Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen?

Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Wann das Berufungsgericht ausnahmsweise unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen darf, weil das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Februar 2024 – VII ZR 42/22):

 

Die Klägerin hatte für die Beklagte 1.600 Haushalte mit Glasfaserkabeln erschlossen. Ihre Schlussrechnung von rund sechs Mio. € hat die Beklagte bis auf einen Betrag von 284.013,78 € ausgeglichen, den sie als Vertragsstrafe geltend macht. Diesen Betrag klagt die Klägerin ein. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Eine Vertragsstrafe sei nicht vereinbart, weil das ursprüngliche Angebot der Klägerin, das die AGB der Beklagten mit der Vertragsstrafenklausel einbeschloss, durch anschließende Verhandlungen der Parteien erloschen sei. Der dann geschlossene Vertrag enthalte keine Bezugnahme auf die AGB. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das  Landgericht sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten zu der Annahme gelangt, dass die Vertragsstrafe nicht vereinbart worden sei. Soweit es angenommen habe, das ursprüngliche Angebot der Klägerin sei erloschen, habe das Landgericht Vortrag der Beklagten übergangen, wonach die Klägerin bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist (= Bindefrist) an ihr Angebot gebunden gewesen sei. Das Landgericht habe zudem Vortrag der Beklagten zu den Vertragsverhandlungen nicht berücksichtigt.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen. Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung sein kann. Ob ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn dieser verfehlt ist oder das Berufungsgericht ihn für verfehlt erachtet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Verfahrensfehler des Landgerichts nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die Frage, ob dem Landgericht ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form eines Gehörsverstoßes unterlaufen ist, rechtsfehlerhaft nicht aufgrund des allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Standpunkts des Landgerichts beantwortet, sondern seinen eigenen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt zugrunde gelegt.

Zwar kann es einen schweren Verfahrensfehler iSd. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO darstellen, wenn das erstinstanzliche Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es den Kern ihres Vorbringens verkennt und daher eine entscheidungserhebliche Frage verfehlt. Das ist hingegen nicht der Fall, wenn es die sachlich-rechtliche Relevanz eines Parteivorbringens verkennt und ihm deshalb keine Bedeutung beimisst. Ein Verfahrensfehler liegt daher nicht vor, wenn das erstinstanzliche Gericht das Parteivorbringen lediglich unter einem sachlich-rechtlich fehlerhaften Gesichtspunkt gewürdigt oder deshalb nicht weiter erörtert hat, weil es hierauf nach seinem materiell-rechtlichen (möglicherweise unrichtigen) Standpunkt nicht ankommt. Bei einer Vertragsauslegung kann ein Verfahrensfehler nur angenommen werden, wenn das Gericht die Vertragsbestimmungen nicht lediglich inhaltlich unzutreffend würdigt, sondern erkennbar vertragliche Regelungen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder sprachlich falsch versteht. Das Landgericht hat bei der Vertragsauslegung keinen wesentlichen Vortrag der Beklagten übergangen oder den Kern ihres Vorbringens verkannt. Es hat festgestellt, dass die AGB der Beklagten Gegenstand der Ausschreibung waren und das Angebot der Klägerin vom 23. März 2016 auf diese Vertragsbestimmungen Bezug genommen hat. Ob und in welchem Umfang dieses Angebot Bestandteil des Vertrags geworden ist, ist nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, wobei allerdings die tatsächlichen Umstände der Vertragsverhandlungen der Parteien zu berücksichtigen sind. Soweit das Berufungsgericht einen Gehörsverstoß in der fehlenden Berücksichtigung der Annahmefrist (Bindefrist) sieht, war dieser Gesichtspunkt für die Entscheidung des Landgerichts nicht erheblich. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hat die Beklagte durch das Schreiben vom 1. Juni 2016 nur das Angebot vom 20. April 2016 angenommen und damit konkludent das Angebot vom 23. März 2016 abgelehnt. Deshalb kam es nach der Rechtsansicht des Landgerichts auf die in Ziffer 4 enthaltene Bindefrist wegen Erlöschen des Antrags gemäß § 146 BGB nicht an. Es bedurfte nach der Rechtsansicht des Landgerichts auch deshalb keiner Beweisaufnahme zu den Ursachen der verzögerten Erbringung der Werkleistungen, weil das Landgericht in seiner Hilfsbegründung die Vertragsklausel über die Vereinbarung der Vertragsstrafe gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erachtet hat. Soweit das Berufungsgericht hierzu eine andere Rechtsansicht vertritt, kann dies keinen Verfahrensfehler des Landgerichts begründen.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen unabhängig davon nicht erkennen, dass es das ihm in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, pflichtgemäß ausgeübt hat. Das Berufungsgericht hat weder in Erwägung gezogen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt, was den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann, noch hat es nachprüfbar dargelegt, dass die aus seiner Sicht durchzuführende Beweisaufnahme so aufwändig und umfangreich ist, dass eine Zurückverweisung an das Landgericht ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint. Das angefochtene Urteil hat daher keinen Bestand und ist aufzuheben.

 

Fazit: § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist eine Ausnahmeregelung, die den Grundsatz der Prozessbeschleunigung durchbricht, wenn die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers erfolgt und noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist. Das Berufungsgericht ist gehalten, nachprüfbar darzulegen, inwieweit eine noch ausstehende Beweisaufnahme so aufwendig oder umfangreich ist, dass es gerechtfertigt ist, die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen. Dabei hat es in Erwägung zu ziehen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer weiteren Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits und zu weiteren Nachteilen führt und dies den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann. Die Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme wird deshalb auf wenige Ausnahmefälle beschränkt sein, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht (BGH, Versäumnisurteil vom 16. Dezember 2004 – VII ZR 270/03 –, MDR 2005, 645).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen einer Aussetzung des Verfahrens wegen Vorgreiflichkeit eines anderweit anhängigen Rechtsstreits.

Vorgreiflichkeit bei Streit um vormerkungsgesicherten Anspruch
BGH, Beschluss vom 22. September 2022 – V ZB 22/21

Der V. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen des § 148 Abs. 1 ZPO und der Reichweite der Rechtskraft.

Die Klägerin hat im Jahr 2018 ein Grundstück erworben. Noch vor ihrer Eintragung als Eigentümerin wurde zugunsten der beiden Beklagten aufgrund einer einstweiligen Verfügung eine Vormerkung zur Sicherung eines Anspruchs auf Einräumung eines Nießbrauchs am Grundstück eingetragen. Die Klägerin klagt vor dem AG auf Zustimmung zur Löschung der Vormerkung. Sie macht geltend, sie habe das Grundstück gutgläubig lastenfrei erworben; zudem bestehe der gesicherte Anspruch nicht.

In einem parallel geführten Rechtstreit vor dem LG klagen die hiesigen Beklagten gegen den früheren Eigentümer des Grundstücks auf Zustimmung zur Eintragung des Nießbrauchs. Das AG hat das Verfahren gemäß § 148 Abs. 1 ZPO bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Rechtsstreits ausgesetzt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Klägerin ist erfolglos geblieben.

Der BGH verweist die Sache an das AG zurück.

Die Voraussetzungen des § 148 Abs- 1 ZPO liegen nicht vor, weil die Entscheidung in dem Rechtsstreit vor dem LG für das vorliegende Verfahren nicht vorgreiflich ist. Die vom LG zu entscheidende Frage, ob der gegen den früheren Eigentümer gerichtete Anspruch auf Einräumung eines Nießbrauchs besteht, ist im vorliegenden Rechtsstreit zwar entscheidungserheblich. Eine Entscheidung des LG über diese Frage ist aber nur für die Parteien jenes Prozesses bindend, also für die hiesigen Beklagten und den früheren Eigentümer des Grundstücks, nicht aber für die hiesige Klägerin.

Eine Aussetzung allein aus Gründen der Prozessökonomie ist nach § 148 Abs. 1 ZPO nicht zulässig.

Praxistipp: Für den Erwerber könnte es sich in solchen Situationen empfehlen, dem früheren Eigentümer dem Streit zu verkünden, um zumindest die Regressmöglichkeit für den Fall abzusichern, dass die Vormerkung gelöscht, der Anspruch auf Einräumung des Nießbrauchs aber bejaht wird.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit eines Grundurteils und einer Zurückverweisung der Sache von der zweiten in die erste Instanz.

Grundurteil und Zurückverweisung in der Berufungsinstanz
BGH, Urteil vom 18. Oktober 2022 – XI ZR 606/20

Der XI. Zivilsenat formuliert grundlegende Anforderungen an die Prozessökonomie.

Die Beklagte war in den 1990er Jahren mit dem Bruder des Klägers (nachfolgend: Zedent) liiert. Beide beteiligten sich an wirtschaftlichen Unternehmungen des jeweils anderen. Im Zeitpunkt der Trennung im Jahr 1999 war der Zedent in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Beklagte wurde von seinen Gläubigern in Anspruch genommen. Anfang 2005 unterzeichnete sie einen Schuldschein über einen dem Zedenten zu zahlenden Betrag von 600.000 Euro, der am 31.5.2022 fällig werden und mit 6 % pro Jahr zu verzinsen sein sollte. Anfang 2010 trat der Zedent diese Forderung an den Kläger ab. Im Jahr 2013 wurde über das Vermögen des Zedenten das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter focht die Abtretung der Forderung aus dem Schuldschein gegenüber dem Kläger an und trat die daraus resultierenden Rückgewähransprüche an die Beklagte ab.

Das LG wies die auf Zahlung des im Schuldschein ausgewiesenen Betrags gerichtete Klage ab, weil es die Abtretung der Forderung an den Kläger für nicht bewiesen ansah. In der Berufungsinstanz rechnete die Beklagte hilfsweise mit 19 verschiedenen Gegenforderungen in einer Gesamthöhe von rund 2,8 Millionen Euro auf. Höchst hilfsweise machte sie geltend, aufgrund der an sie abgetretenen Rückgewähransprüche aus der Insolvenzanfechtung stehe ihr der dolo-agit-Einwand (§ 242 BGB) zu. Der Kläger beantragte zunächst die Zurückverweisung der Sache an das LG. Nach der Berufungsverhandlung nahm er diesen Antrag zurück und bat um eine Sachentscheidung durch das OLG. Dieses erklärte den Klageanspruch für dem Grunde nach gerechtfertigt und verwies die Sache wegen der Höhe an das LG zurück.

Der BGH hebt das Berufungsurteil auf und verweist die Sache an das OLG zurück.

Der Erlass eines Grundurteils war im Streitfall schon deshalb unzulässig, weil das OLG nicht über alle für den Grund des Anspruchs relevanten Fragen entschieden hat. Das Bestehen des Klageanspruchs ist im Streitfall schon deshalb in Frage gestellt, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht auszuschließen ist, dass die Hilfsaufrechnung in Höhe des gesamten Klagebetrags Erfolg hat. Darüber hinaus hätte das OLG über den dolo-agit-Einwand entscheiden müssen, und zwar vor der Entscheidung über die Hilfsaufrechnung. Die abweichende Reihenfolge der von der Beklagten gestellten Anträge ist unbeachtlich, weil sie gegen die Pflicht zur Prozessförderung verstößt [und wohl schon deshalb, weil es nicht in der Macht der Parteien steht, dem Gericht eine Reihenfolge für die Prüfung einzelner Anspruchsvoraussetzungen vorzugeben].

Das OLG hätte die Sache ferner nicht an das LG zurückverweisen dürfen. Dies ergibt sich schon daraus, dass der erforderliche Antrag nicht nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden kann, sondern bis zum Erlass des Berufungsurteils. Das Berufungsgericht hat darüber hinaus verkannt, dass eine Zurückverweisung in die erste Instanz nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt und die Erforderlichkeit einer umfangreichen Beweisaufnahme keinen zureichenden Grund darstellt.

Praxistipp: Durch eine Entscheidung, mit der das Berufungsgericht die Sache an die Vorinstanz zurückverweist, sind beide Parteien beschwert.