Anwaltsblog 40/2024: Rechtsanwälte müssen die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen!

Ob es einen – zur Wiedereinsetzung führenden – unvermeidbaren Rechtsirrtum darstellt, wenn ein Rechtsanwalt die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ersatzeinreichung von Rechtsmittelschriften (§ 130d Satz 2 ZPO) nicht kennt, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 4. September 2024 – IV ZB 31/23):

 

Die Klägerin beansprucht über ihre nicht in Rede stehende mindestens hälftige Erbenstellung hinaus, Alleinerbin eines Nachlasses in Höhe von 5.000.000 € zu sein. Gegen das die Klage abweisende und der Widerklage stattgebende Urteil des Landgerichts – zugestellt am 3. Juli 2023 – hat ihre Prozessbevollmächtigte durch einen Originalschriftsatz Berufung eingelegt, der am 1. August 2023 in den Nachtbriefkasten des OLG eingeworfen wurde. Am 2. August 2023 wurde die Prozessbevollmächtigte durch das Berufungsgericht auf § 130d ZPO hingewiesen. Am 3. August 2023 übermittelte sie die Berufungsschrift über das beA ihres Ehemannes und teilte mit am 4. August 2023 eingegangenen Schriftsatz mit, sie habe „seit einigen Tagen bis einschließlich heute, den 04.08.2023, ca. 12 Uhr aufgrund von technischen Schwierigkeiten keinen Zugang“ zu ihrem beA-Postfach gehabt. Nachdem das Berufungsgericht angekündigt hatte, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Das OLG hat den Antrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Bis zum Ablauf der am 3. August 2023 endenden Frist ist keine ordnungsgemäße Berufungsschrift beim Berufungsgericht eingegangen. Die Einlegung der Berufung mittels des am 1. August 2023 eingegangenen Originalschriftsatzes ist unwirksam, weil die Klägerin bei Einreichung der Berufung in Schriftform nicht gemäß § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO zu den Voraussetzungen des § 130d Satz 2 ZPO vorgetragen und diese glaubhaft gemacht hat, obwohl ihr zu diesem Zeitpunkt die Hinderungsgründe für eine Einreichung auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg bekannt waren und ihr zugleich eine sofortige Glaubhaftmachung dieser Gründe möglich war. Zum Zeitpunkt der Einlegung der Berufung in Schriftform war der Ausfall ihres beA der Prozessbevollmächtigen seit einigen Tagen bekannt. In einem solchen Fall ist es ohne rechtliche Wirkung, wenn erst nachträglich die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Die Voraussetzungen der anerkannten Ausnahmen von dem Grundsatz, dass die Einlegung der Berufung ohne eine gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgte Glaubhaftmachung unwirksam ist, liegen hier nicht vor. Weder hat die Klägerin die Darlegung der Hinderungsgründe am Tag der Ersatzeinreichung nachgeholt, noch hatte ihre Prozessbevollmächtigte das technische Defizit erst kurz vor Fristablauf bemerkt, so dass ihr keine Zeit blieb, die Hinderungsgründe glaubhaft zu machen. Letzteres ergibt sich daraus, dass die Frist zur Einlegung der Berufung erst mit Ablauf des übernächsten Tages endete.

Auch die Übermittlung der Berufungsschrift am 3. August 2023 in der Form eines von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin einfach signierten Schriftsatzes über das beA ihres Ehemannes stellt keine wirksame Einlegung des Rechtsmittels dar. Die Einreichung eines elektronischen Dokuments bei Gericht ist nur dann formgerecht, wenn es entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist oder von der verantwortenden Person selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wird (§ 130a Abs. 3 und 4 ZPO). Entgegen der Auffassung der Klägerin stellt die Übersendung mit lediglich einer einfachen Signatur ihrer Prozessbevollmächtigen über das beA eines anderen Rechtsanwalts keine wirksame Einlegung des Rechtsmittels dar. Zwar ist das beA grundsätzlich ein sicherer Übermittlungsweg (§ 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Allerdings soll durch die Regelungen des § 130a Abs. 3 und 4 ZPO sichergestellt werden, dass die Identität des Signierenden von einem Dritten geprüft und bestätigt wurde. Bei der Übermittlung mittels des beA erfolgt die Überprüfung der Identität des Absenders bei der Prüfung des Zulassungsantrags durch die Rechtsanwaltskammern und der nachfolgenden Zuteilung eines beA an den Rechtsanwalt. Der sichere Übermittlungsweg über das beA gewährleistet die Identität des Absenders deshalb nur dann, wenn die verantwortende Person – also der Rechtsanwalt als Inhaber des beA (hier der Ehemann der Prozessbevollmächtigten der Klägerin) – den Versand selbst vornimmt. Diese Voraussetzungen waren hier aber nicht erfüllt. Vielmehr hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin dargelegt, sie habe das Versenden der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen, nachdem ihr Ehemann – unter Verstoß gegen § 23 Abs. 3 Satz 5 RAVPV – den Zugang zu seinem beA zur Verfügung gestellt hatte. In diesem Zusammenhang kommt es gerade nicht auf die Identität zwischen demjenigen, der das elektronische Dokument einfach signiert, und demjenigen, der die Absendung tatsächlich vornimmt, an.

Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht auch das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes verneint. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten; sie muss sich insoweit das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Ohne Erfolg macht sie geltend, der ihrer Prozessbevollmächtigten unterlaufene Fehler bei der Einreichung der Berufung durch einen Originalschriftsatz ohne gleichzeitige Glaubhaftmachung der Hinderungsgründe sei ein unvermeidbarer Rechtsirrtum gewesen. Der Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über gesetzliche Erfordernisse ist regelmäßig nicht unverschuldet. Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Verfahrensbevollmächtigte die volle von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn der Beteiligte, der dem Anwalt die Verfahrensführung überträgt, darf darauf vertrauen, dass er dieser als Fachmann gewachsen ist. Selbst wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor kurzem geänderte Gesetzeslage handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Ein Rechtsirrtum ist nur ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen, wenn er auch unter Anwendung der erforderlichen Sorgfaltsanforderungen nicht vermeidbar war. Hieran gemessen erweist sich der Rechtsirrtum der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht als unvermeidbar. Die Rechtsfrage, ob im Falle einer Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes nach § 130d Satz 2 ZPO die Glaubhaftmachung der Hinderungsgründe im Regelfall gleichzeitig zu erfolgen hat, ist höchstrichterlich geklärt, so dass sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hieran hätte orientieren müssen. Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hinsichtlich der unwirksamen Übermittlung der Berufung als elektronisches Dokument über das beA ihres Ehemannes ein unvermeidbarer Rechtsirrtum der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorliegt. Auch insoweit war die Rechtslage geraume Zeit vor der hier in Rede stehenden Nutzung eines fremden beA mit einfacher Signatur am 3. August 2023 geklärt; an dieser Rechtsprechung hätte sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin orientieren müssen.

 

Fazit: Von einem Rechtsanwalt kann erwartet werden, dass er (selbst) die Voraussetzungen für die wirksame Einlegung eines Rechtsmittels kennt (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2023 – VIII ZB 41/22 –, MDR 2023, 383).

Online-Dossier: Digitalisierung im Prozessrecht – Videokonferenztechnik, Elektronischer Rechtsverkehr, Online-Verfahren

Neue Gesetze im deutschen Prozessrecht – das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeiten, aber auch das Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz – befördern den modernen und überfälligen Digitalisierungsprozess in den Gerichten. Einen noch größeren Schritt in die Zukunft unternimmt das BMJ mit der Entwicklung und Erprobung eines vereinfachten, digital unterstützten Verfahren für Zahlungsklagen bis zu 5.000 € an bestimmten Amtsgerichten. Alle Neuregelungen sorgen einerseits für zeitgemäße Verfahrensweisen; andererseits stellen sich neue Fragen bzw. bleiben Probleme ungeklärt. Die Gerichte stehen vor erheblichen Veränderungen und die Anwaltschaft vor neuen Herausforderungen. In unserem stetig anwachsenden Online-Dossier finden Sie zahlreiche Aufsätze und wertvolle Kommentierungen zu den neuen Vorschriften sowie praxisnahe Hilfestellungen und bleiben bei allen Entwicklungen auf den neuesten Stand.

 

1. Aufsätze

  • Greger, Neue Regeln für elektronische Schriftsätze – Wie persönliche und rechtsgeschäftliche Erklärungen zu übermitteln sind, MDR 2024, 1013
  • Bacher, Gerichtsverhandlung per Videokonferenz — Neuregelungen durch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik, MDR 2024, 945
  • Beck, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit, MDR 2024, R161
  • Odrig, Der zivilprozessuale Öffentlichkeitsgrundsatz im Zeitalter digitaler Kommunikation, MDR 2024, 877
  • Dötsch, Das digitale Präsidium, MDR 2024, 11
  • Bayreuther, Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz (§ 46h ArbGG, § 130e ZPO): Renaissance der Schriftsatzkündigung?, DB 2024, 1820
  • Beck, Die virtuelle Verhandlung, GVRZ 2023, 6

 

2. Literatur

 

Zöller, Zivilprozessordnung ZPO
Kommentar

— Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und in den Fachgerichtsbarkeiten —

Komplettaustausch der Kommentierung:

Zu den anderen zahlreichen geänderten Normen finden Sie den neuen Gesetzestext unter dem bisherigen Normtext und Annotationen an Ort und Stelle in den Kommentierungen selbst:

 

— Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz —

Komplettaustausch der Kommentierung:

Annotationen:

 

Hinzu kommt eine Reihe von regelmäßigen Annotationen, vor allem zu wichtiger neuer Rechtsprechung, u.a. auch zum elektronischen Rechtsverkehr:

 

3. Aktuelle Rechtsprechung

  • BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23: Videoverhandlung: Verwendung nur einer Kamera ohne Zoomfunktion, MDR 2024, 320,
  • BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22: Videokonferenz: Erfordernis der Sichtbarkeit aller Richter, MDR 2023, 1131,
  • BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22: Videokonferenz: Erfordernis der Sichtbarkeit aller Richter, MDR 2023, 1570 (Greger),

 

4. Blog-Beiträge

Anwaltsblog 39/2024: Rechtsanwälte müssen immer den sichersten Weg wählen!

Welche Verpflichtungen den Rechtsanwalt treffen, wenn unklar ist, ob die Zustimmung zum Ruhen eines Verfahrens nach sechs Monaten die Hemmungswirkung einer Klage beendet (§ 204 Abs. 2 BGB), hatte der IX. Zivilsenat zu entscheiden (BGH, Urteil vom 19. September 2024 – IX ZR 130/23):

Der Kläger nimmt die Beklagten als seine früheren Rechtsanwälte auf Schadensersatz in Anspruch, weil sie nicht verhindert hätten, dass der ihm gegen seine frühere Ehefrau zustehende Zugewinnausgleichsanspruch verjährt sei. Die Ehefrau des Klägers nahm diesen vor dem Familiengericht Mannheim auf Zugewinn in Anspruch. Der Kläger erhob darauf ebenfalls eine auf Ausgleich des Zugewinns gerichtete Klage vor dem Familiengericht Delmenhorst. Dieses schlug den Parteien das Ruhen des Verfahrens vor; der Ausgang des Verfahrens in Mannheim solle abgewartet werden. Die Beklagten beantragten das Ruhen des Verfahrens; die Ehefrau des Klägers stimmte zu. Nach Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung des Klägers in dem in Mannheim betriebenen Verfahren riefen die Beklagten das Verfahren in Delmenhorst wieder auf. Das Familiengericht Delmenhorst wies die Klage ab, weil im Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens bereits Verjährung eingetreten gewesen sei. Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagten hätten erkennen müssen, dass das Ruhen des Verfahrens die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zur Folge haben würde. Das OLG hat seine Klage abgewiesen.

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Entgegen der Annahme des OLG haben die Beklagten die ihnen aufgrund des mit dem Kläger geschlossenen Anwaltsvertrags obliegende Pflicht verletzt, den sichersten Weg zu wählen, die Rechte des Klägers zu sichern und geltend zu machen. Denn sie haben ihn weder über die mit einem Ruhen des Verfahrens verbundenen Risiken für ein Ende der Hemmung der Verjährung aufgeklärt noch Maßnahmen aufgezeigt oder ergriffen, um erhebliche Unsicherheiten über die drohende Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zu vermeiden. Die Beklagten haben das ruhend gestellte Verfahren über den Zugewinnausgleichsanspruch des Klägers nicht vor dem Ablauf der in § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB geregelten Frist von sechs Monaten wieder aufgerufen und auch nicht mit der Ehefrau des Klägers eine ausdrückliche Vereinbarung über die weitere Hemmung der Verjährung getroffen.

Der Rechtsanwalt muss seinem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist. Wenn mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, hat er diejenige zu treffen, welche die sicherste und gefahrloseste ist, und, wenn mehrere Wege möglich sind, um den erstrebten Erfolg zu erreichen, den zu wählen, auf dem dieser am sichersten erreichbar ist. Gibt die rechtliche Beurteilung zu begründeten Zweifeln Anlass, so muss der Rechtsanwalt auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle der seinem Auftraggeber ungünstigeren Beurteilung der Rechtslage anschließt.

Die Beklagten waren beauftragt, den Zugewinnausgleichsanspruch des Klägers geltend zu machen. Sie waren dabei auch verpflichtet, vermeidbare Nachteile für den Kläger als ihren Mandanten zu verhindern. Sie hatten deshalb dessen Anspruch vor der Verjährung zu sichern. Diese Pflicht haben sie schuldhaft verletzt. Sie haben keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um eine drohende Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers rechtssicher auszuschließen. Die maßgebliche dreijährige Verjährungsfrist des § 1378 Abs. 4 Satz 1 BGB a.F. begann am 22. Juli 2004 mit der Kenntnis des Klägers von der Rechtskraft des Scheidungsurteils zu laufen. Durch die am 31. Mai 2007 erhobene Klage wurde die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt. Die Hemmung endete gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Gerät das Verfahren in Stillstand, weil es die Parteien nicht betreiben, so tritt gemäß § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB die letzte Verfahrenshandlung an die Stelle der Beendigung des Verfahrens. Mit Beschluss vom 14. Januar 2007 wurde das Ruhen des Verfahrens vor dem Familiengericht Delmenhorst angeordnet; das Verfahren geriet hierdurch in Stillstand (§ 204 Abs. 2 Satz 1 BGB). Dann mussten die Beklagten Rechnung stellen, dass im Regelfall die Hemmung der Verjährung des Anspruchs des Klägers sechs Monate später mit Ablauf des 14. Juli 2007 endete. Die zwischenzeitlich gehemmte Verjährung wäre dann wieder in Lauf gesetzt worden. Unter diesen Voraussetzungen wäre die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers bereits eingetreten gewesen, als die Beklagten im November 2007 das Verfahren wieder aufriefen. Denn zu diesem Zeitpunkt wären die von der dreijährigen Verjährungsfrist vor Eintritt der Hemmung noch verbliebenen 52 Tage abgelaufen gewesen. Den Beklagten musste einerseits bekannt sein, dass nach § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB die Hemmung der Verjährung sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens endete. Andererseits mussten sie wissen, dass gemäß § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB die letzte Verfahrenshandlung an die Stelle der Beendigung des Verfahrens tritt, wenn das Verfahren in Stillstand gerät, weil die Parteien es nicht betreiben. Die Beklagten durften nicht außer Acht lassen, dass die Rechtsprechung bereits im Jahr 2007 das Ruhen des Verfahrens als Stillstand iSd. § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. einordnete und auch in den zur Zeit der rechtlichen Beratung gängigen Kommentaren auf dieses Problem hingewiesen wurde.

Der Annahme einer Pflichtverletzung der Beklagten steht nicht entgegen, dass möglicherweise ein triftiger Grund iSd. § 204 Abs. 2 BGB für das Untätigbleiben der Beklagten zu 2 bestand. Denn nach dem gerade für Verjährungsfragen maßgeblichen „Gebot des sichersten Weges“ hatten die Beklagten im Hinblick auf eine etwaige ungünstigere Beurteilung der Rechtslage durch das mit der Sache befasste Gericht den Weg aufzuzeigen, der eine Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers jedenfalls sicher verhindert hätte. Demgemäß ist die Frage, ob im Streitfall ein triftiger Grund bestand, das Verfahren nicht zu betreiben, von drei Gerichten verneint, von dem Berufungsgericht jedoch bejaht worden. Bereits die unterschiedliche Beurteilung dieser Frage durch die Gerichte deutet darauf hin, dass die Beklagten insoweit nicht den sichersten Weg eingeschlagen haben. Die Beklagten hatten den Kläger über die Maßnahmen aufzuklären, die den Eintritt der Verjährung des Anspruchs zu verhindern vermochten. Auch hätten sie dem Kläger aufzeigen müssen, dass trotz der Anregung des Gerichts von einer entsprechenden Antragstellung abgesehen werden konnte. Sie hätte den Kläger auf die mit der Durchführung des Verfahrens verbundenen Risiken, insbesondere die dadurch anfallenden Kosten hinweisen müssen. Ferner hätten die Beklagten dem Kläger auch vorschlagen können, mit der Ehefrau des Klägers eine ausdrückliche Vereinbarung über die weitere Hemmung der Verjährung zu treffen. Soweit die Ehefrau des Klägers zu einer Vereinbarung nicht bereit gewesen wäre, hätten die Beklagten dem Kläger die dann zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zu verhindern, darstellen müssen.

 

Fazit: Der Rechtsanwalt hat, wenn mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, diejenige zu treffen, welche die sicherste und gefahrloseste ist, und, wenn mehrere Wege möglich sind, um den erstrebten Erfolg zu erreichen, den zu wählen, auf dem dieser am sichersten erreichbar ist. Gibt die rechtliche Beurteilung zu ernstlich begründeten Zweifeln Anlass, so muss er auch in Betracht ziehen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle der seinem Auftraggeber ungünstigeren Beurteilung der Rechtslage anschließt (BGH Urt. v. 23.9.2004 – IX ZR 137/03, MDR 2005, 435).

Anwaltsblog 38/2024: Anscheinsbeweisfür beratungsgerechtes Verhalten des rechtsschutzversicherten Mandanten bei objektiver Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung

Welche Auswirkungen die Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers seines Mandanten auf den Regressanspruch gegen den Rechtsanwalt wegen Führung eines aussichtlosen Prozesses hat, hat der BGH entschieden (BGH, Urteil vom 16. Mai 2024 – IX ZR 38/23):

 

Die Klägerin, ein Rechtsschutzversicherer, nimmt den beklagten Rechtsanwalt aus übergegangenem Recht von neun ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden sein, dass der Beklagte für die Versicherungsnehmer von vornherein aussichtslose Rechtsstreitigkeiten geführt habe. Diese hatten sich über eine Treuhandkommanditistin, eine Steuerberatungsgesellschaft, an einer Fondsgesellschaft beteiligt und daraus Verluste erlitten. Die Klagen gegen den Berufshaftpflichtversicherer der Steuerberatungsgesellschaft hatten keinen Erfolg. Der Regressprozess gegen den beklagten Rechtsanwalt hatte vor dem OLG Erfolg. Dieser habe die Anleger nicht über die erheblichen Prozessrisiken informiert. Hätte der Rechtsanwalt die Anleger richtig beraten, hätten sie von der Rechtsverfolgung Abstand genommen. Da die Klagen objektiv aussichtslos gewesen seien, spreche ein Anscheinsbeweis dafür, dass sich die Anleger bei korrekter Beratung entsprechend verhalten hätten.

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils. Rechtsfehlerhaft ist die Feststellung des Berufungsgerichts, die Versicherungsnehmer der Klägerin hätten sich im Falle zutreffender Rechtsberatung gegen eine (weitere) Rechtsverfolgung entschieden. Die Frage, wie sich der Mandant bei vertragsgerechter Belehrung durch den rechtlichen Berater verhalten hätte, zählt zur haftungsausfüllenden Kausalität, die der Anspruchsteller nach dem Maßstab des § 287 ZPO zu beweisen hat. Zu Gunsten des Anspruchstellers ist jedoch zu vermuten, der Mandant wäre bei pflichtgemäßer Beratung den Hinweisen des Rechtsanwalts gefolgt, sofern im Falle sachgerechter Aufklärung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Eine solche Vermutung kommt hingegen nicht in Betracht, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären. Der Anscheinsbeweis setzt voraus, dass ein Sachverhalt feststeht, auf dessen Grundlage die Schlussfolgerung gerechtfertigt ist, dass der Mandant bei zutreffender Beratung von einer Rechtsverfolgung abgesehen hätte. Ausgangspunkt ist die allgemeine Lebenserfahrung. Dies kann angesichts der Interessen eines rechtsschutzversicherten Mandanten, mit Hilfe seiner Rechtsschutzversicherung von Kostenrisiken befreit zu werden, erst dann bejaht werden, wenn das Ergebnis der rechtlichen Beurteilung in jeder Hinsicht unzweifelhaft ist. Die Annahme der Aussichtslosigkeit unterliegt hohen Anforderungen. Die Rechtsverfolgung muss aus der maßgeblichen Sicht ex ante aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv aussichtslos gewesen sein. Dies kommt etwa in Betracht, wenn eine streitentscheidende Rechtsfrage höchstrichterlich abschließend geklärt ist. Fehlt es an einer höchstrichterlichen Klärung, muss sich der Sachverhalt zudem derart unter Rechtsvorschriften subsumieren lassen, dass das Ergebnis einer Auslegung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zweifelhaft sein kann.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verkannt. Die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei einwandfrei erteilter Deckungszusage sind nicht aufgrund einer höchstrichterlich geklärten Rechtslage gegeben. Die Frage des Deckungsanspruchs gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer der Steuerberatungsgesellschaft war höchstrichterlich nicht abschließend geklärt.

 

Fazit: Der Rechtsanwalt ist zur Beratung des Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung verpflichtet, unabhängig davon, ob der Mandant rechtsschutzversichert ist oder nicht. Die Pflicht des Rechtsanwalts, den Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung aufzuklären, endet nicht mit deren Einleitung; verändert sich die rechtliche oder tatsächliche Ausgangslage im Laufe des Verfahrens, muss der Rechtsanwalt seinen Mandanten über eine damit verbundene Verschlechterung der Erfolgsaussichten aufklären (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – MDR 2021, 1357).

 

Anwaltsblog 37/2024: Anwaltliche Fristenkontrolle muss auch bei Nutzung elektronischer Akte gesichert sein!

Das OLG Dresden hatte zu entscheiden, ob ein Rechtsanwalt bei Erstellung eines fristgebundenen Schriftsatzes auch dann die durch seine Kanzleikraft zuvor vorgenommene Fristberechnung überprüfen muss, wenn er im Home-Office tätig ist und ihm die papiergebundene Handakte dort nicht vorliegt (OLG Dresden, Beschluss vom 12. August 2024 – 4 U 862/24):

Die Berufungsschrift gegen ein am 22.5.2024 zugestelltes Urteil ist am Montag, dem 24.6.2024, die Berufungsbegründung am Mittwoch, dem 24.7.2024 auf dem Server des OLG eingegangen. Nach Hinweis des Gerichts hat der Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Kanzleimitarbeiterin seiner Prozessbevollmächtigten sowie eines Auszugs aus deren kanzleiinternen Fristenkalender behauptet er, die fehlerhafte Eintragung der Berufungsbegründungsfrist beruhe auf einem Versehen der seit 2013 ohne Beanstandungen mit der Führung des Fristenkalenders betrauten Kanzleikraft. Die Prozessbevollmächtigte habe zusätzlich noch eine Einzelanweisung erteilt, die Berufungsbegründungsfrist einzutragen, nachdem sich die Kanzleikraft wegen einer fehlenden Rechtsmittelbelehrung unter dem erstinstanzlichen Urteil hilfesuchend an sie gewandt habe. Die Berufungsbegründung habe die Prozessbevollmächtigte sodann vor Antritt ihres vom 18.7. – 23.7.2024 dauernden Urlaubs entworfen und die Kanzleikraft mit deren Ausfertigung beauftragt. Den Fehler in der Fristenberechnung habe sie nicht bemerkt, da sie „mit elektronischen Dokumenten“ arbeite, das Empfangsbekenntnis zu dem in Papierform übersandten Urteil des Landgerichts sich jedoch „in der Papierakte“ befunden habe. Die Berufungsbegründung sei sodann nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub am 24.7.2024 versandt worden.

Der Wiedereinsetzungsantrag wird zurückgewiesen und die Berufung verworfen. Das Fristversäumnis beruht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das sich der Kläger gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Allerdings ist dem Kläger nicht das Versehen der Kanzleimitarbeiterin zuzurechnen, die bei der Eintragung der Berufungsbegründungsfrist in den Fristenkalender übersehen hat, dass diese ausgehend vom Datum der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils bereits am 22.7.2024 ablief. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen auszuschließen. Ein bestimmtes Verfahren ist insoweit weder vorgeschrieben noch allgemein üblich. Auf welche Weise der Rechtsanwalt sicherstellt, dass die Eintragung im Fristenkalender und die Wiedervorlage der Handakten rechtzeitig erfolgen, steht ihm daher grundsätzlich frei. Hiervon ausgehend darf der Rechtsanwalt die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen, sofern er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellt, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Der anwaltlichen Versicherung der Prozessbevollmächtigten des Klägers ist insofern die glaubhafte Angabe zu entnehmen, dass die Kanzleikraft seit 2013 zuverlässig erprobt wurde und beanstandungsfrei die Führung des Fristenkalenders übernommen hat. Zwar lässt sich dem Wiedereinsetzungsantrag nicht entnehmen, dass es nach der Übernahme des Fristenkalenders durch die Kanzleikraft im Jahr 2013 noch die gebotenen stichprobenartigen Kontrollen gegeben hätte; auch ist nicht dargelegt, welche organisatorischen Vorgaben es für die Führung des Fristenkalenders und die Streichung von Fristen gegeben hat. Der mit dem Wiedereinsetzungsantrag vorgelegte Auszug aus dem Fristenkalender deutet insofern auf organisatorische Mängel hin, als die im Streitfall relevante Berufungsbegründungsfrist dort in der Rubrik „Vorfristen“ eingetragen ist. Nach dem zu unterstellenden Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag hat sich dies aber jedenfalls nicht ausgewirkt. Hiernach hat die Kanzleikraft nämlich bereits nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils vom 22.5.2024 eine Einzelanweisung der Prozessbevollmächtigten erbeten, nachdem sie dem Urteil keine Rechtsmittelbelehrung entnehmen konnte. Die Prozessbevollmächtigte habe sie sodann angewiesen, auch die Berufungsbegründungsfrist einzutragen, weil sie insofern von einem Fehler des Landgerichts ausgegangen sei. Diese Annahme war zwar rechtsirrig, weil § 232 S. 2 ZPO in Anwaltsprozessen keine Rechtsmittelbelehrung fordert, durch die auf dieser Grundlage erfolgte Einzelanweisung wäre aber bei korrekter Umsetzung die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gewährleistet worden. Dem Prozessbevollmächtigten einer Partei ist ein Verschulden an der Fristversäumung aber dann nicht anzulasten, wenn zwar die allgemeinen organisatorischen Vorkehrungen oder Anweisungen für eine Fristwahrung unzureichend sind, er aber einer Kanzleikraft, die sich bislang als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte.

Dem Kläger ist jedoch das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten anzulasten, die von der Kanzleikraft erfolgte Fristberechnung nicht eigenständig überprüft zu haben, als sie vor ihrem am 18.7.2024 beginnenden Urlaub die Berufungsbegründung im Entwurf erstellte. Auch wenn der Rechtsanwalt (nach Eingang des Urteils in der Kanzlei) seine Angestellte im Wege einer Einzelanweisung zur Eintragung der korrekten Frist angehalten hat, befreit ihn dies nicht davon, im Rahmen der Vorbereitung einer Prozesshandlung (wie der Einlegung der Berufung) die Richtigkeit der Notierung der Berufungsbegründungsfrist eigenverantwortlich zu prüfen. Der Rechtsanwalt, der im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung mit einer Sache befasst wird, hat dies zum Anlass zu nehmen, die Fristvermerke in der Handakte zu überprüfen. Auch bei Vorlage aufgrund einer Vorfrist ist die Richtigkeit der eingetragenen Frist zu überprüfen. Diese Aufgabe ist von der Fristenberechnung und Fristenkontrolle zu unterscheiden, die lediglich der rechtzeitigen Vorlage der Akten zum Zweck ihrer Bearbeitung durch den Rechtsanwalt dienen. Nur insoweit kann sich der Rechtsanwalt von der routinemäßigen Fristenüberwachung entlasten. Deshalb ist er im Rahmen seiner Vorbereitung einer Prozesshandlung nicht davon befreit, die Einhaltung der maßgeblichen Fristen nochmals zu überprüfen. Zwar muss die Prozesshandlung nicht in einem Zuge und zeitnah mit dem Ablauf einer für sie geltenden Frist vorbereitet werden. Das ändert aber nichts an der Eigenverantwortung des Rechtsanwalts für die Richtigkeit und die Einhaltung der etwa von ihm schon zu einem früheren Zeitpunkt berechneten Frist.

Es hätte daher der Prozessbevollmächtigten oblegen, sich anhand der Handakte, in der das Datum der Zustellung des angefochtenen Urteils vermerkt war, eigenständig die Gewissheit zu verschaffen, dass die Berufungsbegründungsfrist ausgehend hiervon korrekt berechnet war. Hätte sie dies getan, wäre ihr zwanglos aufgefallen, dass die Kanzleikraft vorliegend fehlerhaft die Begründungsfrist ausgehend vom Ende der Berufungsfrist berechnet hatte, die freilich auf einen Montag fiel und daher zu einer entsprechenden Verlängerung nur dieser Frist geführt hatte (§§ 222 ZPO, 193 BGB). Dieses Versäumnis entfällt auch nicht deshalb, weil der Prozessbevollmächtigten ausweislich des Wiedereinsetzungsantrags nicht die in Papier geführte Handakte vorgelegt wurde, sondern sie die Berufungsbegründung lediglich ausgehend von „elektronischen Dokumenten“ gefertigt hat. Die anwaltliche Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn die Handakte zur Bearbeitung nicht zugleich vorgelegt worden ist, so dass in diesen Fällen die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen ist. Entscheidend für eine eigenständige Fristenprüfung durch den Rechtsanwalt ist allein, ob die Bearbeitung mit dem Ziel einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, d.h. hier der Berufungsbegründung erfolgt. Diese Pflicht besteht auch dann, wenn der Rechtsanwalt die fristgebundene Verfahrenshandlung im Wege der Tele,- oder Fernarbeit erstellt. Er hat in diesen Fällen dafür Sorge zu tragen, dass ihm dabei entweder die Papierhandakte vorliegt oder diese in eine elektronische Form übertragen wird, auf die er auch von auswärts zugreifen kann. Die an den Rechtsanwalt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen werden durch die mit dem mobilen Arbeiten verbundene Ortsunabhängigkeit indes in keiner Weise eingeschränkt.

 

Fazit: Der Rechtsanwalt hat den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten zur Bearbeitung – auch auf Vorfrist – vorgelegt werden. In diesem Zusammenhang darf er sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der in der Handakte zu notierenden Rechtsmittelbegründungsfristen und der auf deren Eintragung im Fristenkalender hinweisenden Erledigungsvermerke beschränken (BGH Beschl. v. 22.11.2022 – VIII ZB 2/22, MDR 2023, 453).

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die ersatzfähigen Behandlungskosten eines gesetzlich versicherten Geschädigten.

Darlegungslast für Behandlungskosten
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 – VI ZR 252/23

Der VI. Zivilsenat befasst sich erneut mit einer Schnittstelle zwischen Zivil- und Sozialrecht.

Die klagende Krankenkasse verlangt vom beklagten Haftpflichtversicherer Erstattung von Behandlungskosten eines Versicherten, der bei einem Motorradunfall schwer verletzt worden ist. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach und die Schwere der erlittenen Verletzungen stehen außer Streit. Die Klägerin hat für die Behandlung in einem Universitätsklinikum rund 58.000 Euro bezahlt und für die Behandlung in einem Rehabilitationszentrum rund 36.000 Euro. Die Beklagte hat den Erstattungsanspruch in Höhe von rund 49.000 Euro anerkannt. Eine weitere Kostenerstattung lehnt sie ab, weil die von der Klägerin vorgelegten Abrechnungsdaten und Berichte der Krankenhäuser nach ihrer Auffassung nicht die Prüfung ermöglichen, ob die aufgewendeten Kosten erforderlich waren.

Das LG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung des nicht anerkannten Restbetrags von rund 45.000 Euro verurteilt. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG sind die geltend gemachten Kosten nicht schon deshalb ersatzfähig, weil die Klägerin nach sozialrechtlichen Vorschriften zur Zahlung der abgerechneten Beträge an die Krankenhäuser verpflichtet ist. Die Klägerin kann lediglich Ersatzansprüche des Geschädigten geltend machen, die gemäß § 116 Abs. 1 SGB X auf sie übergegangen sind. Der Übergang des Anspruchs auf die Klägerin ändert nichts daran, dass nur derjenige Schaden zu ersetzen ist, der dem Geschädigten entstanden ist.

Entgegen der Auffassung des OLG ist die Regelung in § 118 SGB X, wonach eine unanfechtbare Entscheidung eines Sozial- oder Verwaltungsgerichts oder eines Sozialversicherungsträgers über Grund oder Höhe einer dem Leistungsträger obliegenden Verpflichtung für die Zivilgerichte grundsätzlich bindend ist, in diesem Zusammenhang weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Für die Höhe des Klageanspruchs ist nicht maßgeblich, in welchem Umfang die Klägerin gegenüber ihrem Versicherten zur Leistung verpflichtet ist, sondern nur, welche Behandlungskosten für den Geschädigten erforderlich waren.

Der Übergang des Ersatzanspruchs auf den Sozialversicherungsträger darf auch nicht zu einer Änderung der Darlegungs- und Beweislast zu Lasten des Schädigers führen. Die Klägerin muss die Erforderlichkeit der geltend gemachten Behandlungskosten deshalb in gleicher Weise darlegen und unter Beweis stellen, wie dies der Geschädigte selbst tun müsste.

Deshalb sind die von der Klägerin vorgelegten Abrechnungsunterlagen der Krankenhäuser (so genannte Grouper-Ausdrucke) zur Darlegung der Schadenshöhe nicht ausreichend. Diese Unterlagen ermöglichen allenfalls eine beschränkte Überprüfung darauf, ob die abgerechneten Kosten erforderlich waren. Die sozialrechtlichen Vorschriften, nach denen die Vorlage solcher Unterlagen eine Zahlungspflicht der Krankenkassen begründet, entfalten im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem keine Wirkung. Wegen ihres beschränkten Inhalts können sie allenfalls einen Anhaltspunkt für die Erforderlichkeit der Kosten begründen, nicht aber ein starkes Indiz oder gar eine Vermutung.

Der Grundsatz, wonach der Schädiger das so genannte Werkstattrisiko trägt, ist in der Konstellation des Streitfalls nicht anwendbar. Er greift nicht, wenn der Geschädigte seinen Ersatzanspruch an die Werkstatt abtritt. Für den gesetzlichen Anspruchsübergang nach § 116 SGB X gilt nichts anderes.

Praxistipp: Nach § 294a Abs. 1 Satz 1 SGB V sind Krankenhäuser verpflichtet, der Krankenkasse die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher, mitzuteilen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Krankheit die Folge eines Unfalls ist.

Anwaltsblog 36/2024: Keine Erweiterung des gesetzlichen Rechtsmittelzuges durch Meistbegünstigungsgrundsatz!

Welche Auswirkungen es auf den Zugang zur Revisionsinstanz hat, wenn Land- wie Oberlandesgericht eine Familiensache als allgemeine Zivilsache behandelt haben, hatte der XII. Zivilsenat zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2024 – XII ZR 63/23):

 

Die Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des Beklagten, den sie nach Veräußerung eines im Miteigentum beider stehenden Grundstücks auf Rückzahlung eines von ihr behaupteten Darlehens in Höhe von 60.000 € in Anspruch nimmt. Während ihrer 2014 geschiedenen Ehe erwarben die Ehegatten zu hälftigem Miteigentum ein Grundstück, das in erster Linie dem Landwirtschaftsbetrieb des Beklagten diente. Zuletzt lasteten darauf zur Absicherung verschiedener Bankkredite, für die auch die Klägerin haftete, Grundschulden von insgesamt 210.000 €. Nach ihrer Trennung im Jahr 2009 verkauften die Parteien 2010 das Grundstück für 120.000 €. Mit dem Verkaufserlös wurden die gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten vollständig abgelöst. Die Klägerin wurde aus der Mithaftung und aus einer übernommenen Bürgschaft entlassen. Sie behauptet, mit dem Verkauf zur Entschuldung einverstanden gewesen zu sein, aber darauf bestanden zu haben, „ihren“ Erlösanteil von 60.000 € zu einem späteren Zeitpunkt vom Beklagten ausgezahlt zu erhalten. Einstweilen sollte der Betrag als Darlehen gewährt werden. Nachdem sie vom Finanzamt aufgefordert wurde, Steuern auf ihren Anteil am Gewinn aus dem Grundstücksverkauf zu zahlen, kündigte sie den Darlehensvertrag. Das Landgericht hat den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 60.000 € nebst Zinsen zu zahlen. Das OLG hat die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen.

Der BGH verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten als nicht statthaft. Die Vorinstanzen haben die Sache zu Unrecht als allgemeine Zivilsache und nicht als Familiensache behandelt. In Familiensachen ist ein Rechtsmittel gegen die zweitinstanzliche Entscheidung nur gegeben, wenn es – was hier nicht der Fall ist – in dieser Entscheidung zugelassen worden ist (§ 70 Abs. 1 FamFG). Eine Nichtzulassungsbeschwerde sieht das Gesetz nicht vor. Bei dem bisher als allgemeine Zivilsache behandelten Verfahren handelt es sich um eine sonstige Familiensache nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG. Danach sind sonstige Familiensachen Verfahren, die Ansprüche zwischen miteinander verheirateten oder ehemals miteinander verheirateten Personen oder zwischen einer solchen und einem Elternteil im Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe betreffen. Mit § 266 FamFG hat der Gesetzgeber den Zuständigkeitsbereich der Familiengerichte deutlich erweitert („Großes Familiengericht“). Damit sollten bestimmte Zivilrechtsstreitigkeiten, die eine besondere Nähe zu familienrechtlich geregelten Rechtsverhältnissen aufweisen oder die in engem Zusammenhang mit der Auflösung eines solchen Rechtsverhältnisses stehen, ebenfalls Familiensachen werden. In den Fällen des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG muss ein Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe bestehen. Ein inhaltlicher Zusammenhang liegt vor, wenn das Verfahren vor allem die wirtschaftliche Entflechtung der (vormaligen) Ehegatten betrifft. Bei dieser Prüfung sind nicht nur die tatsächlichen und rechtlichen Verbindungen, sondern ist auch der zeitliche Ablauf zu berücksichtigen. Dabei ist im Hinblick auf die gewünschte möglichst umfassende Zuständigkeit der Familiengerichte für die Beurteilung, ob ein Zusammenhang mit der Beendigung der ehelichen Gemeinschaft besteht, generell ein großzügiger Maßstab anzulegen.

Gemessen daran ist hier vom Vorliegen einer sonstigen Familiensache iSd. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG auszugehen, weil der notwendige Zusammenhang zur Trennung und Scheidung der Beteiligten besteht. Das Grundstück, an dessen Verkaufserlös die Klägerin einen Anteil beansprucht, wurde von den Beteiligten während der Ehe zu hälftigem Miteigentum erworben. Der Verkauf des Grundstücks erfolgte kurze Zeit nach der Trennung der Beteiligten. Der Verkaufserlös wurde sogleich von den Beteiligten verwendet, um Verbindlichkeiten zurückzuführen, die sie während der Ehe gemeinschaftlich eingegangen sind. Streitigkeiten wegen eines Gesamtschuldnerausgleichs zwischen Eheleuten im Zusammenhang mit der Trennung oder Scheidung einschließlich möglicher Freistellungsansprüche zählen zu den Verfahren, die typischerweise als sonstige Familiensache zu qualifizieren sind, weil sie regelmäßig die wirtschaftliche Entflechtung der (vormaligen) Ehegatten betreffen. Der notwendige Zusammenhang fehlt auch nicht deshalb, weil die Klägerin den behaupteten Darlehensrückzahlungsanspruch erst im Jahr 2021 geltend gemacht hat, obwohl die Beteiligten sich bereits im Jahr 2009 getrennt haben und ihre Ehe im Jahr 2014 geschieden wurde. Eine feste zeitliche Grenze, ab der ein solcher Zusammenhang nicht mehr besteht, gibt es nicht. Jedenfalls steht die von der Antragstellerin behauptete Darlehensgewährung im Zusammenhang mit der Trennung der Parteien. Das Verfahren dient somit der wirtschaftlichen Entflechtung der mittlerweile geschiedenen Eheleute, so dass eine Entscheidung durch das Familiengericht nicht sachfremd erscheint.

Allerdings dürfen die Verfahrensbeteiligten dadurch, dass das Gericht seine Entscheidung in einer falschen Form erlassen hat, keinen Rechtsnachteil erleiden. Ihnen steht deshalb grundsätzlich sowohl das Rechtsmittel zu, das nach der Art der tatsächlich ergangenen Entscheidung statthaft ist, als auch das Rechtsmittel, das bei einer in der richtigen Form erlassenen Entscheidung zulässig wäre. Der Grundsatz der Meistbegünstigung findet in gleicher Weise Anwendung, wenn – wie hier – das Gericht nach dem von ihm angewandten Verfahrensrecht die Entscheidungsform zwar zutreffend gewählt hat, der Fehler jedoch in der Anwendung eines falschen Verfahrensrechts besteht. Der Schutzgedanke der Meistbegünstigung gebietet es indessen nicht, dass das Rechtsmittel auf dem vom vorinstanzlichen Gericht eingeschlagenen falschen Weg weitergehen müsste; vielmehr hat das Rechtsmittelgericht das Verfahren so weiter zu betreiben, wie dies im Falle einer formell richtigen Entscheidung durch die Vorinstanz und dem danach gegebenen Rechtsmittel geschehen wäre. Aus dem Meistbegünstigungsgrundsatz lässt sich daher nicht herleiten, dass gegen eine inkorrekte Entscheidung auch noch dann ein ihrer äußeren Form entsprechendes Rechtsmittel (hier: die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO) zum BGH statthaft ist, wenn gegen eine korrekte Entscheidung die Anrufung des BGH aus besonderen Gründen des jeweiligen Verfahrens (hier: wegen des Fehlens einer positiven Zulassungsentscheidung nach § 70 Abs. 1 FamFG) nicht statthaft wäre. Gemessen hieran ist ein Rechtsmittel zum BGH nicht statthaft. Formell richtig wäre es gewesen, wenn erstinstanzlich das Familiengericht durch Beschluss entschieden hätte und in zweiter Instanz ein Senat für Familiensachen des OLG als Beschwerdegericht. Im Beschwerdebeschluss hätte das OLG gemäß § 70 FamFG zwar auch darüber entscheiden müssen, ob es die Rechtsbeschwerde zulässt. Ohne eine solche Zulassung wäre aber ein weiteres Rechtsmittel, insbesondere eine Nichtzulassungsbeschwerde, nicht gegeben. Würde man also im vorliegenden Fall, in dem der Rechtsstreit fälschlich als Zivilsache behandelt und entschieden wurde, eine Nichtzulassungsbeschwerde für zulässig erachten, so würde man dem Beschwerdeführer ein Rechtsmittel eröffnen, das ihm bei richtiger Sachbehandlung nicht zustünde.

 

Fazit: Der Meistbegünstigungsgrundsatz rechtfertigt keine Erweiterung des gesetzlichen Rechtsmittelzuges. Das der tatsächlichen (inkorrekten) Entscheidungsform entsprechende Rechtsmittel ist daher nur dann statthaft, wenn gegen eine formell richtige Entscheidung ein Rechtsmittel gegeben wäre (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 41/22 –, MDR 2024, 796 juris Rn.11).

Anwaltsblog 35/2024: Nichtigkeit eines Immoblienkaufvertrages bei nicht beurkundeter Vorauszahlungsabrede?

Die Nichtigkeit eines Teils eines Vertrags führt im Zweifel zur Gesamtnichtigkeit des Rechtsgeschäfts (§ 139 BGB). Der BGH hatte zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen diese Vermutung widerlegt ist, wenn Parteien eines Grundstückskaufvertrages eine formunwirksame Vorauszahlungsabrede getroffen haben (BGH, Urteil vom 14. Juni 2024 – V ZR 8/23):

 

Der verstorbene Vater der Beklagten (Erblasser) verkaufte mit notariellem Vertrag (UR-Nr. 975) vom 23. März 2017 zu einem Kaufpreis von 40.000 € einen hälftigen Grundstücksmiteigentumsanteil an eine GmbH, deren Geschäftsführer der Kläger war. Dieser überwies am 6. April 2017 an den Erblasser 70.000 € unter Angabe des Verwendungszwecks „975/23.3.2017“ sowie am 15. Mai 2017 weitere 10.000 € mit dem Verwendungszweck „Restzahlung 975/23.3.2017“. Der Kaufvertrag wurde vollzogen. Am 8. November 2018 schlossen der Erblasser und der Kläger einen notariellen Kaufvertrag über die – weitere – Miteigentumshälfte des Erblassers zu einem Kaufpreis von ebenfalls 40.000 €. Anschließend übertrug die GmbH ihren von dem Erblasser erworbenen Miteigentumsanteil auf den Kläger.

Der auf Übertragung des verbliebenen (zweiten) Miteigentumsanteils gerichteten Klage hat das Landgericht stattgegeben. Das OLG hat sie abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Übereignung des zweiten Miteigentumsanteils. Der notarielle Kaufvertrag vom 8. November 2018 sei formunwirksam und damit nichtig. Soweit der Kläger behaupte, die mittels der beiden Überweisungen geleistete Gesamtzahlung von 80.000 € hätte in Höhe von 40.000 € vereinbarungsgemäß auf den Kaufpreis aus dem erst nachfolgend geschlossenen Kaufvertrag vom 8. November 2018 verrechnet werden sollen, handele es sich um eine beurkundungsbedürftige Vorauszahlungsabrede, die mangels Beurkundung nichtig sei. Nach der Auslegungsregel des § 139 BGB ziehe die Nichtigkeit dieses Vertragsteils die Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages nach sich.

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Ein Anspruch des Klägers auf Übereignung des zweiten Miteigentumsanteils kann sich aus dem Kaufvertrag vom 8. November 2018 über den zweiten Miteigentumsanteil ergeben; dass dieser Vertrag insgesamt unwirksam ist, ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend ist allerdings, dass die von dem Kläger behauptete Vereinbarung über die Vorauszahlung des Kaufpreises für den zweiten Miteigentumsanteil gemäß § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB iVm. § 125 Satz 1 BGB nichtig wäre, weil sie nicht notariell beurkundet wurde. Eine solche Vereinbarung ist beurkundungsbedürftig. Die Einigung über die Anrechnung einer Vorauszahlung auf die Kaufpreisforderung unterliegt dem Beurkundungszwang, weil sie konstitutive rechtliche Bedeutung hat. Das ergibt sich insbesondere daraus, dass im Zeitpunkt der Vorauszahlung die Kaufpreisforderung noch nicht besteht und die Vorauszahlung daher – ohne eine dahingehende Vereinbarung – nicht schon von Rechts wegen zu einer Teilerfüllung der Kaufpreisschuld führen könnte. Danach wäre die Vorauszahlungsvereinbarung beurkundungsbedürftig und – mangels Beurkundung – nichtig.

Damit steht aber nicht fest, dass der notarielle Kaufvertrag vom 8. November 2018 gemäß § 139 BGB insgesamt nichtig ist. Zwar ist dies nach der Auslegungsregel des § 139 BGB zu vermuten; doch kann diese Vermutung gerade im Falle einer Kaufpreisvorauszahlung bei Vorliegen besonderer Umstände widerlegt sein. Das kommt auch hier in Betracht. Die wegen des Formmangels einer Vorauszahlungsabrede zur Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages führende Vermutung des § 139 BGB ist dann widerlegt, wenn der Käufer die im Voraus geleistete Zahlung auf den Kaufpreis zu beweisen vermag. Denn dann kann es für ihn von untergeordneter Bedeutung sein, ob seine Kaufpreisschuld schon im Zeitpunkt ihrer Entstehung erlischt oder ob die Tilgung der Schuld noch von weiteren Rechtshandlungen abhängt. Entscheidend ist danach der Nachweis der Zahlung auf die noch nicht bestehende Schuld; dagegen kann nicht verlangt werden, dass der Käufer den Abschluss einer entsprechenden Vorauszahlungsabrede und deren Fortbestehen bei Abschluss des notariellen Kaufvertrages beweist. Weist der Käufer seine Zahlung auf die noch nicht bestehende Kaufpreisforderung nach, ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass sich die Parteien auch ohne die Anrechnungsabrede auf den beurkundeten Teil des Rechtsgeschäfts eingelassen hätten. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Verkäufer eine Quittung über die Zahlung erteilt hat. Die Widerlegung der Vermutung kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Verkäufer die Zahlung quittiert hat; entscheidend ist, dass der Käufer aus seiner Sicht zweifelsfrei nachweisen kann, vor Vertragsschluss auf die noch nicht bestehende Kaufpreisschuld gezahlt zu haben. Daran gemessen ist es möglich, dass der Kläger die Vermutung der Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages vom 8. November 2018 durch einen entsprechenden Zahlungsnachweis widerlegen kann. Ein Beleg der Kaufpreiszahlung ergibt sich allerdings nicht aus den von dem Kläger vorgelegten Überweisungen. Zwar könnten Überweisungsträger grundsätzlich ausreichen. Hier fehlt es aber an einer entsprechenden Tilgungsbestimmung. Die Überweisungsnachweise beziehen sich ausdrücklich auf den Kaufvertrag vom 23. März 2017 über den ersten Miteigentumsanteil. Diese Belege enthalten damit auch aus Sicht des Klägers keine Tilgungsbestimmung, die sich auf den zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Kaufvertrag über den zweiten Miteigentumsanteil bezieht. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann aber die als „Immobilien-Übergabeprotokoll“ bezeichnete Erklärung der Parteien vom 15. Mai 2017 aus Sicht des Klägers geeignet sein, die Vorauszahlung auf den Kaufpreis für den zweiten Miteigentumsanteil nachzuweisen. Darin haben die Parteien gemeinsam erklärt, der Kläger habe 80.000 € des Kaufpreises für die Immobilie gezahlt, wobei 40.000 € als „Vorschuss für den Rest des Gebäudes“ darstellten, und die Parteien anerkennen, „dass sie keine weiteren Ansprüche haben“.

Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben. Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung die Echtheit des „Immobilien-Übergabeprotokolls“ zu klären haben und auf dieser Grundlage würdigen müssen, ob der Kläger aus seiner Sicht davon ausgehen konnte, dass er die Zahlung auf die noch nicht bestehende Forderung nachweisen kann.

 

Fazit: Die wegen des Formmangels einer Vorauszahlungsabrede zur Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages führende Vermutung des § 139 BGB ist bereits dann widerlegt, wenn der Käufer die im Voraus geleistete Zahlung auf den Kaufpreis zu beweisen vermag (BGH, Urteil vom 17. März 2000 – V ZR 362/98 –, MDR 2000, 874). Die Widerlegung der Vermutung kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Verkäufer die Zahlung quittiert hat; entscheidend ist, dass der Käufer aus seiner Sicht zweifelsfrei nachweisen kann, vor Vertragsschluss auf die noch nicht bestehende Kaufpreisschuld gezahlt zu haben.

Anwaltsblog 34/2024: Einsatz vollmachtloser Vertreter bei Beurkundungen

Nach § 17a Abs. 2a Nr. 1 BeurkG soll der Notar bei Verbraucherverträgen darauf hinwirken, dass die rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Verbrauchers von diesem persönlich oder durch eine Vertrauensperson vor dem Notar abgegeben werden. Ob es damit vereinbar ist, wenn bei Verträgen unter Beteiligung von Kommunen für diese auf deren Wunsch Mitarbeiter des Notars als vollmachtlose Vertreter auftreten, hatte der Notarsenat des BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 8. Juli 2024 – NotSt (Brfg) 3/23):

 

Eine Anwaltsnotarin in Rheine beurkundete von Oktober 2019 bis Mai 2021 fünf Grundstückskaufverträge, bei denen für die Stadt Rheine als Verkäuferin jeweils eine Mitarbeiterin der Notarin als vollmachtlose Vertreterin auftrat. Im Dezember 2020 beurkundete sie einen Kaufvertrag über Teileigentum, wobei für die Stadt Rheine als Käuferin eine Mitarbeiterin der Klägerin als vollmachtlose Vertreterin auftrat. Die Stadt Rheine hatte zuvor jeweils um diese Verfahrensweise gebeten. In allen Fällen lag vor der Beurkundung mindestens ein Vertragsentwurf vor. Der Landgerichtspräsident  leitete ein Disziplinarverfahren ein, mit dem er der Notarin vorwarf, durch den systematischen Einsatz eines vollmachtlosen Vertreters auf Seiten der Stadt Rheine gegen die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Gestaltung des Beurkundungsverfahrens (§ 17 Abs. 1 BeurkG, § 14 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BNotO) verstoßen zu haben, und verhängte eine Geldbuße. Die hiergegen erhobene Anfechtungsklage der Notarin hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG verstieß der jeweilige Einsatz einer Mitarbeiterin als vollmachtlose Vertreterin der Stadt Rheine nicht gegen die Amtspflichten eines Notars.

Der Antrag des Landgerichtspräsidenten auf Zulassung der Berufung wird vom BGH, der in Disziplinarsachen gegen Notare Berufungsinstanz ist, abgelehnt. Der Notar hat nicht eine Partei zu vertreten, sondern die Beteiligten unabhängig und unparteiisch zu betreuen (§ 14 Abs. 1 BNotO). Er hat jedes Verhalten zu vermeiden, das den Anschein eines Verstoßes gegen seine Amtspflichten erzeugt, insbesondere durch den Anschein der Abhängigkeit oder Parteilichkeit (§ 14 Abs. 3 BNotO). Im Beurkundungsverfahren soll der Notar den Willen der Beteiligten erforschen, den Sachverhalt klären, die Beteiligten über die rechtliche Tragweite des Geschäfts belehren und ihre Erklärungen klar und unzweideutig in der Niederschrift wiedergeben. Dabei soll er darauf achten, dass Irrtümer und Zweifel vermieden sowie unerfahrene und ungewandte Beteiligte nicht benachteiligt werden (§ 17 Abs. 1 BeurkG). Das Beurkundungsverfahren ist entsprechend zu gestalten, weshalb der Notar bei Verbraucherverträgen darauf hinwirken soll, dass die rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Verbrauchers von diesem persönlich oder durch eine Vertrauensperson vor dem Notar abgegeben werden.

Nach diesen Grundsätzen ist es nicht zu beanstanden, dass das OLG die von der Notarin in sechs Fällen vorgenommene Beurkundung unter Einsatz einer eigenen Mitarbeiterin als vollmachtloser Vertreterin der Stadt Rheine nicht als Dienstvergehen gewertet hat. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bei den Verträgen die Stadt, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, beteiligt war. Gegen die ihr gegenüber der Stadt Rheine obliegende Schutzpflicht hat die Notarin nicht verstoßen. Die Stadt hat ihre vollmachtlose Vertretung durch einen Mitarbeiter der Klägerin selbst beantragt und im Vorfeld des Beurkundungstermins jeweils einen Vertragsentwurf zur Prüfung erhalten. Im Unterschied zum schutzbedürftigen Verbraucher ist sie als geschäftserfahrene Kommune in der Regel nicht belehrungsbedürftig.

Anders als der Landgerichtspräsident meint, hat die Notarin nicht dadurch den Anschein der Abhängigkeit von oder der Parteilichkeit zugunsten der Stadt Rheine erweckt, dass sie dieser planmäßig ihre eigenen Mitarbeiter als vollmachtlose Vertreter zur Verfügung gestellt und damit eine kostenlose Serviceleistung erbracht habe. Dieser Vorwurf erscheint angesichts der absoluten Zahl der fraglichen Beurkundungsvorgänge – sechs über einen Zeitraum von rund 18 Monaten – fernliegend. Im Übrigen hatte die Stadt die Bestimmung des beurkundenden Notars in allen Fällen ihren Vertragspartnern überlassen, so dass die Beauftragung der Klägerin nicht etwa von einem durch eine „kostenlose Serviceleistung“ erkauften Wohlwollen der Stadt, sondern von der Auswahlentscheidung von deren Vertragspartnern abhing.

 

Anmerkung: Bei Mitarbeitern des Urkundsnotars handelt es nicht um Vertrauenspersonen von Verbrauchern iSd. § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 Fall 2 BeurkG. Vertrauensperson kann nur sein, wer als Interessenvertreter des Verbrauchers handelt. Deshalb kommt ein zur Neutralität Verpflichteter nicht als Vertrauensperson in Betracht. Der Zweck des § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 BeurkG steht daher der Annahme entgegen, Mitarbeiter des Notars könnten Vertrauenspersonen eines Urkundsbeteiligten sein.

Anwaltsblog 33/2024: Architektenvertrag als Fernabsatzvertrag

Dass ein über ein Internetportal eines Anbieters geschlossener Vertrag über die Erbringung von Architektenleistung bei fehlender Widerrufsbelehrung und Widerruf durch den Verbraucher dazu führen kann, dass der Architekt seine Leistungen unentgeltlich erbringt, hat diesem das OLG Frankfurt bestätigt (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30. Januar 2024 – 21 U 49/23):

 

Die Kläger, die den Umbau ihres Einfamilienhauses beabsichtigten und zuvor einen Vertrag mit einem anderen Architekten über die Erbringung der Genehmigungsplanung widerrufen hatten, schlossen mit der Beklagten über deren Internetportal am 13.06.2022 per E-Mail einen Architektenvertrag. Das Angebot der Beklagten enthielt keine Widerrufsbelehrung. Die Kläger leisteten auf drei Abschlagsrechnungen Zahlungen in Höhe von insgesamt 23.102,13 €. Eine vierte Abschlagsrechnung in Höhe von 11.284,26 € wurde nicht mehr bezahlt. Mit E-Mail vom 28.11.2022 erklärten die Kläger den Widerruf des Vertrags. Mit der Klage machen sie die Rückzahlung der Abschlagszahlungen geltend und begehren die Feststellung, dass der Beklagten keine weiteren Zahlungsansprüche zustehen.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die fehlende Erfolgsaussicht hat die Beklagte die Berufung zurückgenommen. Bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag handelt es sich um einen Fernabsatzvertrag iSd. § 312c BGB. Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass den Klägern die Ausübung des Widerrufsrechts nicht unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB verwehrt ist. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Kläger wegen der Stellung des Klägers zu 2 als Rechtsanwalt sowie wegen des erklärten Widerrufs gegenüber dem früheren Architekten ein „Sonderwissen“ gehabt hätten. Der Umstand, dass ein Verbraucher grundsätzlich Kenntnis von einem Widerrufsrecht sowie bei unterlassener Belehrung von einer verlängerten Widerrufsbelehrung hat, hindert diesen nicht an der Ausübung dieser ihm letztlich wegen eines Verstoßes des handelnden Unternehmens eingeräumten Rechtsposition. Insbesondere sehen die der Umsetzung der europarechtlichen Verbraucherschutzrichtlinien dienenden entsprechenden Regelungen wie in § 312c BGB keine Einzelfallbetrachtung des etwaigen Wissens des jeweils handelnden Verbrauchers vor. Es ist daher auch nur folgerichtig, eine etwaige Korrektur über § 242 BGB nur in sehr engen Grenzen zuzulassen. Ein solcher besonderer Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Dafür, dass die Kläger – wie die Beklagte dies im Ergebnis darzustellen versucht – systematisch und in betrügerischer Absicht sich von vorneherein Leistungen ohne Vergütungspflicht erschleichen wollten, bestehen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte. Dass die Kläger letztlich von dem Fehler der Beklagten profitieren können, ist Folge der gesetzlichen Regelung und steht der Ausübung der Rechtsposition nicht entgegen.

 

Fazit: Dem Verbraucher steht sowohl bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen als auch bei Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht gemäß § 355 BGB zu, wie § 312g Abs. 1 BGB bestimmt. Dem Verbraucher wird ein an keine materiellen Voraussetzungen gebundenes, einfach auszuübendes Recht zur einseitigen Loslösung vom Vertrag in die Hand gegeben. Ein Ausschluss des Widerrufsrechts wegen Rechtsmissbrauchs oder unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) kommt nur ausnahmsweise – unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers – in Betracht, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer (BGH, Urteil vom 16. März 2016 – VIII ZR 146/15 –, MDR 2016, 575). Bei einem auf einem Verstoß gegen die Pflicht zur Widerrufsbelehrung beruhenden Widerruf kann der Unternehmer keinen Wertersatz unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung verlangen (EuGH, Urteil vom 17. Mai 2023 – C-97/22 -, MDR 2023, 895).