, ist besonders sorgfältig zu prüfen, welche Fassung von § 12 StVG maßgeblich ist. Seit 18.12.2007 gilt ein einheitlicher Höchstbetrag (derzeit fünf Millionen Euro), der auch für den Kapitalwert einer zu leistenden Rente maßgeblich ist.

Verjährung des Anspruchs auf Bauhandwerkersicherung
Urteil vom 25. März 2021 – VII ZR 94/20

Mit dem Beginn der Verjährung eines Anspruchs aus § 648a BGB a.F. (jetzt: § 650f BGB) befasst sich der VII. Zivilsenat.

Die Beklagte beauftragte den Kläger im Jahr 2013 mit Rohbauarbeiten für ein Mehrfamilienhaus. Nach Abschluss der Arbeiten legte die Klägerin im Juli 2014 eine Schlussrechnung über einen Gesamtbetrag von rund 220.000 Euro netto vor. Die Beklagte, die bis dahin Abschläge in Höhe von rund 110.000 Euro erbracht hatte, berief sich auf Mängel und verweigerte weitere Zahlungen. Über eine im Jahr 2015 erhobene Klage auf restliche Vergütung ist erstinstanzlich noch nicht entschieden.

Im September 2018 verlangte die Klägerin die Stellung einer Sicherheit in Höhe von 88.000 Euro. Ihre auf diese Leistung gerichtete Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg.

Die Revision der Beklagten bleibt erfolglos.

Der BGH tritt dem OLG darin bei, dass der Anspruch auf Leistung einer Bauhandwerkersicherung als „verhaltener“ Anspruch zu qualifizieren ist, so dass die Verjährung frühestens dann beginnt, wenn der Unternehmer den Anspruch erstmals geltend macht. Der Besteller darf eine solche Sicherheit nicht von sich aus stellen. Die Entscheidung darüber liegt beim Unternehmer, weil dieser die hierfür anfallenden Kosten tragen muss. Der Unternehmer wird eine Sicherheit in der Regel nur dann verlangen, wenn ein entsprechendes Sicherungsbedürfnis besteht. Ein solches kann sich je nach Einzelfall auch erst geraume Zeit nach Entstehung des Anspruchs ergeben.

An der Geltendmachung des Anspruchs ist die Klägerin im Streitfall weder unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs noch unter dem Aspekt der Verwirkung gehindert.

Praxistipp: Geltend gemachte Mängel haben gemäß § 650f Abs. 1 Satz 4 BGB auf die Höhe der zu leistenden Sicherheit grundsätzlich keinen Einfluss, soweit daraus resultierende Ansprüche nicht unstreitig oder rechtskräftig festgestellt sind.