Zuständigkeit für die Entscheidung über die Anhörungsrüge

Vorschlag von Gravenhorst

Im Reportteil der MDR 2/2019 (S. R6 f.) führt Gravenhorst aus, es sei verfehlt, dass der iudex a quo, dessen Entscheidung angegriffen wird, selbst zur Entscheidung über die Anhörungsrüge berufen sei, dies überschätze die Bereitschaft der Richter, einen begangenen Verfassungsverstoß einzuräumen. Nur für die Pannenfälle (z.B. Einordnung eines Schriftsatzes in einer falschen Akte durch die Geschäftsstelle) sei praktisch regelmäßig mit einer Selbstabhilfe zu rechnen. Da in der näheren Zukunft nicht mit einer Lösung durch den Gesetzgeber zu rechnen sei, schlägt Gravenhorst eine Lösung durch die Geschäftsverteilungspläne vor. Es „dürften keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken dagegen bestehen, dass das Präsidium eines Gerichts im jährlichen Geschäftsverteilungsplan … [festlege], dass Anhörungsrügen zunächst durchaus beim iudex a quo anlanden, er sie aber nicht zurückweisen, sondern [ihnen] nur stattgeben“ könne. Komme es nicht zu einer Abhilfeentscheidung, sei dann der Spruchkörper, dem der Gerichtspräsident bzw. -direktor angehört, zur Entscheidung berufen, im Fall einer Stattgabe solle das Verfahren zwingend vor einem anderen Spruchkörper nach Maßgabe des Geschäftsverteilungsplans fortgeführt werden.

Gesetzgeberische Entscheidung

Diesem Vorschlag ist, auch wenn sein Grundanliegen durchaus anerkennenswert ist, zu widersprechen. Ein Blick in die Gesetzgebungsmaterialien zeigt, dass der Gesetzgeber sich bewusst für eine Zuständigkeit des iudex a quo entschieden hat. So heißt es in der Regierungsbegründung des Entwurfs zum Anhörungsrügengesetz (BR-Drucks. 663/04, S. 32), die Anhörungsrüge orientiere sich am Modell des bisherigen § 321a ZPO; nach dessen Vorbild sei die Rüge beim iudex a quo zu erheben, bei erfolgreicher Rüge sei das Verfahren in der Lage fortzusetzen, in der es sich vor der mit der Anhörungsrüge angefochtenen Entscheidung befand. Zu § 321a ZPO a.F. war aber allgemein anerkannt, dass er eine Selbstkontrolle durch den iudex a quo selbst vorsieht (vgl. z.B. Reichold, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 321a Rn. 1). Explizit wird die Zuständigkeit des Ausgangsgerichts – auch – damit begründet, dass durch die Zuständigkeit des mit dem Verfahren vertrauten Ausgangsgerichts keine Verzögerung zu erwarten sei (BR-Drucks. 663/04, S. 33). Im Rahmen der zweiten Lesung im Bundestag führte MdB Manzewski für die SPD (und damit für die Regierungskoalition, mit deren Stimmenmehrheit – neben Oppositionsstimmen – das Gesetz letztendlich beschlossen wurde) aus, der Beschluss halte sich eng an die Vorgaben des nach dem BVerfG zwingend Erforderlichen (die eine Entscheidung durch den Ausgangsrichter explizit zugelassen hatten); die Rüge sei bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat (BT-Plenarprotokoll 15/135 v. 28.10.2004, S. 12430). Mit der Paktentheorie (vgl. dazu z.B. Bydlinski/Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl. 2018, S. 41 ff.) ist der Wille des historischen Gesetzgebers dahingehend zu konstruieren, dass er sich die Begründung und die Äußerungen der Mehrheitskoalition zu eigen gemacht hat, soweit sich keine entgegenstehenden Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren finden lassen.

Gerade dass die Frage, ob die Zuständigkeit des Ausgangsrichters sachgerecht ist, noch vor der zweiten Lesung, in der noch einmal inhaltlich über den Entwurf diskutiert wurde, bereits auf dem Deutschen Juristentag behandelt (und verneint) worden war (vgl. Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages 2004 in Bonn, 2004, Band II/2, S. M212, Antrag 7.1 und die Diskussionsbeiträge von Gravenhorst, Graßhof und Nassall, ebendort S. M 161, M163 f. und M 166 f. sowie Äußerungen in den Gutachten von Huber und Gottwald, ebendort Band I, S. A 22 und A 112), zeigt, dass die Problematik dem Gesetzgeber bei Verabschiedung des Gesetzes bewusst war. Und selbst, wenn man den Gesetzgebungsmaterialien, weil sie nicht in Gesetzeskraft erwachsen (vgl. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 3. Aufl. 2014, S. 144 ff.), keinerlei Einfluss auf die Auslegung zubilligen wollte (was in dieser Rigorosität nur selten vertreten wird – auch die größten Anhänger einer objektiven Theorie der Gesetzesauslegung wollen ja nicht der historischen Auslegung jede Bedeutung absprechen), spräche eine systematische Auslegung immer noch gegen die Annahme, dass das Gesetz nicht den iudex a quo zur Entscheidung bestellt wissen wollte, wenn man sich vor Augen führt, dass in anderen Fällen, in denen nicht der ursprüngliche Spruchkörper die Entscheidung trifft, das im Gesetz explizit geregelt ist (vgl. z.B. § 45, § 563 Abs. 1 ZPO).

Bindung des Rechtsanwenders an die gesetzgeberische Interessenabwägung

An die Entscheidung des Gesetzgebers für die Zuständigkeit des iudex a quo ist die Justiz grundsätzlich gebunden, und zwar nicht nur der Richter, sondern selbstverständlich auch das Präsidium bei der Gestaltung des Geschäftsverteilungsplans. Aufgabe des Rechtsanwenders in der Justiz ist es, dem Willen des Gesetzgebers in denkendem Gehorsam zum Durchbruch zu verhelfen. An Wertentscheidungen des Gesetzgebers ist das Gericht – Spruchrichter wie Präsidium – grundsätzlich gebunden. Allein, dass der Rechtsanwender eine andere Regelung für vorzugswürdig hält, genügt dafür nicht: Vermeintlich bessere Einsicht reicht nicht aus, um die Gewaltenteilung dahingehend auszuhebeln, dass gesetzgeberische Entscheidungen unbeachtlich werden. Und das gilt sogar, wenn es sich bei der „vermeintlich besseren Einsicht“ um tatsächlich bessere Einsicht handelt, was im konkreten Fall durchaus denkbar ist: Dass die Entscheidung durch denjenigen, der die angegriffene Entscheidung erlassen hat, in vielen Fällen nicht zu einer ergebnisoffenen Prüfung führen wird, ist ja schwerlich zu bestreiten.

Keine planwidrige Regelungslücke als Voraussetzung einer Rechtsfortbildung

Raum für eine Abweichung vom ersichtlichen Willen des Gesetzgebers ist erst dort, wo die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen. Eine planwidrige Regelungslücke hat Gravenhorst aber nicht dargelegt. Sie besteht auch nicht, hat sich doch der Gesetzgeber für die abschließende Zuständigkeit des iudex a quo entschieden. Man mag die zugrundeliegende Interessenabwägung zwischen Kostengesichtspunkten (die Zuständigkeit des Ausgangsrichters ist diejenige, die der Justiz am wenigsten Kosten verursacht) und Rechtsschutzgewährleistung kritisieren. Aber das ändert nichts daran, dass zuständig für die Korrektur dieser Interessenabwägung allein der Gesetzgeber oder hilfsweise, wenn die jetzige Regelung sogar verfassungswidrig wäre, das BVerfG ist. Eine eigenmächtige Gesetzeskorrektur durch die Gerichtspräsidien, nur weil sie – mit Gründen, die sich durchaus hören lassen –, die Abwägung anders getroffen hätten, ist jedenfalls nicht zulässig.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

In Anlehnung an die sog. Montagspost beim BGH berichtet der Montagsblog wöchentlich über ausgewählte aktuelle Entscheidungen.

Prüfungsumfang in der Rechtsmittelinstanz nach erfolgreicher Anhörungsrüge
Urteil vom 14. April 2016 – IX ZR 197/15

Der IX. Zivilsenat befasst sich mit der Frage, ob die Entscheidung, ein bereits abgeschlossenes Verfahren auf eine Anhörungsrüge hin fortzusetzen, in der nächsten Instanz überprüft werden darf.

In einem Rechtsstreit um nicht gezahltes Anwaltshonorar hatte das AG die Klage mit der Begründung abgewiesen, die als Klägerin auftretende GbR habe ihre Existenz nicht beweisen können. Nach einer Anhörungsrüge gegen dieses (wegen Nichterreichens der Wertgrenze nicht mit der Berufung anfechtbare) Urteil hatte es das Verfahren fortgesetzt und die Beklagten nach ergänzender Beweisaufnahme antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten (die statthaft war, weil das AG zugleich eine von der Beklagten erhobene Hilfswiderklage abgewiesen hatte) hob das LG das zweite Urteil des AG auf und wies die Anhörungsrüge gegen das erste Urteil des AG zurück.

Die dagegen eingelegte Revision des Klägers bleibt erfolglos. Der BGH tritt der Auffassung des LG bei, wonach ein Rechtsmittelgericht überprüfen darf und muss, ob eine in der Vorinstanz ergangene Entscheidung, das Verfahren auf eine Anhörungsrüge hin fortzusetzen, rechtmäßig war. Er stützt dies auf den Umstand, dass gemäß § 321a Abs. 4 Satz 4 ZPO lediglich die Zurückweisung einer Anhörungsrüge unanfechtbar ist, eine vergleichbare Bestimmung für eine der Anhörungsrüge stattgebende Entscheidung hingegen fehlt. Ergänzend weist er auf die auch in den Gesetzesmaterialien angesprochene Parallele zwischen einer Anhörungsrüge und einem Einspruch gegen ein Versäumnisurteil hin.

Praxistipp: Eine Partei, zu deren Lasten ein rechtskräftig abgeschlossener Rechtsstreit nach Anhörungsrüge fortgesetzt wird, sollte im Rahmen der dafür zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Vorsorge dafür treffen, dass sie eine ihr ungünstige Entscheidung mit einem Rechtsmittel anfechten kann.

Auslegung einer Besichtigungsklausel
Urteil vom 6. April 2016 – VIII ZR 261/14

Mit allgemeinen Grundsätzen für die Auslegung einer in Kaufverträgen häufig verwendeten Formulierung befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte bei der Beklagten eine fabrikneue Werkzeugmaschine gekauft. Bei der vorangegangenen Besichtigung hatte sie Zeichnungen von Werkstücken vorgelegt, die sie mit der Maschine bearbeiten wollte. Nach Auslieferung beanstandete sie, die Maschine sei zu diesem Zweck nicht geeignet. Die Klage auf Rückzahlung des Kaufpreises blieb in zwei Instanzen erfolglos. Das OLG sah es als nicht erwiesen an, dass die Parteien auf der Grundlage der vorgelegten Zeichnungen eine konkrete Beschaffenheitsvereinbarung getroffen hatten. Die Frage, ob die Maschine die übliche Beschaffenheit im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB insoweit durch die in dem Kaufvertrag enthaltene Klausel „im Zustand wie in unserem Lager vorhanden und von Ihnen am … besichtigt“.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er erinnert daran, dass Freizeichnungsklauseln grundsätzlich eng auszulegen sind, und vermag schon dem Wortlaut der hier in Rede stehenden Vereinbarung keinen umfassenden Gewährleistungsausschluss zu entnehmen. Ferner weist er darauf hin, dass Freizeichnungsklauseln, die an eine Besichtigung anknüpfen, sich in aller Regel nur auf bei der Besichtigung wahrnehmbare, insbesondere sichtbare Mängel der Kaufsache beziehen. Um einen solchen Mangel ging es im Streitfall nicht.

Praxistipp: Ein Verkäufer, der die Gewährleistung auch für solche Mängel ausschließen will, die nur bei näherer Untersuchung erkennbar sind, muss dies im Kaufvertrag hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen.