BGH zur Klageerweiterung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung

In einer etwas merkwürdigen Fallkonstellation hat sich der BGH (Beschl. v. 7.11.2017 – XI ZR 529/17) einmal wieder mit der Frage beschäftigt, ob eine nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich angebrachte Klageerweiterung zulässig ist.

Die Klägerin hatte gegen die Beklagte beim LG zunächst 8.221,15 € geltend gemacht. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wurden die Anträge gestellt und der Kläger erhielt einen Schriftsatznachlass auf einen Schriftsatz der Beklagten. In dem fristgemäß eingegangenen Schriftsatz erweiterte die Klägerin die Klage dann auf 60.194,81 € (wahrscheinlich um den Rechtsstreit bis zur Revisionsinstanz führen zu können). Das LG behandelte die Klageerweiterung als unzulässig und wies im Verkündungstermin die Klage ab. Das OLG entschied über die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 2 ZPO. Die Klägerin erhob Nichtzulassungsbeschwerde. Noch vor der Begründung derselben legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin für die Revisionsinstanz das Mandat nieder und beantragte die Festsetzung des Streitwertes (wahrscheinlich um gegen die Klägerin die Kosten seiner Vertretung festsetzen zu lassen).

Der BGH setzte den Streitwert auf lediglich 8.221,15 € fest. Ein höherer Betrag ist nicht Gegenstand des Nichtzulassungsverfahrens geworden.

Die Klageerweiterung ist in der ersten Instanz nicht rechtshängig geworden, weil Anträge – wie wohl eigentlich von § 296a ZPO nicht erfasst (!) – nach st. Rspr. gleichwohl spätestens am Ende der mündlichen Verhandlung gestellt werden müssen. Der gewährte Schriftsatznachlass änderte daran nichts, da dieser nur für Angriffs- und Verteidigungsmittel maßgeblich ist. Zwar wurde der Schriftsatz zugestellt, diese Zustellung erfolgte jedoch ersichtlich nicht, um die Rechtshängigkeit herbeizuführen, zumal der Schriftsatz mit dem Urteil zugestellt wurde.

In der Berufungsinstanz hat die Klägerin den Antrag zwar wiederholt, was als Klageerweiterung ausgelegt werden kann. Da das Berufungsgericht jedoch eine Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO gefällt hatte, verlor die Klageerweiterung entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung. Somit konnte nicht mehr als die ursprüngliche Klageforderung in der Revisionsinstanz anfallen.

In der Sache selbst wird der BGH später jedenfalls deswegen nicht mehr entschieden haben, da die Klägerin keine Beschwer von mindestens 20.000 € geltend machen kann und das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen hatte. Am kostengünstigsten dürfte ohnehin die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde sein.

Fazit: Eine Klageerweiterung ist nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich, auch wenn zuvor ein Schriftsatznachlass gewährt wurde. Man muss sich also rechtzeitig überlegen, ob man die Klage noch erweitern will. Wenn es ganz „eng“ wird, darf man zur Not keinen Antrag stellen. Da die Klageerweiterung – wie gesehen – nicht rechtshängig geworden ist, könnte die Klägerin natürlich erneut klagen, wenn sie dies für sinnvoll hält.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Mit einer nicht allzu häufig relevanten, aber durchaus bedeutsamen Frage des Verfahrensrechts befasst sich die Entscheidung aus dem „Ostermontags-Blog“. Frohe Ostern!

Beauftragung eines Richters in überbesetztem Spruchkörper
Beschluss vom 25. Januar 2018 – V ZB 191/17

Mit einer Detailfrage zur internen Geschäftsverteilung in einem überbesetzten Spruchkörper befasst sich der V. Zivilsenat in einer Zurückweisungshaftsache.

Der aus Marokko stammende Betroffene war beim Versuch der Einreise von Österreich nach Deutschland festgehalten worden Das AG ordnete Haft zur Sicherung der Zurückweisung an. Die Beschwerde blieb im Wesentlichen erfolglos.

Der BGH weist die Rechtsbeschwerde des (inzwischen nach Marokko zurückgewiesenen) Betroffenen zurück. Er sieht es nicht als verfahrensfehlerhaft an, dass die Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz durch einen beauftragten Richter vorgenommen wurde, der an der Beschwerdeentscheidung nicht mitgewirkt hat. Ein aus mehreren Richtern bestehender Spruchkörper darf zwar nur diejenigen Mitglieder gemäß § 375 ZPO (bei Vernehmung oder Anhörung einer Partei iVm § 451 ZPO, vgl. BGH, B. v. 21.1.2016 – X ZB 12/15 Rz. 9 – MDR 2016, 417) mit einer Beweisaufnahme beauftragen, die nach dem internen Geschäftsverteilungsplan zur Mitwirkung in dem betreffenden Verfahren vorgesehen sind. Maßgeblich dafür ist aber nicht der Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung, sondern der Zeitpunkt der Beauftragung. Im Streitfall war der mit der Anhörung betraute Richter im maßgeblichen Zeitpunkt noch für das Verfahren zuständig.

Praxistipp: Wenn im Anschluss an eine nach diesen Grundsätzen unzulässige Beweisaufnahme eine mündliche Verhandlung stattfindet, sollte der Fehler ausdrücklich gerügt werden, um einen Rügeverlust nach § 295 ZPO zu vermeiden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers und um die Zuständigkeitsverteilung zwischen Familien- und Zivilgericht geht es in den beiden aktuellen Entscheidungen.

Zuziehung eines Dolmetschers zur persönlichen Anhörung einer Partei
Beschluss vom 1. März 2018 – IX ZR 179/17

Mit dem Recht auf ein faires Verfahren befasst sich der IX. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagten auf Zahlung von rund 370.000 Euro aus Verwahrung und Darlehen in Anspruch. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin an das OLG zurück. Das OLG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Vernehmung eines von ihr benannten Zeugen zu Unrecht abgesehen hat. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das OLG in der neu eröffneten Berufungsinstanz von Amts wegen einen Dolmetscher hinzuziehen muss, wenn die – der deutschen Sprache nicht mächtige – Klägerin sich gemäß § 137 Abs. 4 ZPO persönlich zu den der Klageforderung zugrundeliegenden tatsächlichen Umständen äußern will. Dies ergibt sich zwar nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 64, 135), wohl aber aus dem Recht auf ein faires Verfahren.

Praxistipp: Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren kann ggf. mit einer Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 544 ZPO geltend gemacht werden, nicht aber mit einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO.

Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines Zivilsenats in einer Familiensache
Beschluss vom 28. Februar 2018 – XII ZR 87/17

Dass die Zuständigkeit des „großen Familiengerichts“ immer wieder für Überraschungen sorgen kann, veranschaulicht eine Entscheidung des XII. Zivilsenats.

Die Klägerin verlangte vom Beklagten – ihrem getrennt lebenden Ehemann – die Freigabe eines hinterlegten Betrags von 100.000 Euro. Das Geld stammte aus einer der Klägerin zugefallenen Erbschaft, war aber kurz vor der Trennung der Parteien auf ein Konto des Beklagten überwiesen worden. Der Beklagte verweigerte die Freigabe unter anderem mit der Begründung, die Klägerin habe der Überweisung auf sein Konto zugestimmt, um gemeinsame Schulden zu begleichen und den Unterhalt des gemeinsamen Kindes zu sichern. Das LG verurteilte den Beklagten zur Freigabe des Betrags. Das OLG wies die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurück.

Der BGH verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig. Bei zutreffender Sachbehandlung wären nicht die Zivilgerichte zur Entscheidung berufen gewesen, sondern das Familiengericht und ein Familiensenat des OLG. Dies ergibt sich aus § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, wonach zu den (sonstigen) Familiensachen auch Verfahren gehören, die Ansprüche zwischen Ehegatten im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung betreffen. In einer Familiensache wäre eine Rechtsbeschwerde gegen die zweitinstanzliche Entscheidung gemäß § 70 FamFG nur zulässig gewesen, wenn das OLG sie zugelassen hätte. Nach dem auch für solche Konstellationen geltenden Meistbegünstigungsgrundsatz darf dem Rechtsmittelführer aus der Wahl einer unzutreffenden Verfahrensart zwar kein Nachteil entstehen. Andererseits dürfen die Möglichkeiten zur Einlegung eines Rechtsmittels dadurch aber auch nicht erweitert werden. Folglich ist die an sich gemäß § 522 Abs. 3 und § 544 ZPO statthafte Nichtzulassungsbeschwerde im Streitfall nicht zulässig.

Praxistipp: Wenn ein Ehegatte im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung den anderen Ehegatten oder dessen Eltern in Anspruch nimmt, ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG vorliegen. In Zweifelsfällen sollte bereits in erster Instanz eine Entscheidung gemäß § 17a GVG herbeigeführt werden.

BGH zur Räumungsvollstreckung bei einer Grundstücksbesetzung

Einer Entscheidung des BGH zur Räumungsvollstreckung bei einer Grundstücksbesetzung  (Beschl. v. 13.7.2017 – I ZB 103/16, MDR 2018, 174) lag folgender Sachverhalt zugrunde:

In einer vom LG erlassenen einstweiligen Verfügung wurde „einer Anzahl von 40 männlichen und weiblichen Personen, die sich als „Kulturkollektiv Arno-Nitzsche“ bezeichnen und sich zum Zeitpunkt der Zustellung“ auf einem näher bezeichneten Grundstück dauerhaft aufhalten (Schuldner) u. a. aufgegeben, das bezeichnete Grundstück zu räumen. Der Gerichtsvollzieher weigerte sich zu vollziehen, da die Schuldner – entgegen § 750 Abs. 1 S. 1 ZPO – nicht hinreichend individualisierbar seien. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel (Erinnerung, sofortige Beschwerde, Rechtsbeschwerde) blieben alle erfolglos.

Die Regelung des § 750 Abs. 1 S. 1 ZPO spricht ausdrücklich davon, dass der Schuldner namentlich bezeichnet werden muss. Dies war hier nicht der Fall. Auch aus einer Auslegung des Titels selbst – was ausreichend ist – konnten sich die Schuldner nicht mit erforderlichen Eindeutigkeit ergeben. Eine klare Abgrenzung wer zu diesem Kollektiv gehört und wie diese Personen von eventuellen Besuchern o. ä. abzugrenzen wären, ergab sich aus dem Titel nicht.

Auch Billigkeitserwägungen können es nicht rechtfertigen, von einer genauen Bezeichnung des Vollstreckungsschuldners abzusehen. Ein „Titel gegen Unbekannt“ oder „gegen den, den es angeht“ oder einen „lagebezogenen“ Titel kennt das geltende Recht nicht. Die Schaffung eines solchen Titels kann nicht durch die Rechtsprechung erfolgen, sondern ist dem Gesetzgeber vorbehalten.

Allerdings kann es nicht sein, dass der Gläubiger rechtlos gestellt wird. Dem Eigentümer eines besetzten Hauses muss es daher möglich sein, dessen Räumung zu erreichen. Dies sicherzustellen, ist dann aber die Aufgabe des Polizei- und Ordnungsrechtes. Liegt ein strafbarer Hausfriedensbruch vor, muss die zuständige Polizeibehörde auf Antrag auch zur Sicherung privater Rechte aktiv werden. Eine faktische Rechtsverweigerung liegt damit auch nicht vor.

Über die Rechtmäßigkeit des Titels hatte der BGH (Beschl. v. 13.7.2017 – I ZB 103/16, MDR 2018, 174) nicht zu entscheiden. Aus den Ausführungen zur Zwangsvollstreckung folgt aber zwangsläufig, dass die einstweilige Verfügung so nicht hätte ergehen dürfen.

Hinweis: In derartigen Fällen empfiehlt es sich, unter Hinweis auf diese Entscheidung, direkt die Polizeibehörden einzuschalten. In der Praxis wird dies freilich nicht ganz so einfach sein, wie der BGH sich dies vorstellt, da man zu dieser Thematik auch aus öffentlich-rechtlicher Sicht einiges sagen könnte. Aber jedenfalls hat der BGH mit dieser Entscheidung den „schwarzen Peter“ zunächst einmal in das öffentliche Recht verschoben. Man darf gespannt sein, wie sich diese Materie weiter entwickeln wird, wenn die Verwaltungsgerichte erneut damit befasst werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um die Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltskosten nach § 91 ZPO geht es in dieser Woche.

Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltskosten
Beschluss vom 24. Januar 2018 – VII ZB 60/17

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit der Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten, die auf einer Vergütungsvereinbarung und einer Haftpflichtversicherung für Vermögensschäden beruhen.

Die Beklagten begehrten nach Abweisung der Klage im Kostenfestsetzungsverfahren unter anderem Ersatz von Anwaltskosten, die entstanden waren, weil ihr Prozessbevollmächtigter ihnen zusätzlich zu den im Gesetz vorgesehenen Gebühren vereinbarungsgemäß eine an die Haftpflichtversicherung gezahlte Prämie in Rechnung gestellt hatte. Diese Prämie war angefallen, weil der Anwalt die Deckungssumme seiner Versicherung von 2 Millionen auf den dem Streitwert des Verfahrens entsprechenden Betrag von 3,5 Millionen Euro hatte anpassen lassen. Das Begehren blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH weist die Rechtsbeschwerde der Beklagten zurück. Er zeigt anhand der Gesetzgebungsgeschichte auf, dass zu den nach § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu erstattenden gesetzlichen Gebühren und Auslagen nur die im Gesetz vorgesehenen Regelsätze gehören, nicht aber ein aufgrund einer Honorarvereinbarung geschuldeter höherer Betrag. Ein Anspruch auf Erstattung der Versicherungsprämie kann deshalb nicht auf den Umstand gestützt werden, dass sich die Beklagten gegenüber ihrem Anwalt vertraglich zur Tragung dieser Kosten verpflichtet haben. Nach dem Gesetz (Nr. 7007 RVG-VV) kann der Anwalt zusätzlich zu den Gebühren Ersatz von Auslagen für eine Haftpflichtversicherung verlangen, soweit die Prämie auf Haftungsbeträge von mehr als 30 Millionen Euro entfällt. Daraus ist zu folgern, dass kein gesetzlicher Anspruch auf Auslagenersatz besteht, soweit die Prämie auf geringere Haftungsbeträge entfällt.

Praxistipp: Eine Vergütungsvereinbarung, in der sich ein Anwalt die Erstattung von Prämien für die Erhöhung der Deckungssumme auf einen 30 Millionen Euro nicht übersteigenden Betrag zusagen lässt, muss nach § 3a Abs. 1 Satz 3 RVG den Hinweis enthalten, dass die gegnerische Partei, ein Verfahrensbeteiligter oder die Staatskasse im Falle der Kostenerstattung diesen Betrag regelmäßig nicht erstatten muss.

Neuer Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichtsbarkeit

Die sogenannte Streitwertkommission hat am 09.02.2018 die vierte, überarbeitete Fassung des Streitwertkatalogs für die Arbeitsgerichtsbarkeit herausgegeben. Der Streitwertkatalog ist z.B. über die Homepage des Sächsischen Landesarbeitsgerichts abrufbar, auch in einer Fassung mit Hervorhebungen der Änderungen: www.justiz.sachsen.de/lag/content/1309.htm

Eine erste Einschätzung zu dem neuen Katalog hat Rechtsanwalt Schäder im ArbRB-Blog abgegeben: www.arbrb.de/blog/2018/02/23/der-neue-streitwertkatalog-arbeitsrecht-vom-09-02-2018-wieder-nichts-neues/

 

 

BVerfG zu Stichtagslösung bei Übertragung von Verfahren auf anderen Spruchkörper

Das BVerfG (v. 20.02.2018 – 2 BvR 2675/17) hat eine Geschäftsverteilungsregelung eines Verwaltungsgerichts als Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters angesehen:

 

Nach der Richtgeschwindigkeit muss man sich nicht (immer) richten

Der Fahrer eines Seat befand sich auf der linken Fahrspur einer Autobahn und wollte gerade einen Dacia überholen, als dieser plötzlich und ohne zu blinken nach links zog. Der Fahrer des Seat konnte bei einem Tempo von 150 km/h nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr auf den Dacia auf. Der Fahrer des Dacia verklagte den Halter des auffahrenden Pkw; er meinte, wer sich nicht an die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h halte, müsse jedenfalls anteilig für den Unfallschaden haften. Das OLG Hamm war anderer Meinung: Auch wenn der Auffahrende maßvoll die empfohlene Richtgeschwindigkeit überschreitet, verwirklicht sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit verbundene Gefahr des Ver- und Unterschätzens der Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs nicht, wenn der die Fahrstreifen wechselnde den rückwärtigen Verkehr gar nicht beachtet“ (Beschl. v. 8.2.2018 – 7 U 39/17).

So richtig überraschen mag diese Entscheidung nicht. Denn auch wenn die Autobahn-Richtgeschwindigkeit in einer Verordnung , nämlich der „Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeits-V)“ „geregelt“ ist, kann der Bestimmung schon vom Wortlaut her keine Verbindlichkeit zukommen. Sie stellt eine reine Empfehlung dar, die als solche auch nicht sanktioniert ist. Es handelt sich um nicht mehr als um einen psychologischen Appell. (AG Halle, Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82.) Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet auch kein Verschulden (OLG Nürnberg, Urt. v. 9.9.2010 – 13 U 712/10, MDR 2011, 26). Die rechtlich einzuhaltende Geschwindigkeit ergibt sich allein aus den Regelungen des § 3 StVO. Rechtlich völlig bedeutungslos ist die Richtgeschwindigkeit jedoch nicht. Denn die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit kann nach der Wertung und den Erkenntnissen des Verordnungsgebers unfallverhütend wirken; ihre (Nicht-)Einhaltung kann damit jedenfalls zivilrechtliche Folgen haben.

Einen Schnellfahrer zur (Mit-)Haftung heranzuziehen, ist durchaus auch die gerichtliche Praxis. So nimmt das OLG Oldenburg (Urt. v. 21.3.2012 – 3 U 69/11) eine deutliche Überschreitung bei 200 km/h, das AG Halle schon bei 180 km/h an (Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82) und das OLG Hamm (Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10 – NZV 2011, 248), „wenn sich die erhöhte Geschwindigkeit nachweislich betriebsgefahrerhöhend ausgewirkt hat“ an. Bei der Abwägung gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG sei zwar auf beiden Seiten lediglich die Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Diese sei aber hier ungleich hoch. Erhöht sei die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer Umstände unfallursächlich vergrößert werden. Das sei hinsichtlich eines schnell fahrenden Fahrzeugs der Fall, wenn die Richtgeschwindigkeit in ganz erheblichem Maße überschritten worden sei und positiv feststehe, dass der Unfall bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit vermieden worden wäre. Auch 160 km/h (OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10) genügen hier schon. Eine „deutliche Überschreitung“ der Richtgeschwindigkeit liegt aber auch nach dem OLG München (Urt. v. 2.2.2007 – 10 U 4976/06) noch nicht bei einem Tempo von 150 km/h vor.

Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet in aller Regel keinen Verschuldensvorwurf, sondern erhöht allenfalls die in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr (OLG Schleswig, Teilurt. v. 30.7.2009 – 7 U 12/09). Derjenige, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet, kann sich nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls berufen: Dazu müsste er die Richtgeschwindigkeit einhalten. (Seine) Betriebsgefahr ist aber auch nur dann erhöht, wenn er die Richtgeschwindigkeit maßgeblich überschritten hat. Das ist bei 180 bis 200 km/h der Fall, bei 150 km/h aber noch nicht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Mit dem Beginn von Rechtsmittelfristen und mit der Nutzungsausfallentschädigung für Motorräder befassen sich die beiden Entscheidungen aus dieser Woche.

Zustellung einer beglaubigten Abschrift reicht aus
Urteil vom 15. Februar 2018 – V ZR 76/17

Der V. Zivilsenat bekräftigt, dass eine Rechtsmittelfrist seit der am 1.7.2014 in Kraft getretenen Änderung von § 317 ZPO mit der Zustellung einer beglaubigten Abschrift der Entscheidung beginnt.

Die Klägerin machte Schadensersatzansprüche aus einem Kaufvertrag über eine Eigentumswohnung geltend. Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Das OLG wies sie ab. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine beglaubigte Abschrift des Berufungsurteils zugestellt. Knapp vier Wochen später wurde ihm auf Antrag eine Ausfertigung erteilt. Innerhalb eines Monats nach Erhalt der Ausfertigung, aber nahezu zwei Monate nach Zustellung der beglaubigten Abschrift legte die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde ein.

Der BGH verwirft das Rechtsmittel als unzulässig. Nach der früheren Rechtsprechung begann eine Rechtsmittelfrist zwar grundsätzlich erst mit Zustellung einer Ausfertigung zu laufen. Nach der seit 1.7.2014 geltenden Fassung von § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO werden Ausfertigungen aber nur noch auf Antrag erteilt. Deshalb beginnt eine Rechtsmittelfrist nunmehr bereits mit Zustellung einer beglaubigten Abschrift (ebenso bereits BGH, B. v. 27.1.2016 – XII ZB 684/14, MDR 2016, 667). Mit ihrem Einwand, ihr sei abweichend vom Empfangsbekenntnis nur eine nicht beglaubigte Abschrift zugestellt worden, dringt die Klägerin nicht durch – unter anderem deshalb, weil sie entgegen einer Aufforderung des BGH das zugestellte Dokument nicht im Original, sondern nur als schlecht lesbare Kopie vorgelegt hatte.

Praxistipp: Vor der Erteilung eines Empfangsbekenntnisses sollte sorgfältig geprüft werden, ob die zugestellte Abschrift den erforderlichen Beglaubigungsvermerk enthält.

Nutzungsausfallentschädigung für ein Motorrad
Urteil vom 23. Januar 2018 – VI ZR 57/17

Der VI. Zivilsenat bejaht einen Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung auch für Motorräder.

Das Motorrad des Klägers war bei einem Verkehrsunfall beschädigt worden. Der von der Haftpflichtversicherung des Beklagten beauftragte Sachverständige erstattete sein Gutachten erst sechs Wochen später. Die Klage auf Nutzungsausfallentschädigung für diesen Zeitraum blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Er bekräftigt seine Rechtsprechung, wonach der Verlust der Nutzungsmöglichkeit eines Kraftfahrzeugs als wirtschaftlicher Schaden zu werten sein kann, und entscheidet, dass dies auch für Motorräder gilt. Wie bei Pkw ist dafür grundsätzlich Voraussetzung, dass der Geschädigte über kein anderes Fahrzeug verfügt. Dass ein Motorrad nicht bei jeder Witterung benutzt wird, ist allenfalls für die Schadenshöhe von Bedeutung. Das LG wird deshalb nach Zurückverweisung zu prüfen haben, an welchen Tagen das Wetter eine Nutzung zuließ.

Praxistipp: Um den Einwand des Mitverschuldens auszuschließen, sollte der Geschädigte frühzeitig darauf hinweisen, dass er über kein weiteres Fahrzeug verfügt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Eine eher singuläre prozessuale Situation und eine allgemeine Frage des Bereicherungsrechts behandeln die beiden Entscheidungen aus dieser Woche.

Eine zu Unrecht zugelassene, aber dennoch erfolgreiche Rechtsbeschwerde
Urteil vom 7. Februar 2018 – VII ZB 28/17

Das Spannungsverhältnis zwischen der dem BGH zugewiesenen Aufgabe und dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit verdeutlicht eine Entscheidung des VII. Zivilsenats.

Die Klägerin hatte Vergütung für die Schaltung einer Werbeanzeige im Internet begehrt. Nach übereinstimmender Erledigungserklärung legte das AG die Kosten gemäß § 91a ZPO der Klägerin auf. Die Beschwerde dagegen blieb erfolglos.

Der BGH hebt die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander auf. Er stellt zunächst klar, dass das LG die Rechtsbeschwerde nicht hätte zulassen dürfen, weil ein Verfahren nach § 91a ZPO nicht dazu dient, grundsätzliche Fragen des materiellen Rechts zu klären. Da die Zulassung für den BGH bindend ist, hatte er die angefochtene Kostenentscheidung dennoch zu überprüfen. Dies führte zur Kostenaufhebung, weil die Entscheidung des Rechtsstreits von einer Rechtsfrage abhing, die nicht einfach zu beantworten war und deshalb im Verfahren nach § 91a ZPO nicht zu beantworten ist.

Praxistipp: Anders als in der dem Streitfall zugrunde liegenden Konstellation ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht bindend, wenn dieses Rechtsmittel gegen die angefochtene Entscheidung von vornherein nicht in Betracht kommt.

Bereicherungsausgleich nach Direktzahlung eines Jobcenters an einen Vermieter
Urteil vom 31. Januar 2018 – VIII ZR 39/17

Mit einem Fall des Bereicherungsausgleichs in Dreiecksverhältnissen befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die Beklagten hatten ein Einfamilienhaus vermietet. Das klagende Jobcenter hatte die Miete für den leistungsberechtigten Mieter direkt an die Beklagten überwiesen. Im Juli 2014 reichten die Mieter beim Kläger einen Mietvertrag über eine andere Wohnung ein. Einen Tag später überwies der Kläger die Miete für August an die Beklagten. Diese verweigerten die Rückzahlung unter Berufung auf Gegenforderungen gegen den Mieter. Das AG wies die Klage ab. Das LG verurteilte die Beklagten antragsgemäß.

Der BGH weist die Revision der Beklagten zurück. Er beginnt seine Erwägungen mit dem klassischen Satz, dass sich beim Bereicherungsausgleich in Dreiecksverhältnissen jede schematische Betrachtung verbietet, wendet dann aber die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze an. Danach ist die Zahlung als Leistung des Mieters an die Beklagten anzusehen, weil nur der Miter in einer Leistungsbeziehung zu diesen stand. Dem Kläger steht dennoch ein Bereicherungsanspruch unmittelbar gegen die Beklagten zu, weil der Mieter seine Anweisung, die Leistungen direkt an die Beklagten zu zahlen, durch Vorlage des neuen Mietvertrags konkludent widerrufen hat und weil den Beklagten bekannt war, dass ihnen für August kein Anspruch auf Miete mehr zustand.

Praxistipp: Der BGH hat ausdrücklich klargestellt, dass eine andere Beurteilung geboten sein kann, wenn der alte Mietvertrag fortbesteht und der Vermieter auch sonst keine Anhaltspunkte dafür hat, dass es sich um eine Zuvielzahlung handelt.