BGH zum Umfang des Berufungsvorbringens und zum fallengelassenen Vortrag

Zu einer nicht seltenen Fallkonstellation hat der BGH (Beschl. v. 8.9.2021 – VIII ZR 258/20) eine interessante Entscheidung getroffen, die in der Praxis nicht auf große Zustimmung stoßen wird.

Die Beklagte war in den Tatsacheninstanzen verurteilt worden, einen Gebrauchtwagen zurückzunehmen. Bezüglich eines benannten Zeugen hatte das Berufungsgericht von einer Vernehmung abgesehen und dies doppelt begründet: Zum einen habe die Beklagte entsprechenden Vortrag in der Berufungsinstanz fallen gelassen, zum anderen sei der Vortrag der Beklagten widersprüchlich. Beides akzeptiert der BGH nicht.

Der BGH betont erneut seine Auffassung, wonach der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff in der Berufungsinstanz anfällt, und zwar ohne Erneuerung und ohne Bezugnahme. Diese Sichtweise ist mit dem Wortlaut des § 529 ZPO kaum zu vereinbaren und bedeutet praktisch: Das Berufungsgericht muss die gesamte Akte lesen und prüfen, ob nicht das erstinstanzliche Gericht etwas übersehen hat. Dies macht es dem Berufungsgericht in umfangreichen Verfahren nicht gerade einfach und entlastet die Parteien in nicht zu rechtfertigender Weise. Grundsätzlich muss sich das Berufungsgericht darauf beschränken können, das erstinstanzliche Urteil sowie die Berufungsbegründung zu lesen, um die Sache beurteilen zu können.

In konsequenter Weiterentwicklung dieser Sichtweise geht der BGH jedoch davon aus, dass ein Vorbringen nur dann als fallen gelassen angesehen werden kann, wenn die Partei dies eindeutig erklärt hat. Dies war im konkreten Fall nicht gegeben. Bezüglich des (angeblich) widersprüchlichen Vorbringens weist der BGH darauf hin, dass eine Partei grundsätzlich ihr Vorbringen jederzeit berichtigen und ändern darf. Auch ein möglicherweise widersprüchlicher Vortrag erlaube dem Gericht nicht, von einer Beweisaufnahme abzusehen. Vielmehr könne ein solcher Vortrag nur nach einer Beweisaufnahme bei der Beweiswürdigung Beachtung finden.

Auch dies geht aus der Sicht der Praxis zu weit. Wenn eine Partei nicht dazu in der Lage ist, klar und präzise vorzutragen und man nicht weiß, was sie will, sollte ein derartiger Vortrag als widersprüchlich außer Betracht bleiben. Der BGH privilegiert einmal mehr unsachlichen Vortrag und Revisionsfallen“ und verhilft damit „Tricksern“ zu ungerechtfertigten (Zwischen)Erfolgen sowie Verfahrensverzögerungen und Pyrrhussiegen. Hier würde man sich von dem BGH wirklich eine praxisgerechtere Herangehensweise wünschen, und zwar in Gestalt von folgenden potentiellen Leitsätzen:

1) Das Berufungsgericht braucht nicht die erstinstanzliche Akte daraufhin durchzuforsten, ob sich möglicherweise an irgendeiner Stelle noch ein vielleicht relevanter Informationsfetzen befindet, der bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es ist vielmehr die Aufgabe des Berufungsklägers, derartiges in der Berufungsbegründung vorzutragen.

2) Trägt eine Partei widersprüchlich vor, so darf ein solches Vorbringen unberücksichtigt bleiben.

BGH zum ergänzungsbedürftigen Wiedereinsetzungsvortrag

Zwei interessante Entscheidungen des BGH von zwei verschiedenen Senaten (Beschl. v. 11.5.2021 – VIII ZB 65/20, MDR 2021, 1085) und Beschl. v. 13.1.2021 – XII ZB 329/20, MDR 2021, 377) beschäftigen sich mit der Frage, wann ein Wiedereinsetzungsvorbringen ausreichend, aber ergänzungsbedürftig ist oder eben nicht ausreichend und dann auch nicht mehr ergänzungsfähig ist.

In beiden Fällen ging es um den Verlust einer Sendung auf dem Postweg. Insoweit entspricht folgende Sicht der Dinge der ständigen Rechtsprechung des BGH: Die Partei, die wegen Verlusts eines fristgebundenen Schriftsatzes ihres Prozessbevollmächtigten auf dem Postweg Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen einer Fristversäumung begehrt, muss auf der Grundlage einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe bis zur rechtzeitigen Aufgabe des in Verlust geratenen Schriftsatzes zur Post glaubhaft machen, dass der Verlust mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht im Verantwortungsbereich der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten eingetreten ist.

In ersten Fall (VIII. Senat) war im Rahmen des Wiedereinsetzungsantrages eine Schilderung des Ablaufes vorgenommen worden, jedoch nicht vorgetragen worden, dass der Schriftsatz ausreichend frankiert wurde. Der entsprechende Wiedereinsetzungsantrag wurde vom Berufungsgericht deswegen zurückgewiesen. Der BGH beanstandet dies. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei der Frankierung bei ansonsten vollständiger Darstellung des Sachverhaltes lediglich um eine ergänzungsbedürftige Angabe, die auf gerichtlichen Hinweis hin noch nachgeholt werden kann, und zwar auch noch in der Rechtsbeschwerdeinstanz.

Im zweiten Fall (XII. Senat) war im Rahmen des Wiedereinsetzungsantrages nur vorgetragen worden, dass der Schriftsatz an einem bestimmten Tag bei der Post aufgegeben wurde. Die Zurückweisung dieses Wiedereinsetzungsantrages hatte in diesem Fall auch beim BGH Bestand. Nachdem hier nicht nur die Angaben zur Frankierung des Umschlages fehlten, sondern überhaupt alle Angaben zu den Fragen, wann und wie der Schriftsatz fertiggestellt, ausgefertigt und (wo?) abgegeben war, geht der BGH davon aus, dass die Angaben zur Wiedereinsetzung nicht ausreichend waren. Auf eine denkbare Hinweispflicht kam es nicht mehr an, da die Wiedereinsetzungsfrist bereits abgelaufen war. Damit konnten die fehlenden Angaben auch nicht mehr in der Rechtsmittelinstanz nachgeholt werden. Dieser Prozess war verbindlich zu Ende.

Fazit: Die Fälle zeigen, dass man bei Wiedereinsetzungsanträgen, wenn schon zuvor die Frist versäumt wurde, wirklich sorgfältig vorgehen sollte.

OLG Schleswig zu einem „Doppelurteil“

Mit einer nicht alltäglichen Fallkonstellation hatte sich das OLG Schleswig (Beschl. v. 23.6.2021 – 5 U 58/21) zu befassen. Dieser Fall zeigt wieder einmal, was so alles in der Praxis an Merkwürdigkeiten passieren kann, nicht zuletzt aufgrund der teilweise enormen Überlastung der Gerichte bzw. der Richterinnen und Richter.

Nach einer mündlichen Verhandlung kündigte das LG letztlich eine Entscheidung in einem Verkündungstermin am 12.5.2020 an. In der Verfahrensakte befindet sich denn auch ein ordnungsgemäßes Verkündungsprotokoll von diesem Tage sowie ein Urteil mit klageabweisendem Tenor, das auch den Eingangsstempel der Geschäftsstelle trägt. Tatbestand und Entscheidungsgründe für dieses Urteil wurden allerdings nicht mehr angefertigt. Weder das Urteil noch das Protokoll wurden an die Parteien zugestellt oder übermittelt.

Im November 2020 wies das LG dann daraufhin, dass die Akte im richterlichen Bereich „außer Kontrolle“ geraten sei und regte eine Zustimmung der Parteien zum schriftlichen Verfahren an (§ 128 ZPO). Nachdem diese einging, ordnete das LG das schriftliche Verfahren an und erließ später (erneut) ein klageabweisendes Urteil, dieses Mal mit Tatbestand und Entscheidungsgründen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, die von dem OLG Schleswig für unbegründet gehalten wird. Für die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien ist und bleibt nämlich das erste Urteil maßgeblich. Danach steht die Unbegründetheit der Klageforderung bereits rechtskräftig fest! Das erste Urteil wurde ordnungsgemäß verkündet. Nach ständiger Rechtsprechung ändert das Fehlen des Tatbestandes sowie der Entscheidungsgründe daran nichts. Die Fünfmonatsfrist (§ 517 Alt. 2 ZPO) beginnt einen Monat nach der Verkündung der Entscheidung unabhängig davon, ob diese den Parteien mitgeteilt wurde. Auch dies ist ständige Rechtsprechung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt bestenfalls dann in Betracht, wenn die Parteien nicht mit dem Erlass eines Urteils rechnen mussten. Hier hatte aber das Gericht einen Verkündungstermin bestimmt. Deswegen musste auch mit dem Erlass eines Urteils gerechnet werden. Eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Versäumung der Berufungsfrist gegen das erste Urteil kommt nicht in Betracht, da sich die Klägerin jedenfalls hätte erkundigen müssen, was bei dem Verkündungstermin herausgekommen war. Die fehlerhafte weitere Verfahrensweise des LG vermag daran nichts zu ändern.

Die Klägerin hat damit den Prozess endgültig verloren. Sie könnte allerdings unter Umständen ihren Rechtsanwalt dafür verantwortlich machen, dass er die Sechsmonatsfrist nicht notiert hatte! Hieran sollte jeder Rechtsanwalt denken, und zwar bereits dann, wenn er von dem Termin zurück in die Kanzlei kommt. Denn: Wann das Protokoll bzw. die Entscheidung eingehen wird, weiß man nicht, es kann auch alles verloren gehen oder – wie hier – schlichtweg beim Gericht „untergehen“.

Der Tenor des Urteils des OLG allerdings dürfte jedoch unrichtig sein! Da das erste Urteil rechtskräftig ist, hätte wohl das zweite Urteil vielmehr aufgehoben und die Klage als unzulässig abgewiesen werden müssen. In der Sache hätte dies jedoch nichts geändert. Der Anspruch ist rechtskräftig aberkannt.

Dem lässt sich übrigen nicht entgegenhalten, dass ein Urteil ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe keine Rechtskraft entfalten könnte. Im Zweifel ist zur Bestimmung der Grenzen der Rechtskraft des ergangenen Urteils (wie bei Anerkenntnis-, Verzichts-, oder Versäumnisurteilen, die keine Begründung enthalten) das Parteivorbringen heranzuziehen. Da die Gerichtsakten nicht ewig aufgehoben werden, empfiehlt es sich für die betroffene Partei, die Handakte lange zu behalten!

OLG Celle zur Maskenpflicht und Kostenpflicht

Im Rahmen eines umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahrens vor dem LG Hildesheim, das schon 19 Verhandlungstage dauerte, weigerte sich der Verteidiger eines Angeklagten, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, obgleich der Vorsitzende eine entsprechende Anordnung getroffen hatte, die von der Kammer bestätigt worden war. Daraufhin wurde das Verfahren gegen diesen Angeklagten nach § 145 Abs. 1 StPO abgetrennt und anschließend ausgesetzt. Zugleich wurde der Verteidiger gemäß § 145 Abs. 4 StPO mit den durch die Aussetzung verursachten Kosten belastet.

Die sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss blieb bei dem OLG Celle (Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Ws 91/21) ohne Erfolg. Das OLG bezeichnete das Vorgehen der Kammer in einem sehr ausführlichen Beschluss sogar als vorbildlich verantwortungsbewusst im Hinblick auf die Infektionslage, auch im Hinblick auf die Plexiglaswände. Durch sein Verhalten habe der Verteidiger eine Verhandlungsunfähigkeit herbeigeführt, wie sie auch im Rahmen einer Trunkenheit angenommen wird. Natürlich steht der für ganz andere Fälle geschaffene § 176 Abs. 2 GVG, wonach an der Verhandlung teilnehmende Personen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen dürfen, dem nicht entgegen. Der Verteidiger habe – trotz Hinweises – auch kein ärztliches Attest vorgelegt, dass ihm das Tragen einer Maske nicht zuzumuten sei. Ansonsten sei die Maske bestenfalls lästig. Das Landgericht habe sogar transparente Masken beschafft, um den Beteiligten zu ermöglichen, die Mimik der Beteiligten zu beobachten. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die Kostenauferlegung als richtig.

Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung

Am 7. Januar 2021 hat die im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs tätige Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“  ihr 126-seitiges Diskussionspapier vorgelegt. Mit Vorschlägen wie z. B.

  • Schaffung eines bundesweit einheitlichen Justizportals mit entsprechenden Kommunikationsmöglichkeiten“,
  • Einführung eines Beschleunigten Online-Verfahrens,
  • Möglichkeiten der (reinen) Videoverhandlung im Zivilprozess,
  • der Protokollierung per schriftlichem Wortprotokoll,
  • einem elektronischen Titelregister für die Zwangsvollstreckung und
  • der Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens durch ein sog. Basisdokument

enthält das Werk äußerst innovative Vorschläge für einen zukünftigen, digitalen Zivilprozess die mittlerweile auch schon bei vielen Gelegenheiten (Zivilrichtertag 2021, diverse Tagungen, usw.) diskutiert worden sind.

Einzelne Punkte aus dem Diskussionspapier sollen ggf. sogar schon mittelfristig in die Praxis umgesetzt werden. Für komplexere Themen wird vorgeschlagen, diese in sog. Reallaboren in kleinerem Umfang zu erproben. Vorher sollten die Überlegungen der Arbeitsgruppe um einige Fragen ergänzt werden, die den Rahmen eines digitalen Zivilprozesses der Zukunft abstecken könnten. Zwei Fragen stechen besonders hervor:

Reichweite des Technikeinsatzes im Zivilprozess?

Im Zuge einer Diskussion des digitalen Zivilprozesses stellt sich unweigerlich die Frage, welcher Grad an Technikeinsatz erstrebenswert ist. Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat bewusst technikoffen gearbeitet. Es ist richtig, dass nicht vorschnell eine bestimmte IT-Technik oder gar ein Anbieter ausgewählt wurden. Dies darf aber nicht bedeuten, die Digitalisierung des Zivilprozesses unter Ausblendung technischer Rahmenbedingungen zu denken. Das Dilemma zwischen juristischer Ebene und technischer Ebene zeigt sich besonders an der kontrovers ausgetragenen Diskussion über die Strukturierung von Schriftsätzen. Der Sachvortrag wird vielfach als zu unstrukturiert und oft zu wenige Wechselbezüge aufweisend bezeichnet („Die Parteien schreiben aneinander vorbei.“). Auf Basis des neuen § 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO ist bereits heute in vielen Fällen eine Strukturierung des Parteivortrags denkbar (sh. dazu Zwickel, MDR 2021, 716-723). Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat darüber hinausgehend vorgeschlagen, dass die Parteien künftig in einem elektronischen Basisdokument (idealerweise auf dem Justiz-Server) ihren Tatsachenvortrag (eine Pflicht zu Rechtsausführungen soll nicht eingeführt werden!) kollaborativ in einer Relationstabelle gegenüberstellen sollen. Die Parteien sollen also an einem einzigen digitalen Dokument arbeiten, in dem sie den Vortrag anhand des Strukturierungskriteriums des Lebenssachverhalts selbst ordnen. Die Strukturierung findet zwar mit einem digitalen Tool, aber nach rein juristischen Vorgaben anhand der Chronologie des Lebenssachverhalts statt.
Möglicherweise decken sich solche juristischen Strukturen nicht mit den Strukturen, mit denen IT-Systeme arbeiten, so dass die IT mit der gewonnenen Struktur nicht weiterarbeiten kann. Techniken der digitalen Inhaltserschließung der Eingaben in das Basisdokument (von der automatischen Verlinkung von Treffern in juristischen Datenbanken bis hin zum digitalen Entscheidungsvorschlag) wären, bei einer zu wenig kleinteiligen Struktur wohl vielfach ausgeschlossen. Liegt nicht genau an dieser Stelle, d.h. bei der digitalen Erleichterung der richterlichen Arbeit auf dem Weg zum Urteil, der wahre Mehrwert einer digitalen Strukturierung des Parteivortrags? In anderen Bereichen/Rechtsordnungen ist diese Frage schon entschieden: Das ELSTER-System der Steuerverwaltung und Legal Tech-Anbieter schaffen es auf Basis der strukturierten Daten, IT auch im Prozess der (teil-)automatisierten juristischen Entscheidungsfindung einzusetzen.

Zu Möglichkeiten und Grenzen der analogen und digitalen Strukturierung und Abschichtung im zivilgerichtlichen Verfahren sh. ausführlich Zwickel, MDR 2021, 716-723.

In anderen Rechtsordnungen wie in der kanadischen Provinz British Columbia mit seinem Civil Resolution Tribunal ist das Verfahren selbst so strukturiert, dass es vollständig im digitalen Raum ablaufen kann und digitale Tools umfassend ausnutzt.

In China schließlich gibt es, ebenfalls auf Basis des Einsatzes strukturierter Daten, mit dem Internet Court in Hangzhou sogar maschinell entscheidende Internetgerichte (Automatisierung der Entscheidung selbst).

Wollen wir einen derart umfassenden Technikeinsatz auch für den Zivilprozess?

Es liegt auf der Hand, dass die Frage nicht pauschal mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten ist, sondern einer sorgfältigen Abwägung auch unter Einbeziehung von Informatikern bedarf.

Digitale Kommunikation im Zivilprozess?

Eng in Zusammenhang mit der Frage nach der Reichweite des Technikeinsatzes steht die These, dass die Kommunikation im digitalen Raum „virtuell verengt“ (sh. Harnack, ZKM 2021, 14-18) und damit anders geartet ist als die herkömmliche Kommunikation im Gerichtssaal. Man wird daher nicht umhinkommen, über den juristischen Tellerrand zu blicken und Kommunikationspsychologen, Fachleute für IT-Sicherheit usw. zu hören, ehe man die mündliche Verhandlung im Zivilprozess auch nur teilweise durch digitale Videoverhandlungen ersetzt.

Niklas Luhmann soll geäußert haben „Die Rechtswissenschaft verhält sich zum Computer wie das Reh zum Auto. Manchmal kollidieren sie eben doch.“ Im Hinblick auf die Digitalisierung des Zivilprozesses scheint dies nicht zu gelten, ist doch die Wissenschaft gerne bereit, die von der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ausgehende Aufforderung zum Diskurs aufzunehmen. So bilden die beiden oben angerissenen Fragen nach der Reichweite des Technikeinsatzes im Zivilprozess und der Kommunikation im digitalisierten Zivilverfahren mit der Digitalisierung der Zwangsvollstreckung die Leitmotive einer wissenschaftlichen Online-Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am 1./2. Juli 2021, zu der alle Interessierten herzlich eingeladen sind.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anforderungen an die Sorgfalt beim Versand von fristgebundenen Schriftsätzen per Telefax

Abgleich der Telefaxnumer
Beschluss vom 30. März 2021 – VIII ZB 37/19

Mit der ordnungsgemäßen Organisation des Kanzleibetriebs bei Telefax-Sendungen an das Gericht befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die klagende Arzneimittelherstellerin streitet mit der Beklagten, einer Abnehmerin, darüber, wer von ihnen gesetzliche Preisreduzierungen im griechischen Gesundheitswesen zu tragen hat. Die Klage war in erster Instanz erfolgreich. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten legte am letzten Tag der Frist per Telefax Berufung ein. Das Schreiben war an das zuständige OLG adressiert, jedoch mit der Telefaxnummer des LG versehen. Dieses leitete den Schriftsatz an das OLG weiter, wo er erst einen Tag später einging. Das OLG versagte die beantragte Wiedereinsetzung und verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH gewährt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verweist die Sache zur Entscheidung über die Berufung an das OLG zurück.

Nach der Rechtsprechung des BGH genügt ein Anwalt den an ihn zu stellenden Sorgfaltsanforderungen, wenn er seinem Personal schriftlich die allgemeine organisatorische Anweisung erteilt, die in einem Schriftsatz angegebene Faxnummer des Empfangsgerichts vor dem Versand mit einem zuverlässigen Verzeichnis und nach dem Versand mit der im Sendebericht angegebenen Nummer abzugleichen.

Als zuverlässiges Verzeichnis kann auch eine Kanzleisoftware herangezogen werden, in der die Faxnummern der Gerichte hinterlegt sind und regelmäßig aktualisiert werden. Diese Voraussetzung war im Streitfall nicht erfüllt, weil die Dokumentvorlagen, die eine automatische Übernahme der Faxnummer aus der Datenbank der Kanzleisoftware vorsehen, wenige Tage vor dem Versand geändert worden waren.

Entgegen der Auffassung des OLG ist ein etwaiger Fehler bei der Änderung der Dokumentvorlagen im Streitfall aber nicht relevant. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat durch eidesstattliche Versicherung der mit dem Versand betrauten Mitarbeiterin glaubhaft gemacht, dass die allgemeine schriftliche Anweisung besteht, die von der Software eingefügte Nummer vor dem Versand mit der Nummer abzugleichen, die aus dem letzten vom Gericht stammenden Schriftstück in der jeweiligen Akte hervorgeht, hilfsweise mit der Nummer, die auf der Internet-Seite des betreffenden Gerichts angegeben ist. Diese Anordnung war ausreichend. Wäre sie befolgt worden, wäre es zu dem aufgetretenen Fehler nicht gekommen.

Praxistipp: Die organisatorischen Vorkehrungen, um einen rechtzeitigen Versand beim zuständigen Gericht zu gewährleisten, müssen innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist vorgetragen und glaubhaft gemacht werden.

KG: Kompetenzkonflikt zwischen Zivilkammern

Die Einführung der Zivilkammern mit Sonderzuständigkeit nach § 72a GVG hat zu zahlreichen Folgeproblemen geführt. Eines davon ist – wie zu erwarten war – der Zuständigkeitskonflikt.

In einem Verfahren vor dem KG (Beschl. v. 25.2.2021 – 2 AR 7/21) ging es um folgenden Sachverhalt: Aufgrund verschiedener Forderungen, die letztlich aus Bauverträgen stammten, hatte die Beklagte gegenüber der Klägerin ein abstraktes Schuldanerkenntnis abgegeben. Aus diesem Anerkenntnis nahm die Klägerin die Beklagte nunmehr im Urkundenprozess in Anspruch. Die allgemeine Zivilkammer sah die Sache als Bausache an, die „Baukammer“ als allgemeine Zivilsache.

Das KG sah sich als zuständig an, um den Konflikt zu entscheiden. Zwar spricht § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO von verschiedenen Gerichten. Die Vorschrift ist aber nach st. Rspr. auch dann anzuwenden, wenn sich verschiedene Spruchkörper eines Gerichts über eine gesetzliche Geschäftsverteilung streiten, d.h. eine Frage betroffen ist, die nicht durch das Präsidium des Gerichts entschieden werden darf. Notwendig ist allerdings, dass die jeweiligen, die Zuständigkeit ablehnenden Entscheidungen auch den Verfahrensbeteiligten bekannt gemacht wurden. Dabei reicht es aus, wenn die Entscheidung einer Kammer durch die andere bekannt gemacht wird.

Der Wortlaut des § 72a GVG „Streitigkeiten aus Bau-…verträgen …, soweit sie im Zusammenhang mit Bauleistungen stehen“ legt allerdings nahe, dass es auf das Rechtsverhältnis ankommt, aus dem der Anspruch hergeleitet wird. Dies war hier kein Bauvertrag, sondern ein abstraktes Schuldanerkenntnis. Allerdings wollte der Gesetzgeber alle Streitigkeiten unabhängig von der vertraglichen Qualifikation als Bauvertrag erfassen. Das KG hatte bereits früher entschieden, dass eine Zuständigkeit der Baukammer gegeben ist, wenn sich die Klägerseite auf ein sog. deklaratorisches Anerkenntnis beruft. Bei einem abstrakten Anerkenntnis muss dasselbe gelten, und zwar aus folgenden Gründen: Die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Anerkenntnissen ist oftmals schwierig und stark einzelfallabhängig. Von einem solchen Umstand eine gerichtliche Zuständigkeit abhängig zu machen, wäre sachwidrig. Entscheidend ist aber, dass es gerade bei abstrakten Anerkenntnissen im Laufe des Prozesses in den überwiegenden Fällen doch auf das zugrundeliegende Rechtsverhältnis ankommt. Regelmäßig wird die Unwirksamkeit des Anerkenntnisses nach den §§ 138, 142 BGB geltend gemacht oder es wird wenigstens versucht, das Anerkenntnis nach § 812 Abs. 1 1 Alt. 1 zu kondizieren. Damit sprechen die besseren Argumente dafür, auch derartige Streitigkeiten den Spezialkammern zuzuweisen. Es kommt mithin darauf an, welche Streitigkeit hinter dem jeweiligen Anerkenntnis steht.

Fazit: Die Entscheidung des KG ist sach- und praxisgerecht und sollte Schule machen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zuständigkeit zur Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht

Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht
Beschluss vom 12. November 2020 – V ZB 148/19

Mit der Beglaubigungsbefugnis der Betreuungsbehörden gemäß § 6 BtBG befasst sich der V. Zivilsenat.

Ein im Jahr 2016 verstorbener Erblasser hatte den beiden Verfahrensbeteiligten im Jahr 2011 in einer als Vorsorgevollmacht bezeichneten Urkunde jeweils Einzelvollmacht zu seiner Vertretung in der Gesundheitsfürsorge, vertraglichen Angelegenheiten und Rechtsstreitigkeiten sowie in allen Vermögensangelegenheiten einschließlich des Erwerbs und der Veräußerung von Vermögen erteilt, und zwar mit der Maßgabe, dass die Vollmacht über den Tod hinaus gültig sein soll. Die Urkundsperson der Betreuungsbehörde beglaubigte die Echtheit der Unterschrift gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 des Betreuungsbehördengesetzes (BtBG). Im Jahr 2019 übertrug die Beteiligte zu 1 im Namen der unbekannten Erben den zum Nachlass gehörenden Grundbesitz unentgeltlich auf den Beteiligten zu 2. Das Grundbuchamt gab den Beteiligten durch Zwischenverfügung auf, eine Genehmigungserklärung der Erben und einen Erbnachweis vorzulegen. Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Der BGH hebt die Zwischenverfügung auf.

Entgegen der Auffassung des Grundbuchamts hat die Beteiligte zu 1 ihre Vollmacht in der nach § 29 Abs. 1 Satz 1 GBO erforderlichen Form nachgewiesen. Die nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG zulässige Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht durch einen dafür gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BtBG ermächtigten Mitarbeiter der Betreuungsbehörde ist eine öffentliche Beglaubigung im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 GBO.

Eine Vorsorgevollmacht im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG ist eine Vollmacht, die zu dem Zweck erteilt wird, eine künftig mögliche Betreuungsbedürftigkeit zu vermeiden. Eine solche Zwecksetzung ergibt sich im Streitfall schon aus der Bezeichnung als Vorsorgevollmacht. Die Beglaubigungsbefugnis nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG besteht auch für Vollmachten, die im Außenverhältnis unbedingt erteilt und nur im Innenverhältnis auf den Vorsorgefall beschränkt werden, und für Vollmachten, die über den Tod des Vollmachtgebers hinaus gelten sollen.

Praxistipp: Welche Behörde auf örtlicher Ebene in Betreuungsangelegenheiten zuständig ist, bestimmt sich gemäß § 1 Abs. 1 BtBG nach Landesrecht. In der Regel ist sie auf Ebene der Stadt- und Landkreise angesiedelt. Örtlich zuständig ist gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 BtBG die Behörde, in deren Bezirk der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für die Wirksamkeit der Beglaubigung genügt die sachliche Zuständigkeit.

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Diese Woche geht es um die Pflichten des Inhabers einer Internetanschlusses nach einer Urheberrechtsverletzung

Angabe des Täters einer Urheberrechtsverletzung
Urteil vom 17. Dezember 2020 – I ZR 228/19

Mit der Frage einer Auskunftspflicht des Inhabers eines Internetanschlusses befasst sich der I. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm den Beklagten wegen des unbefugten Anbietens eines urheberrechtlich geschützten Computerspiels auf Schadensersatz in Anspruch. Das Angebot war über einen Internetanschluss verbreitet worden, dessen Inhaberin der Beklagte ist. Auf die Abmahnung der Klägerin hatte der Beklagte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben, zugleich aber mitgeteilt, er selbst habe das Spiel nicht öffentlich im Internet zugänglich gemacht. Auf die von der Klägerin erhobene Klage auf Erstattung von Abmahnkosten und Schadensersatz in Höhe von insgesamt rund 1.900 Euro trug der Beklagte vor, die Verletzung sei durch den Sohn einer Arbeitskollegin seiner Lebensgefährtin begangen worden. Die Klägerin beantragte zuletzt nur noch die Feststellung, dass der Beklagte ihr die Kosten des Rechtsstreits zu ersetzen hat. Dieser Antrag blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg. Der Antrag ist zwar zulässig, weil die Klägerin die zu erstattenden Kosten nicht beziffern und ihren Anspruch wegen der Rücknahme des Hauptantrags nicht im Wege der Kostenfestsetzung geltend machen kann. Er ist aber unbegründet, weil der Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet war, den Täter zu benennen. Eine Nebenpflicht zur Auskunftserteilung aus dem Unterlassungsvertrag scheidet aus, weil der Beklagte beim Abschluss dieses Vertrags bereits darauf hingewiesen hat, dass er nicht der Täter ist. Aus der Verletzung des Urheberrechts ergibt sich eine solche Pflicht nicht, weil der Beklagte für die Verletzung nicht verantwortlich ist. Die Stellung als Inhaber des Anschlusses, über den die Verletzung begangen wurde, begründet auch kein vorvertragliches Schuldverhältnis, das zu einer Auskunftspflicht führen könnte. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag scheiden in dieser Konstellation ebenfalls aus. Eine Ersatzpflicht aus § 826 BGB käme allenfalls dann in Betracht, wenn der Beklagte vorprozessual wissentlich falsche Angaben über den Täter gemacht hätte.

Praxistipp: Im Prozess trifft den Anschlussinhaber eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, welchen anderen Personen er den Internetanschluss zur Verfügung gestellt hat. Kommt er dem nicht nach, besteht eine tatsächliche Vermutung für seine Täterschaft.

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Diese Woche geht es um den Mindestinhalt einer Berufungsschrift

Zweifelsfreie Bezeichnung des Berufungsklägers
Beschluss vom 11. November 2022 – V ZB 32/20

Mit den Anforderungen an die Bezeichnung des Berufungsklägers befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien streiten mit Klage, Widerklage und Drittwiderklage um die Freigabe von hinterlegten Beträgen aus Grundstücksgeschäften. Das LG hat die Klage abgewiesen und der Widerklage sowie der Drittwiderklage im Wesentlichen stattgegeben. Der erstinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Klägerin und des Drittwiderbeklagten reichte innerhalb der Berufungsfrist einen Schriftsatz mit folgendem Inhalt ein:

„In dem Rechtsstreit [Name und Vorname der Klägerin] u. a. ./. [Name und Vorname des Beklagten], LG Kempten, [Aktenzeichen] legen wir gegen das Urteil des LG Kempten vom 30.08.2019, zugegangen am 04.09.2019, Berufung ein.“

Dem Schriftsatz waren Rubrum und Tenor des angefochtenen Urteils beigefügt.

Das OLG verwarf die Berufung als unzulässig. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde der Klägerin und des Widerbeklagten bleibt ohne Erfolg.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss eine Rechtsmittelschrift für sich allein betrachtet oder mit Hilfe weiterer Unterlagen bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eindeutig erkennen lassen, wer Rechtsmittelführer und wer Rechtsmittelgegner sein soll. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Aus den innerhalb der Berufungsfrist übermittelten Unterlagen geht zwar hervor, dass die Berufung durch den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Klägerin und des Widerbeklagten eingelegt wurde und dass diese durch das angefochtene Urteil beschwert sind. Es gibt aber keine Auslegungsregel, die besagt, dass ein Rechtsmittel im Zweifel für alle unterlegenen Streitgenossen eingelegt wird.

Praxistipp: Um die aufgezeigten Schwierigkeiten zu vermeiden, sollte die Rechtsmittelschrift das komplette Rubrum der angefochtenen Entscheidung wiedergeben und die ausdrückliche Erklärung enthalten, für welche Parteien das Rechtsmittel eingelegt wird.