Anwaltsblog 1/2025: Verletzung rechtlichen Gehör durch fehlerhaften Anwendung von Präklusionsvorschriften!

Mit einer fehlerhaften Anwendung von Präklusionsvorschriften durch das Berufungsgericht hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 12. November 2024 – VI ZR 361/23):

Die schwangere Klägerin stellte sich am 13. Mai 2015 wegen Terminüberschreitung (errechneter Geburtstermin: 6. Mai) im Krankenhaus der Beklagten zu 1 vor. Die ihr empfohlene Geburtseinleitung lehnte die Klägerin an diesem Tag ebenso wie am 15., 17., 20. und 23. Mai 2015 ab. Am 24. Mai 2015 erklärte sie sich mit der Einleitung der Geburt einverstanden. Im Verlauf des Geburtsgeschehens wurde die Indikation zur Durchführung einer sekundären Sectio (Kaiserschnitt) gestellt, die von den Beklagten zu 2 und 3 durchgeführt wurde. Die Beklagte zu 4 verabreichte der Klägerin hierzu eine Spinalanästhesie, die jedoch, als die Beklagte zu 3 zum Sectio-Schnitt ansetzte, keine Wirkung zeigte. Die Klägerin schrie vor Schmerzen. Die Beklagte zu 4 stellte daraufhin auf Intubationsnarkose um. Die Sectio wurde fortgesetzt und das Kind gesund entbunden.

Die Klägerin macht geltend, durch die nicht wirkende Anästhesie habe sie einen schmerzhaften Bauchschnitt erlitten und leide psychisch unter dem für sie traumatischen Erlebnis. Sie sei nicht ordnungsgemäß und frühzeitig über die Vorteile der medikamentösen Geburtseinleitung aufgeklärt worden. Das Landgericht hat die Klage auf der Grundlage eines geburtsmedizinischen Gutachtens abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das OLG nach ergänzender Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Die Klägerin rügt zu Recht, das Berufungsgericht habe ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Die Annahme des Berufungsgerichts, es bedürfe der Einholung des von der Klägerin angebotenen anästhesiologischen Gutachtens nicht, weil sich auch ein unterstellter Behandlungsfehler bei Vergabe der Spinalanästhesie nicht schadensursächlich ausgewirkt habe, verstößt gegen den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Der Gehörsverstoß liegt allerdings nicht bereits in dem Verzicht auf die Einholung eines anästhesiologischen Gutachtens. Zwar ist bei der Auswahl eines medizinischen Sachverständigen grundsätzlich auf die Sachkunde in dem medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das der Eingriff bzw. die zu beurteilende medizinische Frage fällt. Diese Grundsätze stellt das Berufungsgericht jedoch nicht in Frage, sondern macht sie sich ausdrücklich zu eigen. Es kommt mit der Klägerin zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob die Spinalanästhesie von der Beklagten zu 4 standardgerecht durchgeführt wurde, nur von einem Sachverständigen auf dem Gebiet der Anästhesie zu beantworten ist. Auf die Einholung eines entsprechenden Gutachtens hat das Berufungsgericht nur deshalb verzichtet, weil es den entsprechenden Behandlungsfehler zugunsten der Klägerin unterstellt und seiner weiteren Prüfung zugrunde gelegt hat. Im Rahmen dieser weiteren Prüfung ist dem Berufungsgericht jedoch ein Gehörsverstoß unterlaufen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dieses Gebot verpflichtet das Gericht dazu, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und – soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft – in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht. So verhält es sich hier. Indem das Berufungsgericht die Schadensursächlichkeit des unterstellten anästhesiologischen Behandlungsfehlers allein mit dem Argument eines ordnungsgemäß durchgeführten sog. Kneiftestes verneint, lässt es erkennen, dass es das Vorbringen der Klägerin, eine fehlerfrei vorgenommene Spinalanästhesie hätte den Schmerz ausgeschaltet, im Kern nicht erfasst hat.

Die Klägerin rügt ferner zu Recht, dass das Berufungsgericht die Rüge, nicht ordnungsgemäß über die positiven Wirkungen einer medikamentösen Geburtseinleitung aufgeklärt worden zu sein, als präkludiert angesehen hat. Art. 103 Abs. 1 GG ist dann verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat. So liegt der Fall hier. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren vorgebracht, dass sie im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung über die Vorteile einer medikamentösen Geburtseinleitung ihren Widerstand aufgegeben und sich für eine frühere Geburtseinleitung entschieden hätte. Dann wäre sie gar nicht erst in die Situation einer sekundär erforderlich werdenden Sectio gekommen. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts handelte es sich bei diesem Vorbringen nicht um ein neues Angriffsmittel iSd. § 531 Abs. 2 ZPO. Die Klägerin hat diesen Vortrag im Kern vielmehr bereits erstinstanzlich zum Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme gehalten. Unbeschadet dessen handelt es sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts insoweit jedenfalls nicht um einen anderen Streitgegenstand im Verhältnis zu der auch nach Auffassung des Berufungsgerichts bereits erstinstanzlich erhobenen Rüge, nicht ordnungsgemäß über das Drohen einer Notsectio und darüber aufgeklärt worden zu sein, dass durch die Einleitung der Geburt keine erhöhte Sectio-Rate zu erwarten sei. Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht zu einem der Klägerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre, wenn es ihren Vortrag zu einer unzureichenden Risikoaufklärung vollständig gewürdigt hätte.

 

Fazit: Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht dazu, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und – soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft – in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht. Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet (BGH, Beschluss vom 27. August 2019 – VI ZR 460/17 –, MDR 2020, 56).

Anwaltsblog 32/2024: Anforderungen an das Verfahren bei Zurückweisung der Berufung durch Beschluss

 

Die ZPO enthält keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt bei beabsichtigter Zurückweisung der Berufung durch Beschluss der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Ob ein Hinweis des Berufungsgerichts bereits vor Vorliegen der Berufungsbegründung ausreicht, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 – XII ZR 92/22):

 

Die Parteien – der Kläger ist der Bruder der Geschäftsführerin der Beklagten – streiten nach einem Erbfall um die Herausgabe eines Grundstücks. Das Landgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2022 verkündet. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte am 28. April 2022 „Berufung und Vollstreckungsschutzantrag“ eingelegt und beantragt, durch Vorabentscheidung das angefochtene Urteil in seinem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen. Das OLG hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt und mit einem im schriftlichen Verfahren erlassenen Teilurteil vom 23. Juni 2022 den Antrag auf Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit zurückgewiesen. Ebenfalls am 23. Juni 2022 hat das OLG einen Beschluss mit dem Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos erlassen. Die Beklagte hat die Berufung mit einem am 24. August 2022 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Im Anschluss daran hat das Berufungsgericht am 5. September 2022 seinen Zurückweisungsbeschluss erlassen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Das OLG hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28. April 2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.

 

Fazit: Der nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung der Berufung kann erst nach dem Vorliegen der Berufungsbegründung einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel erteilt werden (zum Verfahren: Heßler in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 522 Rn. 31).

Anwaltsblog 4/2024: Auch ein nicht zu den Akten gelangter per beA übermittelter Schriftsatz wahrt die Frist!

Der BGH hatte zu entscheiden, ob eine verfahrensordnungswidrige Gehörsverletzung vorliegt, wenn eine rechtzeitig bei Gericht eingegangene Berufungsbegründungsschrift unberücksichtigt bleibt, weil sie nicht zur Verfahrensakte gelangt ist:

Der Beklagte hat gegen ein Urteil des Amtsgerichts, durch das er zur Räumung seiner Mitwohnung verurteilt worden ist, fristgerecht Berufung eingelegt. Das Landgericht hat die Berufung wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, weil eine Berufungsbegründung auch nach dem Verstreichen der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vorliege. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen. Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist.

Der Berufungsbegründungsschriftsatz ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen. Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt. Die per beA übersandte Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen Prüfvermerks an diesem Tag („Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17“) und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument – offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens – erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

(BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23)

 

Fazit: Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag (BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 – XII ZB 240/17 –, MDR 2018, 1334).

 

Anmerkung: Zwar werden bei fehlerhafter gerichtlicher Sachbehandlung für die III. Instanz Gerichtskosten nicht erhoben (§ 21 Abs. 1 Satz 1 GKG). Das ändert aber nichts daran, dass den Parteien, die für Notwendigkeit der Rechtsbeschwerde nicht verantwortlich sind, Anwaltskosten entstanden sind, die im Ergebnis der unterliegenden Partei aufzuerlegen sind. Einen einfacheren Weg, die eklatant falschen Entscheidung des Berufungsgerichts abzuändern, kennt das geltende Recht jedoch nicht. Die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, die Abhilfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör schafft, ist subsidiär und nicht gegeben, wenn ein Rechtsmittel statthaft ist (§ 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es wäre sinnvoll, wenn der Gesetzgeber Abhilfe schaffen würde, zumal Sachverhalte wie dieser aufgrund der nach wie vor mangelhaften Organisation der Behandlung elektronisch eingereichter Schriftsätze durch die Gerichte immer wieder vorkommen werden.

BGH: Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten

Ein LKW der Beklagten war an einem LKW der Klägerin vorbeigefahren und hatte letzteren dabei am (Spezial)Aufbau gestreift. Die Klägerin holte ein Sachverständigengutachten über die Höhe des Schadens ein und verlangte u. a. diesen Betrag von der Beklagten. Die Klage war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Letztlich wurde die Auffassung vertreten, dass der Kläger einen abgrenzbaren Schaden nicht dargelegt hätte, weil der gerichtliche Sachverständige festgestellt habe, dass die Beschädigungen an dem LKW der Klägerin nur teilweise dem Unfall zugeordnet werden könnten. Demgegenüber hatte die Klägerin zuletzt geltend gemacht, dass es sich bei dem Aufbau ihres LKW um einen Spezialaufbau handele, bei dem einzelne Arbeitsschritte nicht abgegrenzt werden könnten, vielmehr müsse der Aufbau insgesamt ersetzt werden. Eine eventuelle Wertverbesserung sei durch einen Abzug-neu-für-alt zu kompensieren.

Der BGH (Beschl. v. 6.6.2023 – VI ZR 197/21, MDR 2023, 1046) hebt die Entscheidung des KG auf und verweist die Sache zurück. Ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör liegt vor. Das KG hätte sich mit dem erwähnten Vortrag der Klägerin befassen müssen. Entweder hätte das KG die Einwände der Klägerin dem Sachverständigen zur erneuten Begutachtung zuleiten müssen oder es hätte nach § 412 ZPO ein neues Gutachten einholen müssen. Jedenfalls müssen die Tatsacheninstanzen Einwände der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten ernst nehmen.

Auch ein Ausforschungsbeweis liegt hier nicht vor. Die Klägerin ist nicht gehalten, zur Substantiierung ihres Vortrags zunächst ein außergerichtliches Gutachten einzuholen. § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung.

Fazit: Wird ein erhebliches Beweisangebot, z. B. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht berücksichtigt, liegt regelmäßig ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Eine Partei ist regelmäßig nicht verpflichtet, ein eigenes Gutachten zur Frage der Höhe eines Schadens einzuholen, sondern kann einen Schaden behaupten und dafür ein Sachverständigengutachten als Beweis anbieten. Das Gericht wird einem solchen Beweisantritt regelmäßig nachzugehen haben.

 

BVerfG zur Selbsteinhaltung einer vom Gericht gesetzten Frist

Ein etwas merkwürdiges Geschehen war Gegenstands einer Kammerentscheidung des BVerfG (Beschl. v. 7.2.2018 – 2 BvR 549/17) geworden. Das LG war aufgrund vorgelegter Lichtbilder zu der Überzeugung gelangt, dass die Klage begründet sei. Das OLG beabsichtigte, die von der Beklagten eingelegte Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und setzte eine Frist zur Stellungnahme bis zum 15.11. Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 7.11. ausführlich Stellung genommen hatte, traf das OLG sogleich die angekündigte Entscheidung. Dagegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde. Hauptsächlich wurde gerügt, das OLG hätte die Frist zum 15.11. abwarten müssen.

Die 2. Kammer des zweiten Senates betont zunächst, dass das OLG hier das rechtliche Gehör der Beklagten tatsächlich verletzt hatte! Das Gericht ist dazu verpflichtet, eine selbst gesetzte Frist dann auch einzuhalten, bevor entschieden wird. Allerdings reicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs alleine nicht dafür aus, um eine Entscheidung aufzuheben. Hinzukommen muss die Ursächlichkeit des Verfahrensfehlers für die Entscheidung. Hier hatte die Beklagte aber nicht dargelegt, was sie in der Frist, die ihr noch zur Verfügung gestanden hätte, noch vorgetragen hätte und welche Folgen dies für die Entscheidung hätte haben können. So bleibt die Verfassungsbeschwerde letztlich erfolglos!

Man konnte zunächst den Eindruck gewinnen, das Gericht sei hier in eine bewusst aufgestellte Anwaltsfalle getappt! Dagegen spricht allerdings, dass der Gesichtspunkt der Ursächlichkeit, der eigentlich Allgemeingut ist, später übersehen wurde.

Was unbedingt zum Basiswissen jedes Richters zählen muss: Selbst gesetzte (und natürlich auch gesetzliche!) Fristen müssen vor einer Entscheidung tatsächlich abgelaufen sein, selbst wenn schon Stellung genommen wurde. Besonderer Arbeitseifer in Verbindung mit Erledigungsdruck usw. darf nicht dazu führen, dass zu früh entschieden wird! Dabei empfiehlt es sich regelmäßig, nach Fristablauf noch weitere zwei bis drei Tage zu warten, damit auch auf anderen Faxgeräten eingehende Faxe und auf anderen Postwegen eingehende Schriftstücke, die nicht unverzüglich vorgelegt werden können, noch berücksichtigt werden. Bei einem Verstoß gegen das rechtliche Gehör kommt es bekanntlich auf ein Verschulden des Gerichts nicht an. Der rechtzeitige Schriftsatzeingang auf irgendeinem zulässigen Weg bei Gericht ist regelmäßig ausreichend.