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Insolvenzanfechtung unberechtigter Dividendenzahlungen nur gegenüber gutgläubigen Aktionären?

Prof. Dr. Georg Bitter  Prof. Dr. Georg Bitter
Universität Mannheim, Abteilung Rechtswissenschaft, Zentrum für Insolvenz und Sanierung (ZIS)

Im aktuellen BGH-Urteil vom 30.3.2023 – IX ZR 121/22 hat der IX. Zivilsenat entschieden, dass Dividendenzahlungen, die auf einem nichtigen Jahresabschluss beruhen, wegen Unentgeltlichkeit gemäß § 134 InsO anfechtbar sind. Die Privilegierung in § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG nützt dem gutgläubigen Aktionär gegenüber der Insolvenzanfechtung nichts, weil sie nur für den gesellschaftsrechtlichen Rückgewähranspruch gilt. Fälle wie „Wirecard“ lassen insoweit grüßen und die Anleger bangen!

Der IX. Zivilsenat überträgt die mit BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233 begründete neue Rechtsprechung zur Unentgeltlichkeitsanfechtung bei rechtsgrundlosen Leistungen auf gesellschaftsrechtlich unzulässige Dividendenzahlungen. Auch hier soll § 134 InsO nur in solchen Fällen eingreifen, in denen der Empfänger keinem zivilrechtlichen – nun gesellschaftsrechtlichen – Rückforderungsanspruch ausgesetzt ist (Rz. 13 ff. der Entscheidungsgründe). Im Ergebnis haftet nur der gutgläubige Aktionär auf Rückgewähr aus § 134 InsO, nicht hingegen der bösgläubige und damit weniger schutzwürdige Aktionär.

I. Vermeintliche oder echte Wertungswidersprüche der jüngeren Rechtsprechung?

Die von mir in KTS 2022, 423 ff. und ZIP 2023, 169 ff. an jener Rechtsprechung geübte Kritik weist der IX. Zivilsenat erstmals ausdrücklich zurück (Rz. 17 f. der Gründe), ohne dass die Begründung für mich nachvollziehbar wäre. Jene Wertungswidersprüche, welche der IX. Zivilsenat vor gut 30 Jahren selbst noch erkannt und zu vermeiden gesucht hatte (BGH v. 29.11.1990 – IX ZR 29/90, BGHZ 113, 98, 105 f. [juris-Rn. 21]; dazu Bitter, KTS 2022, 423, 451 f.; ZIP 2023, 169, 171 ff.), werden nun als „angebliche“ bzw. „vermeintliche“ Widersprüche abgetan. Will die heutige Besetzung des IX. Senats damit sagen, dass die früheren Richterkollegen im Jahr 1990 einem Irrtum unterlagen, als sie jenen Wertungswiderspruch aufzeigten, der sich auf der Basis der heutigen Rechtsprechung ergibt? Wird § 134 InsO immer nur dann angewendet, wenn ein Bereicherungsanspruch aus § 812 BGB an §§ 814, 817 BGB scheitert, laufen das Bereicherungs- und Anfechtungsrecht wertungsmäßig auseinander: Nur ein im Bereicherungsrecht als schutzwürdig erkannter und deshalb nicht der Rückforderung unterworfener Empfänger wird der Unentgeltlichkeitsanfechtung ausgesetzt und umgekehrt.

Die von mir im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des IX. Senats entwickelte Gegenposition, nach der alle rechtsgrundlosen Leistungen gemäß § 134 InsO anfechtbar sind, wird in Rz. 18 des neuen Urteils mit folgenden Worten in Frage gestellt: „Die vermeintlichen Wertungswidersprüche sollen nicht aufgelöst, sondern dadurch überdeckt werden, dass jede rechtgrundlose Leistung zugleich unentgeltlich im Sinne des § 134 InsO ist (Bitter, KTS 2022, 423, 476; ders., ZIP 2023, 169, 175).“ Doch ging es mir nicht um irgendeine „Überdeckung“ von (angeblich nur vermeintlichen) Widersprüchen, sondern allein um die Erkenntnis, dass der Tatbestand der „Unentgeltlichkeit“ i.S.v. § 134 InsO bei rechtsgrundlosen Leistungen völlig unabhängig davon erfüllt ist, ob die erbrachte Leistung zugleich nach § 812 BGB zurückgefordert werden kann oder nicht. Immer noch erläutert der IX. Senat nicht, warum ein Bereicherungsanspruch aus § 812 BGB bzw. im aktuellen Urteil ein gesellschaftsrechtlicher Rückgewähranspruch als relevante „Gegenleistung“ für den abgeflossenen Vermögenswert in Betracht kommen soll, obwohl der IX. Senat hierfür ansonsten immer fordert, dass die Parteien selbst eine Verknüpfung zwischen Leistung und „Gegenleistung“ hergestellt haben. Daran fehlt es bei rechtsgrundlosen Leistungen offensichtlich, weil niemand eine rechtsgrundlose Leistung erbringt, um im Gegenzug einen Anspruch aus § 812 BGB zu erlangen (näher Bitter, ZIP 2023, 169, 173 f.). Ebenso erbringt keine Gesellschaft eine gesellschaftsrechtlich unzulässige Dividendenzahlung, um als „Gegenleistung“ einen gesellschaftsrechtlichen Rückgewähranspruch (aus § 62 AktG) zu erlangen.

Ebenso erläutert der IX. Zivilsenat auch in seinem neuen Urteil nicht, warum bei einer nichtigen Schenkung der entstehende Bereicherungsanspruch nicht als Kompensation in Betracht kommen soll, wohl aber bei anderen nichtigen Verträgen (dazu schon Bitter, ZIP 2023, 169, 173). Bei einer nichtigen Schenkung stellt der BGH maßgeblich darauf ab, ob „– die Wirksamkeit des Grundgeschäfts unterstellt – dem Schuldner bereits nach dem Grundgeschäft keine ausgleichende Gegenleistung zufließen sollte“ (Rz. 13 der Entscheidungsgründe). Wie aber eine nichtige und damit rechtlich wirkungslose Willenserklärung über die Einordnung des Grundgeschäfts als „unentgeltlich“ i.S.v. § 134 InsO entscheiden kann, erklärt der IX. Zivilsenat auch in seinem neuen Urteil nicht.

Kurzum: Meine Kritik ist in keiner Weise entkräftet, während der BGH schlicht an seiner bisherigen Linie festhält und diese auf (fehlende) gesellschaftsrechtliche Rückgewähransprüche überträgt. Die dadurch hervorgerufenen, früher vom IX. Senat selbst noch erkannten Wertungswidersprüche bestehen nicht nur „angeblich“ oder „vermeintlich“, sondern sie sind real. Langfristig lässt sich so keine konsistente und überzeugende Rechtsprechung begründen.

II. Vorrang der Insolvenzanfechtung vor der gesellschaftsrechtlichen Privilegierung

Überzeugend erscheint es hingegen, wenn der IX. Zivilsenat in seinem ersten Leitsatz festhält, dass der aktienrechtliche Schutz des gutgläubigen Dividendenempfängers eine Insolvenzanfechtung nicht ausschließt (näher Rz. 32 ff. der Entscheidungsgründe; a.A. insbesondere Foerster, WM 2022, 2359 ff. m.w.N. zum Streitstand). Ganz allgemein gibt die Insolvenzanfechtung – wie der BGH mit Recht betont – dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, Leistungen des späteren Insolvenzschuldners auch dann zurückzufordern, wenn dies nach dem zugrunde liegenden Zivilrecht (hier Gesellschaftsrecht) nicht möglich wäre. Besonders deutlich wird dies am Paradefall des § 134 InsO, der echten Schenkung i.S.v. § 516 BGB. Obwohl der Beschenkte das Geschenk nach dem Zivilrecht behalten dürfte, muss er es in der Insolvenz des Schenkers zugunsten der Insolvenzgläubiger herausgeben, weil sein unentgeltlicher Erwerb speziell in der Mangelsituation der Insolvenz gegenüber den vorrangigen Interessen jener Insolvenzgläubiger zurückzutreten hat, die werthaltige Leistungen aus ihrem Vermögen an den späteren Insolvenzschuldner erbracht haben und nun nicht mehr befriedigt werden können (vgl. Bitter, KTS 2022, 423, 469 m.w.N.). Das Insolvenzrecht folgt insoweit eigenen Wertungen und es bedürfte klarer Anhaltspunkte, dass der gesellschaftsrechtliche Gesetzgeber den Schutz des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG auch gegenüber jenem Sonderrecht der Insolvenzanfechtung gewähren wollte.

Gerade weil aber das Insolvenzanfechtungsrecht eigenen Wertungen folgt, es insbesondere in § 134 InsO an das fehlende „Entgelt“, also die fehlende – von den Parteien selbst hergestellte – Verbindung zu einer „Gegenleistung“ anknüpft, sind rechtsgrundlose und/oder gesellschaftsrechtlich nicht berechtigte Leistungen unabhängig davon rückforderbar, ob sie im Einzelfall zugleich einen zivilrechtlichen Rückforderungsanspruch auslösen oder nicht. Wer schon zivilrechtlich zur Rückgewähr verpflichtet ist, muss jedenfalls erst recht der Unentgeltlichkeitsanfechtung unterliegen (oben I.).

Prof. Dr. Georg Bitter, Universität Mannheim

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