Richterbesoldung in Hessen

Das Land muss sparen. Obwohl die Justiz die Dritte Gewalt darstellt und infolgedessen eigentlich eine Sonderstellung verdient, ist das Gegenteil der Fall. Bei der Justiz muss immer am meisten gespart werden. Dies liegt auf der Hand. Denn: Welcher Politiker mag schon unabhängige Richter?

In den über 25 Jahren richterlicher Tätigkeit des Bloggers gab es – hoffentlich richtig erinnert – nur bestenfalls drei Jahre, in denen eine Gehaltserhöhung die tatsächliche Teuerungsrate überstieg. Seinerzeit gab es in den Besoldungsgruppen R 1 und R 2 noch alle zwei Jahre einen – wenn auch kleinen – Sprung nach oben. Diese – sozusagen – automatische Erhöhung hörte aber mit dem 49. Lebensjahr auf. Ab dem 49. Lebensjahr hat jeder Richter und jede Richterin in Hessen somit jährlich einen maßgeblichen Gehaltsrückgang zu verzeichnen, wohingegen die Lebenshaltungs- und auch sonstige Kosten immer weiter ansteigen; Jahr für Jahr. Hinzu kommt, dass sich im Laufe der genannten über 25 Jahre eine sehr große Schere zwischen der Besoldung von Richtern/Richterinnen und Rechtsanwälten/Rechtsanwältinnen in vergleichbarer Stellung geöffnet hat. Selbst die Anfangsgehälter in größeren Anwaltsbüros liegen heute weit über dem Endgehalt eines „normalen“ Richters bzw. einer Richterin. Wer von der Justiz in die Anwaltschaft oder in die Wirtschaft wechselt, wird in der Regel sein Gehalt verdoppeln. Aber dieser Weg ist für ältere Richter und Richterinnen nicht realistisch gangbar, was natürlich auch den Politikern klar ist.

Früher hat man oft gesagt, als Richter/Richterin habe man dafür auch weniger Arbeit. Diese Behauptung lässt sich jedoch heute nicht mehr aufrechterhalten. Denn die Arbeit wird nicht weniger, sondern mehr. Woran dies liegt, habe ich – notgedrungen beschränkt auf Zivilsachen – an anderer Stelle ausgeführt (F. O. Fischer, DRiZ 2015, 392 ff.). Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass sich diese Situation auch nur ansatzweise ändern wird, im Gegenteil. Die Politik verweigert der Justiz hartnäckig nicht nur die angemessene Besoldung, sondern darüber hinaus auch die angemessene Ausstattung. So hängen zahlreiche Verzögerungen im Justizbetrieb oft gar nicht mit den Richtern/Richterinnen zusammen, sondern mit den Geschäftsstellen. Diese sind noch mehr überlastet als die Richter/Richterinnen und einfach nicht mehr dazu in der Lage, ihre Aufgaben zeitnah und sachgerecht zu erfüllen. Durch die beständige Überlastung steigen auch die Krankenstände immer weiter an. Es kommt auch vermehrt zu Burnout-Syndromen.

Das BVerfG hat sich  nunmehr auch eingeschaltet. Ob dies für die Richterschaft gut oder schlecht ist, muss sich erst zeigen. Die Politik wird nämlich um jeden Preis versuchen, immer an der äußersten Grenze des Zulässigen nach unten entlang zu fahren und diesen „Spielraum“ beständig – soweit es irgendwie geht – ausnutzen.

Wenn Richter und Richterinnen streiken dürften, wäre es nunmehr bald an der Zeit, den unbefristeten Generalstreik auszurufen. Schade, dass es nicht geht und sich Richter und Richterinnen (fast) alles gefallen lassen! Hoffentlich ändert sich das, und zwar bald.

 

BVerfG zum Willkürverbot bei Nichtzulassung der Berufung

Für den Anwalt und erst Recht für die Partei ist folgende Situation immer eine sehr ärgerlich: Es gibt eine feststehende Rechtsprechung des Berufungsgerichts zu einer im Prozess entscheidungserheblichen Rechtsfrage, die der entscheidende Richter am Amtsgericht jedoch für falsch hält. Dabei geht es beispielsweise um die Höhe der erstattungsfähigen Inkassokosten oder um Fragen zu Details der Schadensabrechnung (z.B. zu der Problematik, ob bei fiktiver Schadensabrechnung im Rahmen eines Verkehrsunfalls die Verbringungskosten erstattungsfähig sind oder eben nicht).

Offenbar gehen einige Richter an den Amtsgerichten davon aus, dass die Durchsetzung von nach Auffassung des Richters falschen Rechtsansichten, mögen sie auch der Sichtweise des zuständigen Berufungsgerichts entsprechen, kein Grund dafür ist, die Berufung zuzulassen. Diese Ansicht ist allerdings so nicht richtig. Gemäß § 511 Abs. 4 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung u.a. zu (d. h.: Es muss sie zulassen!), wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung durch das Berufungsgericht erfordert. Nach ständiger Rechtsprechung, die auch durch die Gesetzesmaterialien gedeckt wird, sollte mit dieser Formulierung auch erreicht werden, dass unterschiedliche Rechtsprechung in einem Gerichtsbezirk vermieden wird.

In einem Fall, mit dem sich das BVerfG (Beschl. v. 27.5.2016 – 1 BvR 345/16) beschäftigt hat, hatte das  Amtsgericht die Berufung mit der Begründung nicht zugelassen, eine einheitliche Rechtsprechung des Berufungsgerichts bestehe bereits. Das tatsächliche Erreichen einer einheitlichen Rechtsprechung sei von § 511 Abs. 4 hingegen nicht geschützt. Diese Sicht der Dinge hat das BVerfG in einer Kammerentscheidung als willkürlich bezeichnet (Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG). Das BVerfG gebraucht deutliche Worte: „Die Nichtzulassung der Berufung mit der vom Amtsgericht gegebenen Begründung erweist sich hier nicht nur als Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall, sondern als grobe Verkennung, die zugleich auf eine generelle Vernachlässigung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz hindeutet und auf einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht.“ (Rn. 15.)

Fazit: Der Rechtsanwalt sollte daher in geeigneten Fällen vorsorglich darauf hinweisen, dass bei einer bewussten Abweichung von einer Rechtsprechung des zuständigen Berufungsgerichts die Berufung zwingend zuzulassen ist. Nicht anderes gilt bei einer bewussten Abweichung von einer Rechtsprechung des Revisionsgerichts, mithin des BGH. Wird eine Berufung willkürlich nicht zugelassen, kommt ausnahmsweise auch eine sonst nicht mögliche nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Gegenvorstellung in Betracht (BGH, Beschl. v. 9.6.2016 – IX ZB 92/15).

Rechtsmangel beim Kfz-Verkauf: Ausschluss der Gewährleistung und Abstandnahme von einseitiger Erledigungserklärung

Das OLG München hat mit Urt. v. 2.5.2016 – 21 U 3016/15 eine sowohl materiell-rechtlich als auch prozessrechtlich recht interessante Entscheidung getroffen:

Der Kläger kaufte von dem Beklagten einen gebrauchten PKW Alfa Romeo für 7.200 €. Im Vertrag hieß es u. a.: „Verkauf an Kfz Handel wie besichtigt ohne Garantie und Gewährleistung.“ Später stellte sich heraus, dass der PKW im SIS (Schengener Informationssystem) zur Fahndung ausgeschrieben war. Der Kläger erklärte den Rücktritt vom Kaufvertrag. Viel später wurde der PKW von der Staatsanwaltschaft dann freigegeben und vom Kläger für 2.800 € verkauft. Das LG vertrat die Auffassung, der Kläger müsse wegen des Verkaufes die Hauptsache für erledigt erklären. Dies geschah, der Beklagte widersprach der Erledigungserklärung. Das LG stellte durch Urteil u. a. die Erledigung fest. Der Beklagte legte Berufung ein, der Kläger Anschlussberufung.

Zunächst entschied das OLG, dass der Kläger von der einseitigen Erledigungserklärung in der ersten Instanz in der Berufungsinstanz wieder Abstand nehmen konnte, und zwar weil diese Erklärung durch einen falschen Hinweis des LG veranlasst wurde. In einem solchen Fall ist die Rückkehr zum ursprünglichen Antrag möglich.

Der Hinweis des LG war deswegen falsch, da der Weiterverkauf des PKW hier keinen Fall der Erledigung der Hauptsache im Prozess war. Der Rücktritt wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der empfangene Gegenstand weiter veräußert worden ist. Es stellt auch kein widersprüchliches Verhalten des Käufers dar (venire contra factum proprium), wenn er einerseits den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt und andererseits den empfangenen Gegenstand weiter verkauft (vgl. auch § 357 Abs. 2 Nr. 2 BGB).

Der Rücktritt wird auch nicht durch den vereinbarten Gewährleistungsausschluss ausgeschlossen. Die Tatsache, dass das Fahrzeug im SIS zu Fahndung ausgeschrieben war, stellt bereits einen Rechtsmangel dar. Eine dauerhafte Beeinträchtigung ist dafür nicht erforderlich. Die Auslegung der vereinbarten Klausel im Kaufvertrag ergibt jedoch, dass sich der Gewährleistungsausschluss nur auf Sachmängel bezieht, zumal eine solche Klausel im Zweifel zum Nachteil des Verwenders, hier des Beklagten, auszulegen ist.

Der Rücktritt greift daher durch, den Wert des Fahrzeugs schätzte das Gericht unter Bezugnahme auf die bekannten Anhaltspunkte und den Weiterverkaufswert und saldiert diesen mit dem Kaufpreis, so dass letztlich der Beklagte noch etwas an den Kläger zu zahlen hat. Anspruchsgrundlage sind die §§ 346 Abs. 1, 323 Abs. 1, 437 Nr. 2, 435 BGB. Saldiert wird mit dem Anspruch aus § 346 Abs. 2 Nr. 2 BGB.

Fazit: Bei einem falschen Hinweis eines Gerichts kann man in der nächsten Instanz von einer einseitigen Erledigungserklärung wieder Abstand nehmen und zum ursprünglichen Antrag zurückkehren. Gewährleistungsausschlüsse für Rechtsmängel bedürfen einer ausdrücklichen Vereinbarung. Die Existenz eines Eintrags im SIS reicht für einen Rechtsmangel aus.

OLG Stuttgart: Einheitlicher Erfüllungsort nach Rücktritt vom Kaufvertrag

Es handelte sich um einen alltäglichen Fall: Der Kläger hatte einen PKW gekauft. Später stellte sich heraus, dass es sich um einen Unfallwagen gehandelt hat, dem darüber hinaus noch zahlreiche zugesicherte Eigenschaften fehlten. Der Kläger erklärte daher den Rücktritt vom Vertrag und machte Aufwendungs- und Schadensersatzansprüche geltend, und zwar bei dem LG Tübingen, in dessen Bezirk er wohnt. Das LG wies die Klage ab, da es sich für örtlich unzuständig hielt. Der Kläger hatte ausdrücklich keinen (Hilfs-)Verweisungsantrag gestellt. Dadurch bekam das OLG Stuttgart auf seine Berufung hin die Gelegenheit, sich ausführlicher zu der Frage der Zuständigkeit bei derartigen Sachverhalten zu äußern. Das OLG (Urt. v. 13.1.2016 – 9 U 183/15) bestätigte die an die Rechtsprechung des BGH angelehnte h. M. zu diesem Problemkomplex:

29 ZPO verweist für die Zuständigkeit auf materielles Recht, mithin hier auf § 269 BGB. Regelmäßig besteht kein einheitlicher Erfüllungsort, vielmehr ist für jede einzelne Pflichtverletzung gesondert anzuknüpfen. Im Zweifel ist allerdings der Wohnsitz des Schuldners Erfüllungsort. Die besonderen Umstände eines Falles können aber auch einen anderen – insbesondere auch einheitlichen – Erfüllungsort ergeben. Bei einem Kaufvertrag ist einheitlicher Erfüllungsort für alle Rückgewähransprüche nach Rücktritt vom Vertrag, jedenfalls nach beidseitiger Vertragserfüllung, der Ort, an dem sich die Kaufsache vertragsgemäß befindet. Dies gilt vor allem dann, wenn mit dem Rückgabeanspruch ein Rücknahmeanspruch korrespondiert. Wenn die ausgetauschten Leistungen Zug-um-Zug rückabzuwickeln sind, entspricht es dem mutmaßlichen Willen der Parteien, den Ort, an dem sich die gekaufte Sache befindet, auch als Erfüllungsort für die Rückzahlung des Kaufpreises anzusehen.

Das OLG Stuttgart führt darüber hinaus im Einzelnen aus, dass diese Grundsätze von dem BGH nicht etwa in verschiedenen Entscheidungen aufgegeben worden sind, sondern nach wie vor Bestand haben. Weiterhin wurde das Urteil des LG aufgehoben und der Rechtsstreit zur sachlichen Prüfung zurückverwiesen (§ 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO). Damit dürfte man hinfort von diesen Grundsätzen weiterhin ausgehen können. Diese sind auch sachgerecht und haben sich in der gerichtlichen Praxis bewährt.

Der Fall zeigt darüber hinaus, dass man als Rechtsanwalt nicht immer einen Verweisungsantrag stellen sollte, wenn das Gericht einen solchen anregt. Oftmals ist es sachgerecht, es auf eine Entscheidung des Berufungsgerichts ankommen zu lassen. Mit einem Rechtsmittel kann die Entscheidung zur Zuständigkeit nämlich – wie hier – auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden wohingegen Verweisungsbeschlüsse regelmäßig Bestand haben (§ 281 Abs. 2 S. 4 ZPO) und nur ausnahmsweise wegen Willkür unwirksam sind (hierzu zuletzt: F. O. Fischer, MDR 2016, 500 ff.). Der eintretende Zeitverlust ist oftmals gar nicht so hoch, da derartige Verfahren von den Berufungsgerichten meist vorgezogen werden und auch eine denkbare Vorlage nach § 36 Nr. 6 ZPO bei einem Verweisungsbeschluss das Verfahren nicht unerheblich verzögert.

BGH: Beschwer bei Schmerzensgeld im Wege des unbezifferten Antrages

Die Klägerin verlangte von ihrer Krankenversicherung neben materiell-rechtlichem Schadensersatz u. a. Schmerzensgeld wegen einer angeblich zu Unrecht versagter Kostenübernahme. Die Klägerin hatte keinen bezifferten Antrag gestellt, sondern im Klageantrag nur ein angemessenes Schmerzensgeld verlangt (vgl. § 92 Abs. Nr. 2 ZPO). In der Klagebegründung ließ sie allerdings ausführen, dass dabei ein Betrag in Höhe von 3.000 € nicht unterschritten werden sollte. Nachdem die Klage insgesamt abgewiesen und die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wurde, versuchte die Klägerin die Zulässigkeit der Revision herbeizuführen, indem sie eine Beschwer von über 20.000 € begründen wollte, und zwar durch „Aufblasen“ des abgewiesenen Schmerzensgeldes. Dieser Versuch war beim BGH (Beschl. v. 24.3.2016 – III ZR 52/15) erfolglos.

Die für ein Rechtsmittel erforderliche Beschwer ist zunächst einmal formell zu bestimmen, nämlich in Gestalt der Differenz zwischen Antrag und Entscheidung. Bei einem unbezifferten Antrag auf Schmerzensgeld ist für die Beschwer des Rechtsmittelklägers die von ihm geäußerte Größenvorstellung maßgeblich. Gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO soll die Klageschrift die Angabe des Wertes des Streitgegenstandes enthalten, wenn hiervon die Zuständigkeit des Gerichts abhängt und der Streitgegenstand nicht in einer bestimmten Geldsumme besteht. Der demgemäß bei derartigen Streitigkeiten anzugebende Mindestbetrag muss nicht im Klageantrag selbst angegeben werden, sondern kann im Rahmen der Begründung des Anspruchs angeführt werden. Eine Beschwer besteht dann nur, wenn dieser Antrag unterschritten wurde. Bei – wie hier – vollständiger Klageabweisung liegt eine Beschwer nur hinsichtlich des mitgeteilten Mindestbetrages vor. Eine Beschwer von über 3.000 € lässt sich daher hier nicht begründen.

Allerdings hatte die Klägerin selbst in einem Schriftsatz an das Berufungsgericht, nachdem dieses eine Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO angekündigt hatte, ihre Schmerzensgeldforderung auf 8.000 € erhöht. Da die Klägerin selbst vor dem Berufungsgericht jedoch nicht postulationsfähig war, war dieser Schriftsatz unbeachtlich. Allerdings hatte ihr Rechtsanwalt in einem folgenden Schriftsatz um Berücksichtigung der Ausführungen der Klägerin gebeten. Dies ist aber nicht ausreichend, da er sich jedenfalls den Antrag nicht ausdrücklich zu Eigen gemacht hat. Alles in allem fehlte es vorliegend jedenfalls an einer grundsätzlich denkbaren Klageerweiterung in der Berufungsinstanz. Es blieb daher bei der Beschwer von 3.000 €.

Fazit: Wer sich die Möglichkeit einer Revision erhalten will und das Kostenrisiko nicht scheut, sollte – spätestens in der Berufungsinstanz – direkt einen bezifferten Antrag in ausreichender Höhe stellen oder jedenfalls eine Größenordnung angeben, die ausreichend „Luft“ hat. Nach Erlass des Berufungsurteils lässt sich die erforderliche Beschwer nicht mehr „aufblasen“.

BGH: Fristwahrung durch zu knappe Klageschrift?

Der Kläger war Opfer einer rechtswidrigen Durchsuchung geworden. Die von ihm beantragte Entschädigung hatte die Justizverwaltung im Wesentlichen abgelehnt. Die dreimonatige Klagefrist (§ 13 Abs. 1 S. 2 StrEG) wollte der Kläger durch folgende Klageschrift wahren, der keine Anlagen beigefügt waren: „Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 33.280,27 Euro nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 7.2.2014 an den Kläger zu bezahlen. – Begründung: Der Vorgang wird bei der Beklagten unter dem Aktenzeichen II B 5 – 4220/E/28/2013 geführt. Eine Begründung des Antrags wird in Kürze in einem gesonderten Schriftsatz erfolgen.“ Später wurde diese „Klageschrift“ nach Fristablauf ergänzt. Der Kläger verlor den Prozess durch alle Instanzen.

Der BGH (Urt. v. 17.3.2016 – III ZR 200/15 = MDR 2016, 541; mit Besprechung Conrad MDR 2016, 572) nutzt diesen Fall, um ausführlich über die Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 ZPO sowie die Bezugnahme auf Schriftstücke zu referieren. Erforderlich ist nach dem Gesetzeswortlaut die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs. Dafür ist Schlüssigkeit und Substantiierung nicht erforderlich, vielmehr ist es ausreichend, wenn der Anspruch identifizierbar ist. Grundsätzlich kann diese Indentifizierbarkeit auch durch eine konkrete Bezugnahme auf Anlagen erfolgen, wobei das Gericht aber nicht dazu verpflichtet ist, umfangreiche und ungeordnete Anlagen durchzuarbeiten. Anlagen dienen nur zur Erläuterung und Konkretisierung, nicht aber der Ersetzung von Vortrag. Wenn die Anlagen dazu erforderlich sind, die Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 ZPO herbeizuführen, müssen sie von einem Rechtsanwalt stammen, auf Schreiben der Partei selbst darf nicht Bezug genommen werden. Wendet man diese Maßstäbe auf die hier vorliegende Klageschrift an, so ergibt sich, dass sie den Anforderungen des § 253 Abs. 2 ZPO nicht entspricht. Die Klageschrift enthält keinerlei Ausführungen, woraus sich ein Anspruch auf Zahlung von 33.280,27 € ergeben soll. Die Bezugnahme in der Klageschrift enthält keine Bezugnahme auf konkrete Urkunden, sondern nur einen allgemeinen Bezug auf eine Akte. Dies ist nicht ausreichend, zumal die Akte – oder wenigstens Auszüge daraus – auch nicht beigefügt waren. Damit war die Frist versäumt. Die Nachholung der Angaben entfaltet keine Rückwirkung.

Oftmals gilt der Satz: „Hier wäre weniger mehr gewesen.“ Im hiesigen Fall verhält es sich anders: Hier wäre „mehr“ unbedingt erforderlich gewesen. Im Zeitalter des „Bearbeiten-Kopieren-Einfügens“ dürfte es eigentlich keine Probleme bereiten, eine den Anforderungen des § 253 Abs. 2 ZPO entsprechende Klageschrift vorzulegen, mitunter kann auch ein Scanner helfen. In einer Klageschrift, die zur Fristwahrung erforderlich ist, ist grundsätzlich Vorsicht bei Bezugnahmen angebracht, da eine Heilung wegen der zu wahrenden Frist nicht möglich ist.

 

 

 

BGH: Verzugsschaden in Gestalt von Anwaltskosten

Der Beklagte hatte ein Darlehen in Höhe von 50.000 € bis spätestens zum 31.12.2012 zurückzuzahlen. Er hatte mehrfach angekündigt, diese Frist einzuhalten. Am 31.12.2012 erteilte er seiner Bank den Zahlungsauftrag. Die Darlehenssumme wurde erst am 4.1.2013 auf dem Konto des Klägers gut geschrieben. Der Kläger hatte am 2.1.2013 einen Rechtsanwalt beauftragt. Die insoweit entstandenen Kosten verlangt er vom Beklagten. Das LG hatte die Klage abgewiesen, das OLG ihr stattgegeben. Die zugelassene Revision führte zur Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils!

Der BGH (Urt. v. 25.11.2015 – IV ZR 169/14) entscheidet diverse interessante Streitfragen nicht, u. a. die Frage, wann ein Schuldner einer Geldforderung tatsächlich geleistet hat, vor allem wenn es sich – wie hier – um Zahlungen außerhalb des Anwendungsbereichs der ersten Zahlungsverzugsrichtlinie handelt. Der BGH greift völlig zu Recht nur auf die in der Praxis noch wenig bekannten Vorschriften der §§ 675f Abs. 2 S. 1, 675n Abs. 1, S. 2, S. 4 zurück. Da der 31.12.2012 ein Bankfeiertag war, war der Zahlungsauftrag ohnehin erst am 2.1.2013, dem nächsten Arbeitstag, eingegangen und damit die nicht rechtzeitige Zahlung offensichtlich.

Der BGH hatte – im Hinblick auf durch Verzug entstehende Anwaltskosten – erst kürzlich entschieden, dass ein Gläubiger, dessen Schuldner sich in Verzug befindet, grundsätzlich auf Kosten des Schuldners einen Rechtsanwalt beauftragen darf, wobei das Mandat sich nicht auf die Abfassung eines einfachen Schreibens beschränken muss (Urt. v. 17.9.2015 – IX ZR 280/14 Rn. 8 ff; MDR 2015, 1408; siehe auch zur Ersatzpflicht für außergerichtliche Rechtsanwalts- und Inkassokosten, Woitkewitsch, MDR 2012, 500). Diesen Standpunkt bekräftigt der BGH erneut, sieht aber im konkreten Fall besondere Umstände, die eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Nur diejenigen Rechtsverfolgungskosten sind zu ersetzen, „die aus der ex-ante-Sicht einer vernünftigen, wirtschaftlich denkenden Person in der Situation des Geschädigten nach den Umständen des Falles zur Wahrung und Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig gewesen sind“. Eine solche Person hätte die Möglichkeit berücksichtigt, dass der Beklagte die Zahlung jedenfalls bereits veranlasst hat. Der 29.12.2012 war ein Samstag, der 30.12.2012 demnach ein Sonntag und der 31.12.2012 – ein Bankfeiertag – ein Montag. Der sich anschließende Dienstag war als 1.1.2013 ohnehin ein Feiertag. Angesichts der Höhe des Überweisungsbetrages war auch damit zu rechnen, dass eine „manuelle“ Prüfung der Überweisung erfolgen könnte, was erfahrungsgemäß zu zusätzlichen Verzögerungen führt. Letztlich hätte der Kläger damit rechnen müssen, dass aufgrund dieser Umstände selbst ein am 28.12.2012 erteilter Überweisungsauftrag nicht mehr hätte rechtzeitig ausgeführt werden können. Unter diesen konkreten Umständen hätte der Kläger daher noch abwarten müssen, bis er den Anwalt beauftragte, zumal der Beklagte dazu verpflichtet ist, einen eventuellen Zinsschaden zu ersetzen.

Man sieht: Der BGH verschafft einmal mehr der – zweifelhaften – Einzelfallgerechtigkeit Geltung und ist ohne weiteres dazu bereit, dafür zuvor aufgestellte Grundsätze wieder über Bord zu werfen. Es ist kein Wunder, dass die Rechtsanwendung immer komplizierter wird, wenn die Grundsätze in jedem zweiten Fall durch Besonderheiten eines Einzelfalls durchlöchert werden wie ein Schweizer Käse. War es hier nicht die Pflicht des Beklagten, für einen pünktlichen Zahlungseingang zu sorgen?!

Gleichwohl sollte man in der Praxis aus dieser Entscheidung und aus der unsicheren Rechtslage im Hinblick auf die Zahlungsverkehrsrichtlinie vorsichtshalber folgende Konsequenz ziehen: Nach Verzugseintritt lieber noch drei Tage warten, bevor man „loslegt“. Damit kann man eine Menge Schwierigkeiten vermeiden.

 

 

Berufung: Fristbeginn für Urteile nach Inkrafttreten der Neufassung des § 317 ZPO

Die Vorschrift des § 317 ZPO (Amtliche Überschrift: Urteilszustellung und –ausfertigung) wurde durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 10.10.2013 (BGBl. I S. 3786 ff.) geändert. Nach § 317 Abs. 1 S. 1 ZPO sind seitdem die Urteile den Parteien von Amts wegen nicht mehr in Ausfertigung, sondern nur noch in Abschrift zuzustellen. Die früher erforderliche Zustellung einer Ausfertigung erfolgt gemäß § 317 Abs. 2 S. 1 ZPO nur noch auf Antrag. Gemäß § 169 Abs. 2 S. 1 ZPO wird das zuzustellende Schriftstücke von der Geschäftsstelle (nur) beglaubigt (nicht mehr ausgefertigt!). Die in der Praxis Tätigen werden diesen Unterschied voraussichtlich schon bemerkt haben!

Vor der Änderung des § 317 ZPO setzte der Beginn der Berufungsfrist die Zustellung einer Ausfertigung voraus. Gemäß § 517 beginnt die Berufungsfrist von einem Monat mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils. Teilweise wurde die Auffassung vertreten, für den Fristbeginn sei gleichwohl die Zustellung einer Ausfertigung erforderlich (z. B. Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 36. Aufl. (2015), § 517 Rn. 2). Nach der für die Praxis maßgeblichen Auffassung des BGH ist dies aber nicht der Fall (BGH, Urt. v. 27.1.2016 – XII ZB 684/14)! Die Berufungsfrist – und damit auch die Berufungsbegründungsfrist – werden nach der oben erwähnten Gesetzesänderung vielmehr bereits durch die Zustellung schon einer Abschrift des Urteils in Lauf gesetzt. Es liegt auf der Hand, dass schon die gesetzliche vorgesehene routinemäßige Zustellung der Geschäftsstelle die Berufungsfrist in Lauf setzen muss. Anderenfalls hätte es jede Partei in der Hand, durch den Verzicht auf den Antrag, ihr eine Ausfertigung zuzustellen, die Berufungsfrist beliebig bis zum Ablauf der absoluten Berufungsfrist von dann sechs Monaten zu erstrecken. Dies kann nicht der Sinn der Gesetzesänderung gewesen sein.

Der Leitsatz der Entscheidung, die sich im Übrigen mit verschiedenen weiteren komplexeren Fragen der Wiedereinsetzung befasst, worauf hier in diesem Rahmen nicht eingegangen werden kann, lautet wie folgt:

Für Urteile, die nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 317 ZPO zum 1.7.2014 zugestellt worden sind, setzt der Beginn der Fristen zur Berufungseinlegung und -begründung nicht mehr die Zustellung einer Urteilsausfertigung voraus. Entsprechend der nunmehr in § 317 Abs. 1 Satz 1 ZPO enthaltenen Regel genügt die Zustellung einer beglaubigten Abschrift des in vollständiger Form abgefassten Urteils (Abgrenzung zu Senatsbeschluss BGHZ 186, 22 = FamRZ 2010, 1246 = MDR 2010, 946).

Dieser Entscheidung ist uneingeschränkt zuzustimmen!

 

BGH: Konkludenter Verzicht auf einen Beweisantritt

In einer kürzeren Entscheidung (Beschl. v. 4.2.2015 – IX ZR 133/15) hat der BGH folgendes ausgeführt: „Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht darin erblickt werden, dass das Berufungsgericht den von dem Kläger zum Nachweis der geltend gemachten Mängel benannten Zeugen F. M. nicht gehört hat. Der Kläger hat auf die Vernehmung des Zeugen konkludent verzichtet. Ein Verzicht auf einen Zeugen kann darin gesehen werden, dass die Partei, welche noch nicht vernommene Zeugen benannt hat, nach durchgeführter Beweisaufnahme ihren Beweisantrag nicht wiederholt. Die Schlussfolgerung eines Verzichts ist jedenfalls dann berechtigt, wenn die Partei aus dem Prozessverlauf erkennen konnte, dass das Gericht – wie hier das Berufungsgericht nach der Vernehmung der Zeugin H. und dem anschließenden Hinweis auf die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Berufung – mit der bisher durchgeführten Beweisaufnahme seine Aufklärungstätigkeit als erschöpft angesehen hat…“

Es wird häufiger versucht, Revisionsgründe zu schaffen, indem der gesamte Verfahrensstoff mehrerer Instanzen auf eine Passage in irgendeinem Schriftsatz durchsucht wird, worin relevantes Vorbringen enthalten war, was mit einem Zeugenbeweisantritt untermauert worden ist, dem jedoch – aus welchen Gründen auch immer – nicht nachgegangen wurde. Das vom IX. Zivilsenat aufgezeigte Argumentationsmuster ermöglicht, in ausgewählten Fällen, derartige Versuche nicht zum Erfolg werden zu lassen. Für einen Antrag auf Parteivernehmung gilt dasselbe (vgl. BGH, Urt. v. 20.6.1996 – III ZR 219/95 aE). Es liegt aber auf der Hand, dass an den konkludenten Verzicht auf einen Zeugen strenge Anforderungen zu stellen sind, keinesfalls darf der Ausnahmefall zum Normalfall werden. Die Partei muss aus der Verfahrensweise des Gerichts bzw. dem Prozessverlauf erkennen können, dass das Gericht mit den bisher durchgeführten Maßnahmen seine Aufklärungspflicht als erschöpft angesehen hat.

Aus den vorliegenden Entscheidungen des BGH ergibt sich, dass ein solcher Fall etwa vorliegt, wenn das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten eingeholt hat, anschließend einen Termin bestimmt und zu erkennen gibt, dass es weitere Sachaufklärungen nicht mehr durchführen möchte, sondern vielmehr der Rechtsstreit nunmehr entschieden werden soll.

All dies – wie wohl praktisch durchaus sehr wichtig – ist dem BGH eine Aufnahme in den Leitsatz der Entscheidung allerdings nicht wert gewesen! Der Leitsatz befasst sich vielmehr nur mit einer bürgerlich-rechtlichen Fragestellung: Bei der Bewertung, ob eine Pflichtverletzung erheblich oder unerheblich ist, sind vor Abgabe der Rücktrittserklärung behobene Mängel im Allgemeinen außer Betracht zu lassen.

 

Ausschluss der Wiedereinsetzung: Nach Ablauf der Jahresfrist ist wirklich Schluss!

Nicht nur im Verfahrensrecht weitet sich die Aufweichung allgemeiner Grundsätze durch immer neue Ausnahmen und immer weiter gehende Billigkeitsrechtsprechung, teilweise aufgrund angeblicher verfassungsrechtlicher Notwendigkeiten, immer mehr aus. Umso erwähnenswerter ist eine neuere Entscheidung des BGH (Beschl. v. 21.1.2016 – IX ZA 24/15, MDR 2016, 343), die man wirklich mit dem Satz kommentieren könnte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Es ging um eine Fristwahrung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Der Schuldner hätte angemeldeten Forderungen aus dem Rechtsgrund der unerlaubten Handlung rechtzeitig widersprechen müssen, hatte dies aber unterlassen. Als eigene Anschrift hatte der Schuldner im Verfahren diejenige seiner – inzwischen verstorbenen – Mutter mitgeteilt. Diese hatte wichtige Schriftstücke an ihn nicht weiter geleitet, weil das Verhältnis zu ihr zerrüttet gewesen sei. Der Antrag des Schuldners auf Wiedereinsetzung wurde außerhalb der Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO gestellt.

Der BGH bestätigt die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung durch die Vorinstanzen. Natürlich betont der BGH zunächst, dass die absolute Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO nach einer Entscheidung des BVerfG mit dem GG vereinbar ist. Diese Frist stellt allerdings nicht auf irgendein Verschulden des Betroffenen ab. Demgemäß sind – natürlich aus verfassungsrechtlichen Gründen – Ausnahmen zu dieser Frist anerkannt, wenn nur so die verfassungsmäßigen Rechte des Betroffenen gewahrt werden können. Dies ist hauptsächlich dann der Fall, wenn die Jahresfrist aus Gründen nicht gewahrt wurde, die in der Sphäre des Gerichts liegen. Dies gilt z.B. dann, wenn das Gericht über einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht entscheidet und dabei die Frist des § 234 Abs. 3 ZPO abläuft oder auch wenn das Gericht das Vertrauen erweckt hat, der eingelegte Rechtsbehelf sei ohnehin zulässig (vgl. a. BVerfG, Beschl. v. 15.4.2004 – 1 BvR 622/98). Dies liegt auf der Hand und ist überzeugend. Der BGH erwägt noch, ob dies auch gilt, wenn der Gegner die Versäumung der Frist arglistig herbeigeführt hat, lässt dies aber offen, da es im zu beurteilenden Fall nicht relevant war.

Hier lag der Grund für das Fristversäumnis jedoch alleine in der Sphäre des Schuldners, der diese Anschrift angegeben hatte. Damit bleibt es bei der Anwendbarkeit der Jahresfrist und der Schuldner schaut tatsächlich „in die Röhre“. Wer Angst hat, ein Mitbewohner würde ihm gegenüber Zustellungen unterschlagen, muss besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, etwa sich regelmäßig bei Gericht erkundigen oder – soweit möglich – einen zuverlässigen Bevollmächtigten, etwa einen Rechtsanwalt, bestellen. Man glaubt manchmal kaum, welche juristischen Gefahren im normalen Alltag entstehen können!