Anwaltsblog 35/2024: Nichtigkeit eines Immoblienkaufvertrages bei nicht beurkundeter Vorauszahlungsabrede?

Die Nichtigkeit eines Teils eines Vertrags führt im Zweifel zur Gesamtnichtigkeit des Rechtsgeschäfts (§ 139 BGB). Der BGH hatte zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen diese Vermutung widerlegt ist, wenn Parteien eines Grundstückskaufvertrages eine formunwirksame Vorauszahlungsabrede getroffen haben (BGH, Urteil vom 14. Juni 2024 – V ZR 8/23):

 

Der verstorbene Vater der Beklagten (Erblasser) verkaufte mit notariellem Vertrag (UR-Nr. 975) vom 23. März 2017 zu einem Kaufpreis von 40.000 € einen hälftigen Grundstücksmiteigentumsanteil an eine GmbH, deren Geschäftsführer der Kläger war. Dieser überwies am 6. April 2017 an den Erblasser 70.000 € unter Angabe des Verwendungszwecks „975/23.3.2017“ sowie am 15. Mai 2017 weitere 10.000 € mit dem Verwendungszweck „Restzahlung 975/23.3.2017“. Der Kaufvertrag wurde vollzogen. Am 8. November 2018 schlossen der Erblasser und der Kläger einen notariellen Kaufvertrag über die – weitere – Miteigentumshälfte des Erblassers zu einem Kaufpreis von ebenfalls 40.000 €. Anschließend übertrug die GmbH ihren von dem Erblasser erworbenen Miteigentumsanteil auf den Kläger.

Der auf Übertragung des verbliebenen (zweiten) Miteigentumsanteils gerichteten Klage hat das Landgericht stattgegeben. Das OLG hat sie abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Übereignung des zweiten Miteigentumsanteils. Der notarielle Kaufvertrag vom 8. November 2018 sei formunwirksam und damit nichtig. Soweit der Kläger behaupte, die mittels der beiden Überweisungen geleistete Gesamtzahlung von 80.000 € hätte in Höhe von 40.000 € vereinbarungsgemäß auf den Kaufpreis aus dem erst nachfolgend geschlossenen Kaufvertrag vom 8. November 2018 verrechnet werden sollen, handele es sich um eine beurkundungsbedürftige Vorauszahlungsabrede, die mangels Beurkundung nichtig sei. Nach der Auslegungsregel des § 139 BGB ziehe die Nichtigkeit dieses Vertragsteils die Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages nach sich.

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Ein Anspruch des Klägers auf Übereignung des zweiten Miteigentumsanteils kann sich aus dem Kaufvertrag vom 8. November 2018 über den zweiten Miteigentumsanteil ergeben; dass dieser Vertrag insgesamt unwirksam ist, ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend ist allerdings, dass die von dem Kläger behauptete Vereinbarung über die Vorauszahlung des Kaufpreises für den zweiten Miteigentumsanteil gemäß § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB iVm. § 125 Satz 1 BGB nichtig wäre, weil sie nicht notariell beurkundet wurde. Eine solche Vereinbarung ist beurkundungsbedürftig. Die Einigung über die Anrechnung einer Vorauszahlung auf die Kaufpreisforderung unterliegt dem Beurkundungszwang, weil sie konstitutive rechtliche Bedeutung hat. Das ergibt sich insbesondere daraus, dass im Zeitpunkt der Vorauszahlung die Kaufpreisforderung noch nicht besteht und die Vorauszahlung daher – ohne eine dahingehende Vereinbarung – nicht schon von Rechts wegen zu einer Teilerfüllung der Kaufpreisschuld führen könnte. Danach wäre die Vorauszahlungsvereinbarung beurkundungsbedürftig und – mangels Beurkundung – nichtig.

Damit steht aber nicht fest, dass der notarielle Kaufvertrag vom 8. November 2018 gemäß § 139 BGB insgesamt nichtig ist. Zwar ist dies nach der Auslegungsregel des § 139 BGB zu vermuten; doch kann diese Vermutung gerade im Falle einer Kaufpreisvorauszahlung bei Vorliegen besonderer Umstände widerlegt sein. Das kommt auch hier in Betracht. Die wegen des Formmangels einer Vorauszahlungsabrede zur Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages führende Vermutung des § 139 BGB ist dann widerlegt, wenn der Käufer die im Voraus geleistete Zahlung auf den Kaufpreis zu beweisen vermag. Denn dann kann es für ihn von untergeordneter Bedeutung sein, ob seine Kaufpreisschuld schon im Zeitpunkt ihrer Entstehung erlischt oder ob die Tilgung der Schuld noch von weiteren Rechtshandlungen abhängt. Entscheidend ist danach der Nachweis der Zahlung auf die noch nicht bestehende Schuld; dagegen kann nicht verlangt werden, dass der Käufer den Abschluss einer entsprechenden Vorauszahlungsabrede und deren Fortbestehen bei Abschluss des notariellen Kaufvertrages beweist. Weist der Käufer seine Zahlung auf die noch nicht bestehende Kaufpreisforderung nach, ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass sich die Parteien auch ohne die Anrechnungsabrede auf den beurkundeten Teil des Rechtsgeschäfts eingelassen hätten. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Verkäufer eine Quittung über die Zahlung erteilt hat. Die Widerlegung der Vermutung kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Verkäufer die Zahlung quittiert hat; entscheidend ist, dass der Käufer aus seiner Sicht zweifelsfrei nachweisen kann, vor Vertragsschluss auf die noch nicht bestehende Kaufpreisschuld gezahlt zu haben. Daran gemessen ist es möglich, dass der Kläger die Vermutung der Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages vom 8. November 2018 durch einen entsprechenden Zahlungsnachweis widerlegen kann. Ein Beleg der Kaufpreiszahlung ergibt sich allerdings nicht aus den von dem Kläger vorgelegten Überweisungen. Zwar könnten Überweisungsträger grundsätzlich ausreichen. Hier fehlt es aber an einer entsprechenden Tilgungsbestimmung. Die Überweisungsnachweise beziehen sich ausdrücklich auf den Kaufvertrag vom 23. März 2017 über den ersten Miteigentumsanteil. Diese Belege enthalten damit auch aus Sicht des Klägers keine Tilgungsbestimmung, die sich auf den zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Kaufvertrag über den zweiten Miteigentumsanteil bezieht. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann aber die als „Immobilien-Übergabeprotokoll“ bezeichnete Erklärung der Parteien vom 15. Mai 2017 aus Sicht des Klägers geeignet sein, die Vorauszahlung auf den Kaufpreis für den zweiten Miteigentumsanteil nachzuweisen. Darin haben die Parteien gemeinsam erklärt, der Kläger habe 80.000 € des Kaufpreises für die Immobilie gezahlt, wobei 40.000 € als „Vorschuss für den Rest des Gebäudes“ darstellten, und die Parteien anerkennen, „dass sie keine weiteren Ansprüche haben“.

Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben. Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung die Echtheit des „Immobilien-Übergabeprotokolls“ zu klären haben und auf dieser Grundlage würdigen müssen, ob der Kläger aus seiner Sicht davon ausgehen konnte, dass er die Zahlung auf die noch nicht bestehende Forderung nachweisen kann.

 

Fazit: Die wegen des Formmangels einer Vorauszahlungsabrede zur Gesamtnichtigkeit des Kaufvertrages führende Vermutung des § 139 BGB ist bereits dann widerlegt, wenn der Käufer die im Voraus geleistete Zahlung auf den Kaufpreis zu beweisen vermag (BGH, Urteil vom 17. März 2000 – V ZR 362/98 –, MDR 2000, 874). Die Widerlegung der Vermutung kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Verkäufer die Zahlung quittiert hat; entscheidend ist, dass der Käufer aus seiner Sicht zweifelsfrei nachweisen kann, vor Vertragsschluss auf die noch nicht bestehende Kaufpreisschuld gezahlt zu haben.

Anwaltsblog 34/2024: Einsatz vollmachtloser Vertreter bei Beurkundungen

Nach § 17a Abs. 2a Nr. 1 BeurkG soll der Notar bei Verbraucherverträgen darauf hinwirken, dass die rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Verbrauchers von diesem persönlich oder durch eine Vertrauensperson vor dem Notar abgegeben werden. Ob es damit vereinbar ist, wenn bei Verträgen unter Beteiligung von Kommunen für diese auf deren Wunsch Mitarbeiter des Notars als vollmachtlose Vertreter auftreten, hatte der Notarsenat des BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 8. Juli 2024 – NotSt (Brfg) 3/23):

 

Eine Anwaltsnotarin in Rheine beurkundete von Oktober 2019 bis Mai 2021 fünf Grundstückskaufverträge, bei denen für die Stadt Rheine als Verkäuferin jeweils eine Mitarbeiterin der Notarin als vollmachtlose Vertreterin auftrat. Im Dezember 2020 beurkundete sie einen Kaufvertrag über Teileigentum, wobei für die Stadt Rheine als Käuferin eine Mitarbeiterin der Klägerin als vollmachtlose Vertreterin auftrat. Die Stadt Rheine hatte zuvor jeweils um diese Verfahrensweise gebeten. In allen Fällen lag vor der Beurkundung mindestens ein Vertragsentwurf vor. Der Landgerichtspräsident  leitete ein Disziplinarverfahren ein, mit dem er der Notarin vorwarf, durch den systematischen Einsatz eines vollmachtlosen Vertreters auf Seiten der Stadt Rheine gegen die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Gestaltung des Beurkundungsverfahrens (§ 17 Abs. 1 BeurkG, § 14 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BNotO) verstoßen zu haben, und verhängte eine Geldbuße. Die hiergegen erhobene Anfechtungsklage der Notarin hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG verstieß der jeweilige Einsatz einer Mitarbeiterin als vollmachtlose Vertreterin der Stadt Rheine nicht gegen die Amtspflichten eines Notars.

Der Antrag des Landgerichtspräsidenten auf Zulassung der Berufung wird vom BGH, der in Disziplinarsachen gegen Notare Berufungsinstanz ist, abgelehnt. Der Notar hat nicht eine Partei zu vertreten, sondern die Beteiligten unabhängig und unparteiisch zu betreuen (§ 14 Abs. 1 BNotO). Er hat jedes Verhalten zu vermeiden, das den Anschein eines Verstoßes gegen seine Amtspflichten erzeugt, insbesondere durch den Anschein der Abhängigkeit oder Parteilichkeit (§ 14 Abs. 3 BNotO). Im Beurkundungsverfahren soll der Notar den Willen der Beteiligten erforschen, den Sachverhalt klären, die Beteiligten über die rechtliche Tragweite des Geschäfts belehren und ihre Erklärungen klar und unzweideutig in der Niederschrift wiedergeben. Dabei soll er darauf achten, dass Irrtümer und Zweifel vermieden sowie unerfahrene und ungewandte Beteiligte nicht benachteiligt werden (§ 17 Abs. 1 BeurkG). Das Beurkundungsverfahren ist entsprechend zu gestalten, weshalb der Notar bei Verbraucherverträgen darauf hinwirken soll, dass die rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Verbrauchers von diesem persönlich oder durch eine Vertrauensperson vor dem Notar abgegeben werden.

Nach diesen Grundsätzen ist es nicht zu beanstanden, dass das OLG die von der Notarin in sechs Fällen vorgenommene Beurkundung unter Einsatz einer eigenen Mitarbeiterin als vollmachtloser Vertreterin der Stadt Rheine nicht als Dienstvergehen gewertet hat. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bei den Verträgen die Stadt, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, beteiligt war. Gegen die ihr gegenüber der Stadt Rheine obliegende Schutzpflicht hat die Notarin nicht verstoßen. Die Stadt hat ihre vollmachtlose Vertretung durch einen Mitarbeiter der Klägerin selbst beantragt und im Vorfeld des Beurkundungstermins jeweils einen Vertragsentwurf zur Prüfung erhalten. Im Unterschied zum schutzbedürftigen Verbraucher ist sie als geschäftserfahrene Kommune in der Regel nicht belehrungsbedürftig.

Anders als der Landgerichtspräsident meint, hat die Notarin nicht dadurch den Anschein der Abhängigkeit von oder der Parteilichkeit zugunsten der Stadt Rheine erweckt, dass sie dieser planmäßig ihre eigenen Mitarbeiter als vollmachtlose Vertreter zur Verfügung gestellt und damit eine kostenlose Serviceleistung erbracht habe. Dieser Vorwurf erscheint angesichts der absoluten Zahl der fraglichen Beurkundungsvorgänge – sechs über einen Zeitraum von rund 18 Monaten – fernliegend. Im Übrigen hatte die Stadt die Bestimmung des beurkundenden Notars in allen Fällen ihren Vertragspartnern überlassen, so dass die Beauftragung der Klägerin nicht etwa von einem durch eine „kostenlose Serviceleistung“ erkauften Wohlwollen der Stadt, sondern von der Auswahlentscheidung von deren Vertragspartnern abhing.

 

Anmerkung: Bei Mitarbeitern des Urkundsnotars handelt es nicht um Vertrauenspersonen von Verbrauchern iSd. § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 Fall 2 BeurkG. Vertrauensperson kann nur sein, wer als Interessenvertreter des Verbrauchers handelt. Deshalb kommt ein zur Neutralität Verpflichteter nicht als Vertrauensperson in Betracht. Der Zweck des § 17 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 BeurkG steht daher der Annahme entgegen, Mitarbeiter des Notars könnten Vertrauenspersonen eines Urkundsbeteiligten sein.

Anwaltsblog 33/2024: Architektenvertrag als Fernabsatzvertrag

Dass ein über ein Internetportal eines Anbieters geschlossener Vertrag über die Erbringung von Architektenleistung bei fehlender Widerrufsbelehrung und Widerruf durch den Verbraucher dazu führen kann, dass der Architekt seine Leistungen unentgeltlich erbringt, hat diesem das OLG Frankfurt bestätigt (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30. Januar 2024 – 21 U 49/23):

 

Die Kläger, die den Umbau ihres Einfamilienhauses beabsichtigten und zuvor einen Vertrag mit einem anderen Architekten über die Erbringung der Genehmigungsplanung widerrufen hatten, schlossen mit der Beklagten über deren Internetportal am 13.06.2022 per E-Mail einen Architektenvertrag. Das Angebot der Beklagten enthielt keine Widerrufsbelehrung. Die Kläger leisteten auf drei Abschlagsrechnungen Zahlungen in Höhe von insgesamt 23.102,13 €. Eine vierte Abschlagsrechnung in Höhe von 11.284,26 € wurde nicht mehr bezahlt. Mit E-Mail vom 28.11.2022 erklärten die Kläger den Widerruf des Vertrags. Mit der Klage machen sie die Rückzahlung der Abschlagszahlungen geltend und begehren die Feststellung, dass der Beklagten keine weiteren Zahlungsansprüche zustehen.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts auf die fehlende Erfolgsaussicht hat die Beklagte die Berufung zurückgenommen. Bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag handelt es sich um einen Fernabsatzvertrag iSd. § 312c BGB. Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass den Klägern die Ausübung des Widerrufsrechts nicht unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB verwehrt ist. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Kläger wegen der Stellung des Klägers zu 2 als Rechtsanwalt sowie wegen des erklärten Widerrufs gegenüber dem früheren Architekten ein „Sonderwissen“ gehabt hätten. Der Umstand, dass ein Verbraucher grundsätzlich Kenntnis von einem Widerrufsrecht sowie bei unterlassener Belehrung von einer verlängerten Widerrufsbelehrung hat, hindert diesen nicht an der Ausübung dieser ihm letztlich wegen eines Verstoßes des handelnden Unternehmens eingeräumten Rechtsposition. Insbesondere sehen die der Umsetzung der europarechtlichen Verbraucherschutzrichtlinien dienenden entsprechenden Regelungen wie in § 312c BGB keine Einzelfallbetrachtung des etwaigen Wissens des jeweils handelnden Verbrauchers vor. Es ist daher auch nur folgerichtig, eine etwaige Korrektur über § 242 BGB nur in sehr engen Grenzen zuzulassen. Ein solcher besonderer Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Dafür, dass die Kläger – wie die Beklagte dies im Ergebnis darzustellen versucht – systematisch und in betrügerischer Absicht sich von vorneherein Leistungen ohne Vergütungspflicht erschleichen wollten, bestehen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte. Dass die Kläger letztlich von dem Fehler der Beklagten profitieren können, ist Folge der gesetzlichen Regelung und steht der Ausübung der Rechtsposition nicht entgegen.

 

Fazit: Dem Verbraucher steht sowohl bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen als auch bei Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht gemäß § 355 BGB zu, wie § 312g Abs. 1 BGB bestimmt. Dem Verbraucher wird ein an keine materiellen Voraussetzungen gebundenes, einfach auszuübendes Recht zur einseitigen Loslösung vom Vertrag in die Hand gegeben. Ein Ausschluss des Widerrufsrechts wegen Rechtsmissbrauchs oder unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) kommt nur ausnahmsweise – unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers – in Betracht, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer (BGH, Urteil vom 16. März 2016 – VIII ZR 146/15 –, MDR 2016, 575). Bei einem auf einem Verstoß gegen die Pflicht zur Widerrufsbelehrung beruhenden Widerruf kann der Unternehmer keinen Wertersatz unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung verlangen (EuGH, Urteil vom 17. Mai 2023 – C-97/22 -, MDR 2023, 895).

Anwaltsblog 32/2024: Anforderungen an das Verfahren bei Zurückweisung der Berufung durch Beschluss

 

Die ZPO enthält keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt bei beabsichtigter Zurückweisung der Berufung durch Beschluss der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Ob ein Hinweis des Berufungsgerichts bereits vor Vorliegen der Berufungsbegründung ausreicht, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 – XII ZR 92/22):

 

Die Parteien – der Kläger ist der Bruder der Geschäftsführerin der Beklagten – streiten nach einem Erbfall um die Herausgabe eines Grundstücks. Das Landgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2022 verkündet. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte am 28. April 2022 „Berufung und Vollstreckungsschutzantrag“ eingelegt und beantragt, durch Vorabentscheidung das angefochtene Urteil in seinem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen. Das OLG hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt und mit einem im schriftlichen Verfahren erlassenen Teilurteil vom 23. Juni 2022 den Antrag auf Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit zurückgewiesen. Ebenfalls am 23. Juni 2022 hat das OLG einen Beschluss mit dem Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos erlassen. Die Beklagte hat die Berufung mit einem am 24. August 2022 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Im Anschluss daran hat das Berufungsgericht am 5. September 2022 seinen Zurückweisungsbeschluss erlassen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Das OLG hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28. April 2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.

 

Fazit: Der nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung der Berufung kann erst nach dem Vorliegen der Berufungsbegründung einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel erteilt werden (zum Verfahren: Heßler in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 522 Rn. 31).

Anwaltsblog 31/2024: Verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei

Wieder einmal musste der BGH ein OLG korrigieren, das überspannte Anforderung an die Substantiierungspflicht gestellt hatte (BGH, Beschluss vom 25. April 2024 – III ZR 54/23):

 

Dem Kläger wurde am 13. August 2019 die Fahrerlaubnis entzogen. Das Verwaltungsgericht hob den Bescheid auf und wies den Beklagten an, den Führerschein zurückzugeben, was im Februar 2021 erfolgte. Der Kläger, der im fraglichen Zeitraum bei einem Unternehmen arbeitete, reduzierte mit Wirkung zum 1. September 2019 seine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden auf 28 Wochenstunden und arbeitete in der Folge nur noch an vier Tagen pro Woche. Er behauptet Einkommensverluste aufgrund des Fahrerlaubnisentzugs in Höhe von insgesamt 31.678 €. Durch den erhöhten Zeitaufwand für den Arbeitsweg sei er gezwungen gewesen zu sein, seine Arbeitszeit zu reduzieren. Der Arbeitsweg habe sich durch den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel auf mindestens eineinhalb Stunden einfach verlängert, während er vorher mit dem Motorrad lediglich rund 30 Minuten einfach benötigt habe und an Staus hätte vorbeifahren können. Er hätte ohne Arbeitszeitreduzierung um 6.00 Uhr morgens das Haus verlassen müssen und wäre meist erst nach 22.00 Uhr abends zurückgekehrt. Dies sei nicht zumutbar gewesen, da er so kaum noch Freizeit gehabt hätte. Aus dem um 1.551 € niedrigeren Brutto-Lohnanspruch über 18 Monate errechne sich ein Schaden in Höhe von 27.918 €. Zudem habe er in diesem Zeitraum in Höhe von 3.760 € geringere Bonuszahlungen erhalten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das OLG die Berufung zurückgewiesen. Es fehle zumindest an der Kausalität des Entzugs der Fahrerlaubnis für den geltend gemachten Vermögensschaden. Der Kläger habe durch die Reduzierung seiner Arbeitszeit in den Geschehensablauf eingegriffen und selbst eine weitere Ursache gesetzt, die seinen Vermögensschaden erst herbeigeführt habe. Er habe zum Nachweis seiner Behauptungen hinsichtlich der Fahrzeit mit dem Motorrad und öffentlichen Verkehrsmitteln lediglich einen Screenshot eines Routenplaners vorgelegt. Der Beklagte habe substantiiert bestritten, dass die darin angegebene Fahrzeit mit dem PKW oder dem Motorrad zu Arbeitsbeginn des Klägers im Berufsverkehr auch nur annäherungsweise erreichbar sei. Der Kläger habe seinen Vortrag nicht weiter substantiiert, insbesondere nicht im Hinblick auf die bei Arbeitsbeginn und Arbeitsende tatsächlich erreichbaren Fahrzeiten.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Das ist u.a. dann der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist dabei schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann vielmehr Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten.

Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zu den Fahrzeiten sei unsubstantiiert, das von ihm beantragte Sachverständigengutachten müsse deswegen nicht eingeholt werden, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Kläger hat in der Klageschrift unter Vorlage einer Wegzeitberechnung (Screenshot eines Routenplaners) vorgetragen, vor Entziehung der Fahrerlaubnis für den Weg zur Arbeit ein Motorrad benutzt zu haben, mit dem der Arbeitsweg in etwa 30 Minuten je einfache Strecke zu bewältigen gewesen sei, während er mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens eineinhalb Stunden je einfache Strecke benötigt habe. In seiner Replik auf die Klageerwiderung hat er behauptet, die der Klageschrift beigefügte Wegzeitberechnung sei richtig und spiegele die durchschnittliche Reisezeit zu Arbeitsbeginn und nach Beendigung der Arbeit wider. Zum Beweis hat er die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Bereits dieses Vorbringen hätte dem Tatrichter Veranlassung geben müssen, in die Beweisaufnahme einzutreten und einen – ortskundigen und mit den dort gegebenen Verhältnissen im Berufsverkehr vertrauten – Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. In der Berufungsbegründung hat der Kläger sein Vorbringen überdies dahingehend ergänzt, dass sich die rund 30-minütige Fahrzeit mit dem Motorrad selbst bei vollständiger Sperrung der kürzesten Strecke in der „Rush-Hour“ bei Nutzung einer Alternativroute nur um neun Minuten erhöhte, und sodann an die Einholung des angebotenen Sachverständigengutachtens erinnert. Weiterer Angaben für die Behauptung, dass die Fahrzeit mit dem Motorrad deutlich kürzer gewesen sei als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, bedurfte es nicht.

 

Fazit: Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH v. 1.6.2005 – XII ZR 275/02, MDR 2006, 48). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10, MDR 2012, 1033).

Anwaltsblog 30/2024: Muss für das arglistige Verschweigen eines Mangels eine moralisch verwerfliche Gesinnung des Verkäufers nachgewiesen werden?

 

Ob ein arglistiges Verschweigen eines Mangels iSv. § 444 BGB voraussetzt, dass der Verkäufer „mit einer moralisch verwerflichen Gesinnung“ handelt, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2024 – V ZR 212/23):

 

Die Kläger erwarben mit Vertrag vom 8. März 2019 von den Beklagten ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück unter Ausschluss der Haftung für Sachmängel. Die Beklagten hatten das Haus im März 2017 erworben und bis zum Verkauf an die Kläger selbst bewohnt. Nach Einholung eines Gutachtens eines Bausachverständigen erklärten die Kläger wegen mangelhafter Kellerabdichtung im August 2019 den Rücktritt vom Kaufvertrag und leiteten ein selbständiges Beweisverfahren ein. Das Landgericht hat die Klage, mit die Kläger die Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangen, abgewiesen; das OLG die Berufung zurückgewiesen. Die Kläger hätten ein arglistiges Verschweigen von Mängeln durch die Beklagten nicht bewiesen. Zwar seien die Kelleraußen- und -innenwände nach dem Ergebnis des gerichtlichen Sachverständigengutachtens messbar feucht. Das Landgericht habe aber nicht festgestellt, dass die Beklagten die Feuchtigkeitsbelastung erkennen konnten, während sie das Haus von März 2017 bis März 2019 bewohnten. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Feststellungen ergäben sich aus dem Berufungsvorbringen nicht. Die gerichtliche Sachverständige habe ausgeführt, dass die Frage, ob für die Beklagten Feuchtigkeitserscheinungen wahrnehmbar gewesen seien, nicht mit absoluter Sicherheit zu beantworten sei. Auch das von den Klägern eingeholte Privatgutachten enthalte dazu keine Ausführungen. Soweit die Kläger nunmehr rügten, der Privatsachverständige hätte als Zeuge vernommen werden müssen, sei dies verspätet. Die Rüge hätte innerhalb der Berufungsbegründungsfrist erhoben werden müssen. Sie sei auch in der Sache nicht berechtigt. Der Privatsachverständige sei nicht als Zeuge dafür benannt worden, dass den Beklagten die Feuchtigkeits- und Schimmelbildung bekannt gewesen sei und sie dies den Klägern arglistig verschwiegen hätten.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat mit der Verneinung der Sachmängelhaftung der Beklagten für die Feuchtigkeit der Kellerwände den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze findet, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots auf einer vorweggenommenen tatrichterlichen Beweiswürdigung beruht oder Präklusionsvorschriften in offenkundig unrichtiger Weise angewandt werden. So verhält es sich hier, soweit das Berufungsgericht die auf die Feuchtigkeit der Kellerwände gestützte Klage abgewiesen hat, ohne dem Beweisantrag der Kläger auf Vernehmung des Privatgutachters als sachverständigen Zeugen nachzugehen. Die Kläger haben bereits in erster Instanz den von ihnen beauftragten Privatgutachter als sachverständigen Zeugen (§ 414 ZPO) dafür benannt, dass die Beklagten von den Feuchtigkeitserscheinungen gewusst und diese arglistig verschwiegen haben, da sie an den betroffenen Stellen unmittelbar vor dem Besichtigungstermin im Juni 2019 Maler- und Putzarbeiten ausgeführt haben. Die unterbliebene Beweisaufnahme haben die Kläger in der Berufungsbegründung und damit rechtzeitig gerügt.

Die Zurückweisung dieses Vorbringens als verspätet beruht auf einer offenkundig unrichtigen Anwendung der Präklusionsvorschriften. Die Kläger haben in der Berufungsinstanz das erstinstanzliche Vorbringen präzisiert und vorgetragen, dass der Privatsachverständige bei seiner Besichtigung am 28. Juni 2019 im Keller Schimmel- und Feuchtigkeitsbildung festgestellt habe, „es somit durch sachverständigen Zeugenbeweis festgestellt sei, dass knapp acht Wochen nach Einzug der Kläger Feuchtigkeit und Schimmelbildung in dem Keller, den die Beklagten vormals als Fitnessraum genutzt hätten“, vorhanden gewesen sei. Zudem habe der als Zeuge benannte Privatgutachter festgestellt, dass die Wände und die Decke neu gestrichen und lokal ausgebessert und die Wandoberflächen lokal ausgebessert und gespachtelt worden seien. Schließlich durfte das Berufungsgericht von der Vernehmung des Privatsachverständigen als sachverständigen Zeugen (§ 414 ZPO) auch nicht mit der Begründung absehen, es sei plausibel und nicht zu widerlegen, dass die Beklagten die Immobilie im Frühjahr 2017 ohne erkennbare Feuchtigkeit übernommen hätten, weil die gerichtliche Sachverständige die Erkennbarkeit der Feuchteerscheinungen nicht mit absoluter Sicherheit habe feststellen können. Dies stellt eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung dar. Das Berufungsgericht übersieht, dass es keine dem Sachverständigenbeweis zugängliche Frage ist, ob die Beklagten die Feuchtigkeit erkannt haben. Zu der Kenntnis der Beklagten von der Feuchtigkeit konnte die gerichtliche Sachverständige aus eigener Anschauung keine Feststellungen treffen. Darüber musste sich das Berufungsgericht auf der Grundlage des unter Beweis gestellten Vorbringens der Parteien eine Überzeugung bilden. Der Beweisantrag der Kläger zielt darauf, die Grundlage für eine dahingehende Überzeugungsbildung des Gerichts zu schaffen.

Der Verstoß gegen den Anspruch auf das rechtliche Gehör ist entscheidungserheblich. Nach § 444 BGB darf sich der Verkäufer auf einen in dem Kaufvertrag vereinbarten Haftungsausschluss nicht berufen, soweit er den Mangel arglistig verschwiegen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach einer Vernehmung des Privatgutachters als sachverständigen Zeugen – zweckmäßigerweise im Beisein der gerichtlichen Sachverständigen – zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. Wenn ein sachverständiger Zeuge bereits drei Monate nach Auszug der Beklagten eine erhebliche Feuchtigkeit der Kellerwände und einen Neuanstrich der betroffenen Stellen erkennt, kann dies Rückschlüsse auf eine erhebliche Feuchtigkeit auch in der Vergangenheit sowie eine Kenntnis der Beklagten und gegebenenfalls sogar eine bewusste Vertuschung der Schäden zulassen, zumal bereits die frühere Mieterin Feuchtigkeits- und Schimmelbildung an denselben Stellen bemerkt und diese zum Anlass für eine Mietminderung genommen haben soll.

 

Fazit: Arglist setzt nicht voraus, dass der Verkäufer „mit einer moralisch verwerflichen Gesinnung“ handelt. Ein arglistiges Verschweigen eines Mangels iSv. § 444 BGB ist bereits dann gegeben, wenn der Verkäufer den Mangel kennt oder ihn zumindest für möglich hält und zugleich weiß oder doch damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer den Mangel nicht kennt und bei Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt geschlossen hätte (BGH, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 73/18 -, MDR 2019, 1376).

Anwaltsblog 29/2024: Wann führen Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung zur Unwirksamkeit der Zustellung?

Der BGH hatte zu entscheiden, welche Auswirkungen Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung einer Entscheidung auf die Wirksamkeit der Zustellung haben (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 – XII ZB 493/22):

Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit einem am 7. März 2022 zugestellten Beschluss, der einen auf den 24. Februar 2022 lautenden Verkündungsvermerk trägt, zur Zahlung eines Zugewinnausgleichs von 83.248,50 € verpflichtet. Auf Beanstandungen der Beteiligten über Unvollständigkeiten des Beschlusses hat das AG am 8. März 2022 darauf hingewiesen, dass den Beteiligten „versehentlich Ausfertigungen des am 24. Februar 2022 verkündeten Beschlusses übersandt“ worden seien, die – wahrscheinlich aufgrund von Formatierungsfehlern bei der Textverarbeitung – nicht mit dem Originalbeschluss in der Gerichtsakte übereinstimmten. Zugleich hat es die Beteiligten gebeten, die „übersandten Beschlüsse zurückzureichen“, damit die „Entscheidung (…) erneut zugestellt werden“ könne. Gegen den ihm am 24. März 2022 erneut zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner mit am 20. April 2022 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt. Das OLG hat die Beschwerde als verfristet verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das OLG ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass die Beschwerde nicht rechtzeitig eingelegt worden ist. Die Monatsfrist des § 63 Abs. 1, 3 Satz 1 FamFG begann ohne Rücksicht auf die Mängel der Beschlussausfertigung bereits mit der am 7. März 2022 erfolgten Zustellung zu laufen. Bei Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter beglaubigter Abschrift kommt es für die Wirksamkeit der Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist entscheidend darauf an, ob die zugestellte beglaubigte Abschrift formell und inhaltlich geeignet war, den Beteiligten die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen. Der Zustellungsempfänger muss aus der beglaubigten Abschrift wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können. Dies war hinsichtlich der am 7. März 2022 zugestellten beglaubigten Abschrift der Fall. Sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen der Abschrift ergab sich seine Verpflichtung zur Zahlung eines Zugewinnausgleichsbetrags in Höhe von 83.248,50 € nebst Zinsen. Auch wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe unvollständig waren, ließen diese allein noch keine Zweifel am Umfang der Zahlungsverpflichtung aufkommen. Da die Zustellung am 7. März 2022 wirksam war, konnte die nochmalige Zustellung den Lauf der Frist nicht mehr beeinflussen. Denn das AG konnte durch die Veranlassung der erneuten Zustellung die Rechtswirkungen der bereits erfolgten Zustellung nicht mehr rückgängig machen.

Das OLG hätte jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist bewilligen müssen. Denn der Antragsgegner hat diese unverschuldet versäumt. Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten, welches er sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsste, ist unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht gegeben. Zwar ist die verspätete Einlegung des Rechtsmittels auf den Irrtum des Rechtsanwalts über die den Fristlauf auslösende Zustellung zurückzuführen. Dass dieser Irrtum auf der Mitteilung des Gerichts beruhte, entlastet den Rechtsanwalt noch nicht ohne Weiteres. Denn auf eine unzutreffende Rechtsauskunft des Gerichts darf er sich nicht ohne Weiteres verlassen, sondern ist verpflichtet, die sich bei der Verfahrensführung stellenden Rechtsfragen in eigener Verantwortung zu überprüfen. Dementsprechend schließen selbst ursächliche Gerichtsfehler im Allgemeinen ein anwaltliches Verschulden nicht aus. Anderes gilt indessen, wenn dem Rechtsanwalt vom Gericht gegebene Informationen sich auf gerichtsinterne Vorgänge beziehen und die Unrichtigkeit der Informationen mithin nicht ohne Weiteres zu erkennen ist. Erklärt etwa das Gericht die bereits erfolgte Zustellung für unwirksam und ist die Unrichtigkeit dieser Information für den Rechtsanwalt nicht ohne Weiteres erkennbar, so trifft den Rechtsanwalt kein Verschulden, wenn er davon ausgeht, dass erst die wiederholte Zustellung wirksam ist und den Lauf einer Frist auslöst. So liegt es auch im vorliegenden Fall. Die Aufforderung, die zugestellte Ausfertigung zurückzusenden, erfolgte durch die zuständige Richterin. Zwar waren den Beteiligten Unvollständigkeiten aufgefallen, jedoch war damit dem Rechtsanwalt das konkrete Ausmaß der Abweichungen von der erlassenen Entscheidung nicht erkennbar. Aus diesem Grund konnte er auch nicht aus eigener Kenntnis von der Wirksamkeit der ersten Zustellung ausgehen. Zumal er die erhaltene Ausfertigung auf die Aufforderung des Gerichts zurückgegeben hatte, ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er hinsichtlich des Laufs der Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist die zweite Zustellung für maßgeblich gehalten hat.

Ob der Antragsgegner konkludent einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, kann offenbleiben. Denn bei der gegebenen Sachlage hätte das OLG ihm von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligen müssen. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben.

 

Fazit: Veranlasst die Geschäftsstelle des Gerichts die nochmalige Zustellung eines Versäumnisurteils, weil sie irrig davon ausgeht, die bereits erfolgte Zustellung sei wegen fehlender Belehrung über den Einspruch unwirksam, so wird der bereits mit der ersten Zustellung ausgelöste Lauf der Einspruchsfrist davon nicht berührt. Den Rechtsanwalt, der sich wegen der wiederholten Zustellung beim Gericht nach dem Grund erkundigt und von der Geschäftsstelle die nicht näher erläuterte Auskunft erhält, die erste Zustellung sei unwirksam und könne als gegenstandslos betrachtet werden, trifft jedenfalls dann kein Verschulden, wenn die Auskunft nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Eine Pflicht zu einer weiteren Nachfrage nach dem konkreten Grund der Unwirksamkeit trifft ihn nicht (BGH, Versäumnisurteil vom 15. Dezember 2010 – XII ZR 27/09 –, MDR 2011, 316).

Anwaltsblog 28/2024: Terminsgebühr verdient durch tel. Besprechung mit gegnerischen Rechtsanwalt

Mit den Voraussetzungen für das Entstehen einer Terminsgebühr bei außergerichtlichen Besprechungen des Rechtsanwalts mit der Gegenseite hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Urteil vom 20. Juni 2024 – IX ZR 80/23):

Ein Rechtsschutzversicherer verlangt von der beklagten Rechtsanwaltsgesellschaft die Rückzahlung der Terminsgebühr von 1.782,14 €, die er als Vorschuss für ein Berufungsverfahren seines Versicherungsnehmers an die Rechtsanwaltsgesellschaft gezahlt hat. Die Klage des Versicherungsnehmers gegen eine Bank wegen des Widerrufs eines Verbraucherdarlehensvertrags war in erster Instanz abgewiesen, das Urteil am 6. Juli 2019 zugestellt worden. Die Beklagte legte am 6. August 2019 für den Versicherungsnehmer Berufung ein und begründete diese unter dem 8. Oktober 2019. Die Berufung wurde durch das OLG mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die Klägerin ist der Ansicht, eine Terminsgebühr sei nicht entstanden. Die Beklagte behauptet, einer ihrer Geschäftsführer habe am 6. August sowie am 8. Oktober 2019 der Prozessbevollmächtigten der Bank telefonisch einen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Diese habe jeweils die Weiterleitung der Vergleichsvorschläge an ihre Mandantin zugesagt.

Das AG hat der Klage stattgegeben, das LG die Berufung zurückgewiesen. Das erste Telefonat am 6. August 2019 habe keine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Besprechung beinhaltet, weil bereits zehn Minuten nach dem Gespräch Berufung eingelegt worden sei, obwohl der Vergleichsvorschlag noch von der gegnerischen Rechtsanwältin an die Bank habe weitergeleitet und besprochen werden müssen. Hinsichtlich des zweiten Telefonats am 8. Oktober 2019 sei maßgeblich, dass die Rechtsanwältin der Bank darin nach dem Klägervorbringen einerseits die Weiterleitung des Vergleichsvorschlags zugesagt, andererseits aber in dem – nur zwei Minuten dauernden – Gespräch erklärt habe, dass sie nicht davon ausgehe, dass Vergleichsbereitschaft bestehe. Jedenfalls für eine solche Fallgestaltung sei die Rechtsprechung dahingehend zu verstehen, dass eine Terminsgebühr nicht allein dadurch anfalle, dass der Gegner die Weiterleitung des Vorschlags an seinen Mandanten zusage.

Die Revision der Rechtanwaltsgesellschaft hat Erfolg. Nach § 2 Abs. 2 RVG, Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 VV RVG verdient der Rechtsanwalt die Terminsgebühr auch durch die Mitwirkung an einer auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechung ohne Beteiligung des Gerichts. Nach der Intention des Gesetzgebers sollte mit dieser Regelung der Anwendungsbereich der Terminsgebühr erweitert werden; die Gebühr soll insbesondere bereits dann verdient sein, wenn der Rechtsanwalt an auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen mitwirkt. Dementsprechend stellt der BGH an das Merkmal der – auch telefonisch durchführbaren – Besprechung keine besonderen Anforderungen und sieht die Terminsgebühr als entstanden an, wenn der Gegner die auf eine Erledigung des Verfahrens gerichteten Äußerungen zwecks Prüfung und Weiterleitung an seine Partei zur Kenntnis nimmt oder sich auch nur an Gesprächen mit dem Ziel einer Einigung interessiert zeigt. Dagegen genügt es nicht, wenn es in dem Gespräch nur um die grundsätzliche Bereitschaft oder abstrakte Möglichkeit einer Einigung oder um Verfahrensabsprachen wie beispielsweise um die Zustimmung zum Ruhen des Verfahrens geht. Verweigert der Gegner von vornherein ein sachbezogenes Gespräch oder eine gütliche Einigung, kommt eine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Besprechung bereits im Ansatz nicht zustande.

An diesen Grundsätzen ist auch unter Berücksichtigung einer teilweise abweichenden und von dem Berufungsgericht zugrunde gelegten instanzgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die bloße Erklärung des anderen Prozessbevollmächtigten, das Angebot an den Mandanten zur Prüfung weiterzuleiten, nicht genügen soll, festzuhalten. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Entstehung der Terminsgebühr führt zu einer einfachen, klaren und rechtssicheren Abgrenzung.

 

Fazit: Eine Terminsgebühr fällt an, wenn der Gegner eine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Erklärung zwecks Prüfung und Weiterleitung an seine Partei entgegennimmt. Da der Gebührentatbestand nicht an den Erfolg einer gütlichen Einigung anknüpft, sind an die mündliche Reaktion des Gegners über Kenntnisnahme und Prüfung des Vorschlags hinausgehende Anforderungen nicht zu stellen (BGH, Beschluss vom 20. November 2006 – II ZB 9/06 –, MDR 2007, 557).

Anwaltsblog 27/2024: Auch Gerichtssachverständige müssen ein elektronisches Postfach haben!

Mit der Frage, ob auch Gerichtssachverständige zu den „sonstige(n) in professioneller Eigenschaft am Prozess beteiligte(n) Personen“ des § 173 Abs. 2 ZPO gehören, die einen sicheren Übermittlungsweg für die elektronische Zustellung eines elektronischen Dokuments zu eröffnen haben, hat sich erstmalig ein Oberlandesgericht befasst (OLG Hamm, Beschluss vom 1. Juli 2024 – 22 U 15/24):

 

Die vom Senat beauftragte Sachverständige ist öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken. Sie verfügt nicht über ein elektronisches Postfach, das die Zustellung von elektronischen Dokumenten auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 173 ZPO durch die Justiz gestattet. Der Senat gibt ihr durch Beschluss auf, ein elektronisches Postfach einzurichten, das für die elektronische Zustellung von Dokumenten auf einem sicheren Übermittlungsweg iSv. § 130a Abs. 4 ZPO geeignet ist. Die Anordnung des Senats beruht auf § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Danach haben u.a. sonstige in professioneller Eigenschaft am Prozess beteiligte Personen einen sicheren Übermittlungsweg für die elektronische Zustellung eines elektronischen Dokuments zu eröffnen, bei denen von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann. Öffentlich bestellte und vereidigte (öbuv) Sachverständige gehören zu diesem Personenkreis.

Der Gesetzgeber hat die Beurteilung, ob Sachverständige zu dem Personenkreis der in professioneller Eigenschaft am Prozess beteiligten Personen zählen, den Gerichten überlassen. Denn wie sich aus der Gesetzesbegründung zu § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ergibt, hat er in dieser nur beispielhaft („nicht abschließend“) Personen, Vereinigungen und Organisationen angeführt, die unter dem Tatbestandsmerkmal zu fassen sind. Bei öbuv. Sachverständigen ist bei der gebotenen typisierenden Betrachtung von einer erhöhten Zuverlässigkeit auszugehen. Wie sich aus § 36 Abs. 1 GewO ergibt, bestehen besonders hohe Anforderungen an die persönliche und fachliche Eignung von Personen, die als Sachverständige öffentlich bestellt werden dürfen. Mit der öffentlichen Bestellung wird einem Sachverständigen u.a. die persönliche Integrität bestätigt. Zudem gewährleistet die Aufsicht der Bestellungskörperschaften, dass bei öffentlich bestellten Sachverständigen – wie bei anderen berufsständisch gebundenen Personen auch – fortwährend die notwendige Zuverlässigkeit für die Zustellung von gerichtlichen Dokumenten gesichert ist.

Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige sind zudem in professioneller Eigenschaft am Prozess beteiligt. Aus den gesetzlichen Vorschriften ergibt sich unzweifelhaft, dass es zu einem wesentlichen Aufgabengebiet, also zum essentiellen Teil ihrer Profession zählt, an Gerichtsverfahren mitzuwirken. Es entspricht weiter auch Sinn und Zweck von § 173 Abs. 2 ZPO, öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige in die Verpflichtung einzubeziehen, einen sicheren Übermittlungsweg zu eröffnen. Die Regelung zielt darauf ab, Personen, Vereinigungen und Organisationen, die aufgrund und im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit regelmäßig mit dem Gericht kommunizieren, in den elektronischen Rechtsverkehr einzubinden. Das trifft auf öbuv. Sachverständige unzweifelhaft zu. Es gibt schließlich keine sonstigen Gründe, die durchgreifend gegen die Einbeziehung der öbuv. Sachverständigen in die unter § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO genannten Personengruppen sprechen. Den Sachverständigen stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, um ein elektronisches Postfach einzurichten. Sie können das kostenlose „Mein Justizpostfach“ (MJP) nach dem OZG nutzen, das einen sicheren Übermittlungsweg gem. § 130a Abs. 4 Nr. 5 ZPO eröffnet. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, das kostenpflichtige, aber dafür gegenüber dem MJP leistungsfähigere und nutzerfreundlichere besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (eBO) einzurichten, welches einen sicheren Übermittlungsweg gem. § 130a Abs. 4 Nr. 4 ZPO begründet. Die mit der Einrichtung und dem Betrieb der vorgenannten Postfächer zusammenhängenden Aufwände sind mit der Ausübung der Sachverständigentätigkeit für Gerichte verbunden und stellen – wie für andere Berufsgruppen auch – keinen der Anwendung des § 173 Abs. 2 Nr. 1 ZPO entgegenstehenden Grund dar. Sie sind verursacht durch eine Veränderung der technischen Umwelt und daraus resultierenden gesetzgeberischen Vorgaben, die eine hinzunehmende Rahmenbedingung für die grundgesetzlich geschützte Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) darstellen.

 

Fazit: Auch wenn die Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung an die Sachverständige, ein elektronisches Postfach einzurichten, fraglich ist, geht der Beschluss in die richtige Richtung. Rechtsanwälte sind längst gewohnt, Akten elektronisch zu führen. Ihnen in Papierform übersandte Gutachten stellen in diesem System einen Fremdkörper dar. Wünschenswert wäre ferner, wenn die Justiz selbst die Anforderungen elektronischer Kommunikation erfüllen würde, die sie an Rechtsanwälte und nun auch an Sachverständige stellt.

Anwaltsblog 26/2024: Gestufte Fristenkontrolle vor Büroschluss notwendig!

Mit den Anforderungen an eine allabendlich durchzuführende Fristenkontrolle hatte sich erneut der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 – IV ZB 30/23):

 

Gegen ein am 2. Februar 2023 zugestelltes Urteil hat  der Kläger am 3. März 2023 Berufung eingelegt. Mit einem am 6. April 2023 beim OLG eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Im Büro seiner Prozessbevollmächtigten erfolgten Aktenführung und Fristenkontrolle ausschließlich elektronisch mittels eines eingeführten Rechtsanwaltsprogramms. Im Falle eines eingehenden Urteils erster Instanz notiere die zuständige Mitarbeiterin die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist nebst entsprechenden Vorfristen im elektronischen Fristenkalender. Diese Tätigkeit führten ausschließlich geprüfte Rechtsanwaltsfachangestellte aus, deren Arbeit regelmäßig stichprobenartig kontrolliert werde. Die dem jeweiligen Rechtsanwalt zugeordnete Rechtsanwaltsfachangestellte habe zudem die Aufgabe, täglich vor Büro- beziehungsweise Dienstschluss dessen Kalender auf offene Fristen zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf die offene Frist hinzuweisen. Das vorliegende Verfahren sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zum Ablauf der Vorfrist vorgelegt worden, der die Eintragung der Berufungsbegründungsfrist geprüft habe. Eine Bearbeitung sei zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich gewesen. Am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist habe der Rechtsanwalt sich auf die Büroorganisation verlassen und die Fristen nicht selbst überprüft. Die Frist sei versäumt worden, weil ihn die zuständige Mitarbeiterin nicht auf die offene Berufungsbegründungsfrist hingewiesen habe. Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Gemäß § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert gewesen ist, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Nach § 85 Abs. 2 ZPO ist der Partei ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn nach den seitens der Partei gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Fristversäumnis von der Partei oder ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet gewesen ist. So liegt es hier. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des klägerischen Prozessbevollmächtigten beruht. Der Kläger hat nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten über eine den Anforderungen genügende Ausgangskontrolle verfügt.

Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb laufender Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen. Zu diesem Zweck hat der Rechtsanwalt seine Ausgangskontrolle so zu organisieren, dass sie einen gestuften Schutz gegen Fristversäumungen bietet. Im Rahmen dieser gestuften Ausgangskontrolle hat der Rechtsanwalt anzuordnen, dass die Erledigung von Sachen, bei denen eine Frist zu wahren ist, am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Ausgangskontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob insoweit eine Übereinstimmung mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen besteht. Der Abgleich mit dem Fristenkalender dient unter anderem der Überprüfung, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben.

Gemessen daran hat der Kläger nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass im Büro seiner Prozessbevollmächtigten hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen worden sind, um eine effektive Ausgangskontrolle zu gewährleisten. Nach seinem Vorbringen hatte die Kanzleimitarbeiterin im Rahmen der Fristenkontrolle täglich vor Büroschluss allein den Fristenkalender zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf offene Fristen hinzuweisen. Das genügt für eine ordnungsgemäße abendliche Ausgangskontrolle nicht. Die Kanzleiangestellte hätte auch bei ordnungsgemäßem Befolgen der Anordnung nicht nochmals, selbständig und abschließend kontrolliert, ob die fristgebundene Sache tatsächlich bearbeitet und ein fristwahrender Schriftsatz abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden ist. Die Anordnung einer solchen abendlichen Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle ist den Darlegungen des Klägers nicht zu entnehmen.Die fehlende Anordnung einer Ausgangskontrolle war für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch ursächlich. Im Rahmen einer nochmaligen, selbständigen und abschließenden Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle wäre die offene Berufungsbegründungsfrist im Terminkalender des sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten aufgefallen. Darüber hinaus hätte die Ausgangskontrolle ergeben, dass die Sache noch nicht bearbeitet und die Berufungsbegründung oder ein Fristverlängerungsantrag weder abgesandt noch versandfertig gemacht worden war. Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten der Beteiligten hätte in diesem Fall jedenfalls rechtzeitig ein Fristverlängerungsantrag an das Berufungsgericht übersandt werden können.

 

Fazit: Zu der einen gestuften Schutz gegen Fristversäumnisse sicherstellenden Organisation der Ausgangskontrolle gehört die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristwahrenden Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Kontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob diese mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen übereinstimmen. Der Sinn und Zweck der allabendlichen Ausgangskontrolle liegt auch darin festzustellen, ob möglicherweise in einer bereits als erledigt vermerkten Fristsache die fristwahrende Handlung noch aussteht. Daher ist ein Fristenkalender so zu führen, dass auch eine gestrichene Frist noch erkennbar und bei der Endkontrolle überprüfbar ist (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2019 – VIII ZB 103/18 –, MDR 2020, 239).