OLG Zweibrücken: Reisekosten bei digitalen Verhandlungen

Eine immer wichtiger werdende Frage zur Erstattung von Reisekosten bei digitalen Verhandlungen hat das OLG Zweibrücken mit Beschl. v. 9.10.2023 – 6 W 47/23 entschieden.

Der Kläger beauftragte einen Rechtsanwalt an seinem Wohnsitz für einen Prozess vor dem LG Frankenthal. Das LG bestimmte einen Termin und ließ den Parteien nach, an der mündlichen Verhandlung per Video teilzunehmen. Der Klägervertreter entschloss sich gleichwohl dazu, den Termin persönlich wahrzunehmen und erschien zur mündlichen Verhandlung. Nach gewonnenem Prozess meldete er die Reisekosten zur Erstattung an. Die Beklagte widersprach.

Das LG Frankenthal (Beschl. v. 8.9.2023 – 3 O 103/21) entschied, dass die Reisekosten festzusetzen sind. § 128a ZPO spricht davon, dass den Parteien und ihren Bevollmächtigten gestattet werden kann, sich an einem anderen Ort aufzuhalten. Hieraus kann eine Pflicht zur Teilnahme an einer Videokonferenz nicht abgeleitet werden. Es ist vielmehr die freie Entscheidung der Partei und/oder des Anwalts, an dem Termin gleichwohl in Präsenz teilzunehmen. Die Teilnahme an einem Termin kann vor diesem Hintergrund auch nicht als mutwillig angesehen werden. Vielmehr ist die Wahrnehmung eines Termins stets zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder -verteidigung notwendig. In diesem Sinne hatte auch bereits das LG Aachen  (Beschl. v. 20.7.2023 – 8 O 545/21) entschieden. Das OLG Zweibrücken teilt diese Auffassung und wies die sofortige Beschwerde ohne eigene Begründung, sondern nur durch die Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung des LG Frankenthal zurück.

Es kann daher festgehalten werden: Reisekosten zu einem Termin sind auch dann erstattungsfähig nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, wenn das Gericht die Teilnahme an einer digitalen Verhandlung gestattet hatte.

 

 

BGH: Wirksamkeit einer Zustellung sowie zur Terminsverlegung wegen Krankheit

Im Rahmen eines Verfahrens wegen des Widerrufes ihrer Zulassung als Rechtsanwältin hatte die Klägerin in der Berufungsinstanz vor dem BGH versucht, die Wirksamkeit einer Zustellung in Frage zu stellen. Bei der Beurteilung dieser Frage führt der BGH (Beschl. v. 22.8.2023 – AnwZ (Brfg) 14/23) einiges zur Wirksamkeit einer Zustellung sowie zum Inhalt der Zustellungsurkunde aus, was über das konkrete Verfahren hinaus von allgemeinem Interesse ist:

In der Zustellungsurkunde selbst war beurkundet worden, dass der später angefochtene Bescheid der Klägerin persönlich unter ihrer Privatanschrift übergeben wurde. Allerdings war auf dem der Klägerin übergebenen Umschlag das Datum der Zustellung nicht vermerkt worden. Letztlich ist dies aber unschädlich. Der BGH hat zwar erst vor Kurzem entschieden, dass bei einer Ersatzzustellung durch Einwurf gemäß § 180 S. 3 ZPO das Datum der Zustellung zwingend zu vermerken ist. Wenn es fehlt, gilt das Schriftstück erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt. Dies ergibt sich aus § 180 S. 3 ZPO. Demgegenüber macht jedoch ein Verstoß gegen § 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO die dort geregelte Zustellung gerade nicht unwirksam.

Das Fehlen des erwähnten Umstandes lässt darüber hinaus sogar die Beweiskraft der Zustellungsurkunde selbst unberührt! Die Klägerin musste daher hier gemäß § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis für die Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsache antreten und führen. Dies hatte die Klägerin versucht, der BGH hat jedoch alle insoweit aufgestellten Behauptungen zurückgewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vortrag, Postzustellungen seien bei ihr stets sehr unzuverlässig erfolgt, zur Widerlegung der Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht ausreicht, da sich aus dieser allgemeinen Behauptung keine Falschbeurkundung in einem konkreten Fall herleiten lassen kann. Auch mit der pauschalen Behauptung, ihr während des gesamten Tages anwesender Ehemann habe von der Zustellung nichts bemerkt, kann die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht widerlegt werden. Eine Zustellung nimmt nur wenige Augenblicke in Anspruch und muss nicht zwangsläufig von jedem in der Wohnung Anwesenden bemerkt werden, zumal dieser während der Zustellung z. B. das Badezimmer benutzt haben könnte. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Klägerin zum Zustellungszeitpunkt zwar krank, jedoch nicht bettlägerig war, mithin grundsätzlich dazu in der Lage war, eine Zustellung entgegenzunehmen.

Die Klägerin hatte darüber hinaus noch einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör gerügt, weil ihrem Terminsverlegungsantrag in der Vorinstanz nicht nachgekommen war. Insoweit weist der BGH darauf hin, dass bei einem Verlegungsantrag wegen Erkrankung die Gründe so anzugeben und durch Vorlage eines ärztlichen Attestes zu untermauern sind, dass das Gericht selbst beurteilen kann, ob eine Verhandlungsunfähigkeit vorliegt. Dies hatte die Klägerin hier versäumt.

Fazit: Wird bei der Zustellung durch Übergabe das Datum derselben nicht auf dem Umschlag vermerkt, lässt dies die Wirksamkeit der Zustellung unberührt.

BGH: Zulassung der Berufung durch das Berufungsgericht

Der BGH, Beschl. v. 12.9.2023 – VI ZB 72/22, MDR 2023, 1543 hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem der Beklagte vom AG erstinstanzlich zu einer Unterlassung verurteilt worden war. Er legte Berufung ein. Das LG setzte den Gebührenstreitwert für die zweite Instanz auf bis zu 300 Euro fest und verwarf die Berufung, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro nicht überstieg und das AG die Berufung auch nicht zugelassen hatte. Dagegen richtete sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.

Da das LG die Berufung verworfen hatte, ist die Rechtsbeschwerde grundsätzlich statthaft. Für ihre Zulässigkeit müssten die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 (hier Nr. 2 Alt. 2) ZPO vorliegen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vorliegend erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der Beklagte hatte hier beanstandet, dass das LG als Berufungsgericht keine eigene Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hatte.

Eine Zulassung der Berufung durch das Berufungsgericht selbst ist allerdings im Zivilprozess nicht vorgesehen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH muss das Berufungsgericht eine solche Prüfung gleichwohl dann nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen war, dass die Beschwer ohnehin 600 Euro übersteigt und deswegen seinerseits nicht geprüft hat, ob es die Berufung zulassen soll. Wurde eine solche Prüfung durch das Berufungsgericht versäumt, liegt eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu der Berufung vor. Dies stellt dann wiederum einen Grund für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO wegen einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes jedoch nur dann dar, wenn ein Grund für die Zulassung der Berufung vorliegt.

Einen solchen Grund hatte der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde allerdings nicht geltend gemacht, sondern lediglich die unterlassene Prüfung durch das Berufungsgericht beanstandet. Für die Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde reicht dies jedoch nicht. Damit kann auch dahingestellt bleiben, ob das erstinstanzliche Gericht von einer 600 Euro übersteigenden Beschwer ausgegangen war oder nicht. Der BGH hat die Rechtsbeschwerde des Beklagten daher verworfen.

Fazit: Wer rügen möchte, das Berufungsgericht habe nicht geprüft, ob es die Berufung zulassen solle, muss gleichzeitig einen Zulassungsgrund für die Berufung darlegen.

 

BGH: Zulässigkeit des erstmaligen Bestreitens in der Berufungsinstanz

Die Klägerin verlangt von einem Tierarzt Schadensersatz. Er hatte für sie eine Ankaufsuntersuchung für ein Pferd vorgenommen. Zuvor war sie bereits mit einer Klage gegen den Verkäufer des Pferdes gescheitert. Ein Sachverständiger hatte keine Mängel des Pferdes festgestellt. Die Klägerin berief sich nunmehr auf die von dem beklagten Tierarzt vorgenommene röntgenologische Untersuchung anlässlich des geplanten Ankaufs und machte geltend, sie hätte das Pferd nicht gekauft, wenn der Beklagte ihr die dabei ermittelten Ergebnisse in vollem Umfang mitgeteilt hätte. Das LG sah keine Mängel des Pferdes und wies die Klage ab.

Auf die Berufung der Klägerin gab das OLG der Klage überwiegend statt. Es sah eine Pflichtverletzung des Beklagten, da dieser die Ergebnisse seiner Untersuchung der Klägerin nicht vollständig und klar mitgeteilt hatte. Diese Pflichtverletzung seien ursächlich für den Kauf des Pferdes gewesen. Dies habe die Klägerin bereits vor dem LG behauptet und der Beklagte sei dem seinerzeit nicht entgegengetreten. Erst in der zweiten Instanz habe er die Kausalität seines Fehlers für die Ankaufsentscheidung der Klägerin in Frage gestellt. Deswegen sei er mit diesem Vortrag präkludiert. Eine Zulassung nach § 531 Abs. 2 ZPO käme nicht in Betracht.

Der BGH (Beschl. v. 27.9.2023 – VII ZR 113/22) folgt dem nicht. Nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist. Diese Vorschrift gilt nur unter der ungeschriebenen Voraussetzung, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert hat. Ein solcher Umstand liegt beispielsweise vor, wenn ein Gericht durch Prozessleitung bzw. Hinweise die Partei von weiterem Vortrag abgehalten und den Eindruck erweckt hat, der bisherige Vortrag sei ausreichend.

So lagen die Dinge hier. Für das LG war ersichtlich nur relevant, ob das Pferd mangelhaft war. Der neue Vortrag des Beklagten in der Berufungsinstanz zur bestrittenen Kausalität seiner Pflichtverletzung für die Ankaufsentscheidung der Klägerin betraf einen Umstand, den das LG für offensichtlich unerheblich gehalten hat. Damit war er zuzulassen.

Da das OLG somit die Präklusionsvorschrift des § 531 ZPO fehlerhaft angewendet hat, hat es den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Deswegen hat der BGH die Entscheidung des OLG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Fazit: Der BGH dehnt den Anwendungsbereich des § 531 ZPO immer weiter aus. Daraus folgt: Bei der Annahme einer Präklusion durch die Berufungsgerichte ist stets besondere Vorsicht geboten.

 

OLG Dresden: Beschwerde gegen eine Wertfestsetzung

Das OLG Dresden, Beschl. v. 7.8.2023 – 4 W 417/23 hatte über einen Fall zu entscheiden, bei dem es um die Zulässigkeit diverser Äußerungen ging und der bereits beim AG angefangen hatte. In der Berufungsinstanz hatte das LG die Berufung verworfen und eine Wertfestsetzung für die zweite Instanz vorgenommen (§§ 62, 63 GKG). Gegen den entsprechenden Beschluss legte der Beklagte selbst Beschwerde ein. Das LG half der Beschwerde nicht ab, sondern legte sie dem OLG vor (§ 66 Abs. 3 GKG).

Die Frage war, ob die Beschwerde hier überhaupt zulässig war. Oftmals gilt der Grundsatz, dass der Rechtszug in Nebenverfahren nicht weiter gehen kann als in der Hauptsache. Aber vorliegend gilt eine wichtige Ausnahme, woran das OLG Dresden erinnert hat: Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 2 GKG findet in einem solchen Fall tatsächlich die Beschwerde zum OLG statt, obwohl dieses in der Hauptsache gar nicht mit dem Fall befasst werden kann. Denkbar wäre in der Hauptsache vorliegend nämlich nur noch eine Entscheidung des BGH gewesen (§ 133 GVG), denn wenn eine Berufung verworfen wird, ist gegen den entsprechenden Beschluss stets die Rechtsbeschwerde gegeben (§§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 ff. ZPO). Diese Rechtsbeschwerde wurde allerdings vom Beklagten nicht eingelegt.

Gemäß § 66 Abs. 5 Satz 1 GKG; und §§ 129a Abs. 1, 78 Abs. 3 ZPO besteht für die Streitwertbeschwerde vom LG zum OLG sogar kein Anwaltszwang! Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang noch daran, dass gemäß § 66 Abs. 8 GKG die Verfahren gerichtsgebührenfrei sind, allerdings auch keine Kosten erstattet werden.

Der Beklagte hatte im konkreten Fall zudem eine sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des LG eingelegt. Diese Beschwerde wurde allerdings verworfen, da sie gemäß § 99 Abs. 1 ZPO unzulässig ist.

Es kann daher als vielleicht überraschendes Ergebnis festgehalten werden: Gegen einen Streitwertbeschluss des LG in der Berufungsinstanz ist die Streitwertbeschwerde zum OLG zulässig. Für diese Beschwerde besteht kein Anwaltszwang.

LAG Berlin-Brandenburg: Wertfestsetzung für die Anwaltsgebühren

Eine interessante Entscheidung zur Wertfestsetzung für die Anwaltsgebühren hat das LAG Berlin-Brandenburg (Beschl. v. 3.8.2023 – 26 Ta (Kost) 6061/23) getroffen. Bekanntlich haben die Gerichte – soweit nicht eine Zahlungsklage betroffen oder gesetzlich ein fester Wert bestimmt ist – einen Wertbeschluss zu treffen, spätestens am Ende der Instanz (§ 63 Abs. 1, Abs. 3 GKG). Dieser Wert gilt zunächst einmal nur für die Gerichtsgebühren und erfolgt in der Regel von Amts wegen.

Der Rechtsanwalt hat jedoch die Möglichkeit, für seine Gebühren gemäß § 33 RVG die Festsetzung des maßgeblichen Wertes zu verlangen. Dieser kann sich im Übrigen durchaus von dem für die Gerichtsgebühren maßgeblichen Wert unterscheiden. Darüber hinaus können die Werte für die beteiligten Anwälte auch unterschiedlich hoch sein, z.B. wenn eine Partei einen Rechtsanwalt erst nach einer Erledigungserklärung oder Rücknahme beauftragt hat.

Im konkreten Fall hatte das Arbeitsgericht den Wert für die Gebühren einheitlich auf 21.600 EUR festgesetzt. Dagegen hat sich die Staatskasse bezüglich der Wertfestsetzung für den Beklagtenvertreter beschwert und die Herabsetzung des Wertes beantragt. In diesem Sinne hatte sich der Vertreter der Staatskasse bereits vor der Entscheidung des Arbeitsgerichts geäußert. Der Beklagte und der Beklagtenvertreter hatten dem zugestimmt.

Gemäß § 33 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 RVG war die Staatskasse ausnahmsweise beschwerdebefugt, weil dem Beklagten Prozesskostenhilfe bewilligt worden war. In der Sache hatte die Beschwerde auch Erfolg. Das Arbeitsgericht hatte übersehen, dass der allgemeine Grundsatz des § 308 Abs. 1 ZPO (ne ultra petita) auch im Wertfestsetzungsverfahren gilt. Nachdem sich vorliegend sowohl der Beklagte selbst als auch der Beklagtenvertreter der Sichtweise der Staatskasse angeschlossen hatten, durfte das Arbeitsgericht keinen höheren Wert festsetzen.

Fazit: § 308 Abs. 1 ZPO gilt auch im Verfahren nach § 33 RVG. Die festsetzenden Werte können sich für die Parteivertreter durchaus unterscheiden.

BGH: Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten

Ein LKW der Beklagten war an einem LKW der Klägerin vorbeigefahren und hatte letzteren dabei am (Spezial)Aufbau gestreift. Die Klägerin holte ein Sachverständigengutachten über die Höhe des Schadens ein und verlangte u. a. diesen Betrag von der Beklagten. Die Klage war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Letztlich wurde die Auffassung vertreten, dass der Kläger einen abgrenzbaren Schaden nicht dargelegt hätte, weil der gerichtliche Sachverständige festgestellt habe, dass die Beschädigungen an dem LKW der Klägerin nur teilweise dem Unfall zugeordnet werden könnten. Demgegenüber hatte die Klägerin zuletzt geltend gemacht, dass es sich bei dem Aufbau ihres LKW um einen Spezialaufbau handele, bei dem einzelne Arbeitsschritte nicht abgegrenzt werden könnten, vielmehr müsse der Aufbau insgesamt ersetzt werden. Eine eventuelle Wertverbesserung sei durch einen Abzug-neu-für-alt zu kompensieren.

Der BGH (Beschl. v. 6.6.2023 – VI ZR 197/21, MDR 2023, 1046) hebt die Entscheidung des KG auf und verweist die Sache zurück. Ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör liegt vor. Das KG hätte sich mit dem erwähnten Vortrag der Klägerin befassen müssen. Entweder hätte das KG die Einwände der Klägerin dem Sachverständigen zur erneuten Begutachtung zuleiten müssen oder es hätte nach § 412 ZPO ein neues Gutachten einholen müssen. Jedenfalls müssen die Tatsacheninstanzen Einwände der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten ernst nehmen.

Auch ein Ausforschungsbeweis liegt hier nicht vor. Die Klägerin ist nicht gehalten, zur Substantiierung ihres Vortrags zunächst ein außergerichtliches Gutachten einzuholen. § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung.

Fazit: Wird ein erhebliches Beweisangebot, z. B. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht berücksichtigt, liegt regelmäßig ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Eine Partei ist regelmäßig nicht verpflichtet, ein eigenes Gutachten zur Frage der Höhe eines Schadens einzuholen, sondern kann einen Schaden behaupten und dafür ein Sachverständigengutachten als Beweis anbieten. Das Gericht wird einem solchen Beweisantritt regelmäßig nachzugehen haben.

 

BGH: Übertragung vom Einzelrichter auf die Kammer

Im Rahmen eines Mobiliarzwangsvollstreckungsverfahrens hatte das Amtsgericht eine Erinnerung des Gläubigers zurückgewiesen. Der Gläubiger legte gegen den entsprechenden Beschluss sofortige Beschwerde ein. Die Beschwerdekammer beschloss in der Besetzung mit drei Richtern, die Sache in die Kammer zu übernehmen, und wies später die sofortige Beschwerde zurück, ließ jedoch die Rechtsbeschwerde zu.

Anstatt die sicherlich vom LG erhoffte Entscheidung in der Sache zu treffen, hob der BGH (Beschl. v. 12.4.2023 – VII ZB 33/22) den Beschluss des LG auf und verwies die Sache zurück! Das Gericht war nämlich nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen §§ 576 Abs. 3, 547 Abs. 1 ZPO). In einem solchen Fall ist der ergangene Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 ZPO).

Hier hatte ein Richter am Amtsgericht über die Erinnerung entschieden. Demgemäß hätte gemäß § 568 S. 1 ZPO bei dem LG als Beschwerdegericht gleichfalls ein Einzelrichter entscheiden müssen. Die Kammer in vollständiger Besetzung mit drei Berufsrichtern darf nur entscheiden, wenn der Einzelrichter durch eine besondere Entscheidung die Sache der Kammer übertragen hat. An einem solchen Beschluss fehlte es hier. Da dieser Beschluss in die alleinige Entscheidungskompetenz des bei dem LG tätigen Einzelrichters fällt, ist es auch unerheblich, dass der originär zuständige Einzelrichter hier an der Kammerentscheidung mitgewirkt hat, zumal es sein kann, dass er überstimmt wurde.

Fazit: Es sollte allseits versucht werden, derartige Verfahrensfehler zu vermeiden, die weder für die Gerichte noch für die Parteien irgendwelche Vorteile bringen. Die Beschwerdekammern sollten sich vielmehr an den klaren Gesetzeswortlaut halten und nicht experimentieren, möglicherweise hat es sich aber auch nur um ein Versehen gehandelt.

KG: Unzulässiges Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit

Offenbar um einen Antrag auf Verlegung eines Termins zu untermauern bzw. das Verfahren zu verzögern, brachte ein Rechtsanwalt ein Ablehnungsgesuch gegen einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit für den Fall an, dass der Termin nicht verlegt werde. Der Antrag wurde als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss wurde sofortige Beschwerde eingelegt.

Dem KG (Beschl. v. 19.6.2023 – 10 W 100/23) stellte sich zunächst die Frage, ob die sofortige Beschwerde überhaupt zulässig ist. Gemäß § 46 Abs. 2 ZPO gibt es kein Rechtsmittel, wenn der Antrag für begründet erklärt wird; wird der Antrag hingegen für unbegründet erklärt, ist die sofortige Beschwerde zulässig. Hier war der Antrag jedoch als unzulässig verworfen worden. In einem solchen Fall greift § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO ein, da ein das Verfahren betreffendes Gesuch zurückgewiesen wurde.

Im Rahmen der Begründetheit der sofortigen Beschwerde stellt sich die weitere Frage, ob das Gesuch zulässig ist. Dies ist nicht der Fall. Derartige Anträge können nicht unter einer Bedingung gestellt werden, auch nicht unter einer sonst oft zulässigen innerprozessualen Bedingung. Im Hinblick auf § 47 ZPO bedarf es nämlich vollständiger Klarheit darüber, ob der Richter zur Vornahme von Handlungen ermächtigt ist oder nicht.

Fazit: Die Ablehnung von Gerichtspersonen ist grundsätzlich bedingungsfeindlich (BGH, Beschl. v. 25.9.2013 – AnwZ (Brfg) 51/12). Demgemäß ist auch ein Ablehnungsgesuch, das nach einem Hinweisbeschluss für den Fall gestellt wird, dass das Gericht an seinem Beschluss festhalten sollte, unzulässig (OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.4.2013 – 13 U 195/12).

 

KG, Beschl. v. 19.6.2023 – 10 W 100/23

BGH: Unwirksame Zustellung durch Niederlegung

Durch die sich in den letzten Jahren immer mehr in allen Lebensbereichen ausbreitende „enge Taktung“ und beständige Hektik gibt es in der Gesellschaft eine zunehmende Tendenz zur nachlässigen bzw. oberflächlichen Arbeit, die wiederum fast alle Lebensbereiche umfasst. Davon sind insbesondere Massengeschäfte betroffen. Ein solches Massengeschäft sind für die Deutsche Post AG die Zustellungen.

Sehr häufig wird bei Zustellungen der Empfänger nicht angetroffen. Dies ist nicht weiter tragisch, denn dann wird durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt (§ 180 ZPO). Der Zusteller muss allerdings in einem solchen Fall gemäß § 180 S. 3 ZPO auf den Umschlag, der das zuzustellenden Schriftstück enthält, den Tag der Zustellung angeben. Dies ist wichtig, denn nicht jeder leert seinen Briefkasten jeden Tag. In letzter Zeit musste in der Praxis leider beobachtet werden, dass die Zusteller diesen Vermerk schlichtweg nicht anbringen. Abhängig von der Anzahl der Zustellungen kann man durch eine derartige Verfahrensweise täglich sicherlich einige Minuten – vielleicht noch mehr – einsparen.

Mit genau so einem Fall hatte sich der BGH (Versäumnisurt. v. 15.3.2023 – VIII ZR 99/22, MDR 2023, 797) zu befassen. Der Zustellungsempfänger hatte ein Versäumnisurteil ohne den erforderlichen Vermerk am 8.10. in seinem Briefkasten gefunden und ging demgemäß davon aus, dass die Zustellung auch am 8.10. erfolgt war. Sie war allerdings bereits – wie es sich aus der Zustellungsurkunde bei der Gerichtsakte ergab – am 7.10. erfolgt. Der Einspruch kam deswegen einen Tag zu spät und wurde in den Tatsacheninstanzen verworfen.

Diese Entscheidung fand, wiewohl die maßgebliche Frage in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist, nicht die Zustimmung des BGH. Der BGH geht vielmehr davon aus, dass das Anbringen des Vermerkes mit dem Datum der Zustellung auf dem Umschlag für das zuzustellende Schriftstück eine zwingende Zustellungsvorschrift nach § 189 ZPO ist. Die Folge dieser Sichtweise ist klar: Das Schriftstück gilt erst als zugestellt, wenn es dem Empfänger tatsächlich zugegangen ist (§ 189 ZPO).

Der BGH folgt mit dieser Sichtweise einer Entscheidung des BFH und macht damit die Anrufung des gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte entbehrlich.

Man sollte sich daher merken: Bei der Verpflichtung des Zustellers gemäß § 180 Satz 3 ZPO, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, handelt es sich um eine zwingende Zustellungsvorschrift im Sinne des § 189 ZPO mit der Folge, dass das Schriftstück bei einer Verletzung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt.

Hinweis: Die Frage ist damit für die gerichtliche Praxis verbindlich geklärt. Wer als Zustellungsempfänger oder Rechtsanwalt eines solchen in eine derartige Situation gerät, tut gut daran, sofort ein Foto des Umschlages anzufertigen und den Umschlag selbst aufzuheben. Damit kann man das Versäumnis auch nachweisen, wenn das Original des Umschlages verloren geht.