Anwaltsblog 19/2025: Überspannung anwaltlicher Sorgfaltspflichten bei Wiedereinsetzungsanträgen

Was bei nicht rechtzeitiger Übermittlung fristgebundener Schriftsätze wegen behaupteter Internetstörungen in Wiedereinsetzungsanträgen vorgetragen werden muss, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 24. April 2025 – III ZB 12/24):

 

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers begründete nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 20. November 2023 die Berufung mit Schriftsatz vom selben Tage. Der Schriftsatz ging am 21. November 2023 um 7.20 Uhr beim zuständigen OLG Dresden ein. Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags versicherte die Rechtsanwältin anwaltlich, sie habe aufgrund einer Knieverletzung mit ihrem Laptop im „Homeoffice“ gearbeitet und dabei über das Internet auf den Kanzleiserver zugegriffen. Die Berufungsbegründung habe sie um 22.56 Uhr aus ihrem beA-Postfach – ihrer damaligen Überzeugung nach – an das von ihr in der Empfängermaske ausgewählte zuständige OLG Dresden versandt. Nachdem im Ordner „Gesendet“ des beA-Postfachs die erfolgreiche Übermittlung angezeigt worden sei, habe sie noch einen Fristverlängerungsantrag in einer anderen Sache gefertigt. Beim Versuch, diesen anschließend in der e-Akte des Anwaltsprogramms auf dem Kanzleiserver zu speichern, habe sie festgestellt, dass die Internetverbindung zwischenzeitlich abgebrochen sei. Daraufhin habe sie bis gegen 24.00 Uhr mehrfach erfolglos versucht, die Verbindung über die Internet- und Netzwerkeinstellungen an ihrem Computer sowie durch Aus- und Einschalten des Laptops und des Routers wiederherzustellen. Ohne Internetverbindung habe sie auch nicht das Prüfprotokoll zur Übermittlung der Berufungsbegründung aus dem beA-Postfach herunterladen, ausdrucken und die Übermittlungsdaten auf ihre Richtigkeit prüfen können. Dies habe sie erst am nächsten Morgen gegen 7.00 Uhr nachholen können, nachdem sich die Internetverbindung habe wiederherstellen lassen. Dabei habe sie feststellen müssen, dass die Berufungsbegründung am Vorabend um 22.56 Uhr tatsächlich unerklärlicherweise an das unzuständige OLG Nürnberg übersandt worden sei. Daraufhin habe sie deren Übermittlung an das OLG Dresden umgehend nachgeholt.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Gewährung von Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Eine Wiedereinsetzung in die abgelaufene Berufungsbegründungsfrist komme auch mit Blick auf die angeführten Geschehnisse am Abend des 20. November 2023 nicht in Betracht. Der Kläger habe nicht genügend glaubhaft gemacht, dass die verspätete Übermittlung der Berufungsbegründung an das zuständige OLG Dresden nicht durch ein ihm zurechenbares Anwaltsverschulden verursacht worden sei. Es erschließe sich nicht, dass eine ordnungsgemäße Eingangskontrolle stattgefunden habe. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hätte im unmittelbaren Anschluss an den Übermittlungsvorgang die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO abrufen und eingehend kontrollieren müssen. Stattdessen habe sie  zunächst noch andere Schriftsatzvorgänge über das beA-Postfach abwickeln wollen, wobei es erst im Zuge dieser weiteren Übermittlungsvorgänge zu technischen Störungen gekommen sei. Nach dem geschilderten Geschehensablauf sei nicht auszuschließen, dass bei einer unmittelbar anschließenden Eingangskontrolle ein Abruf des Prüfprotokolls des unzuständigen OLG Nürnberg noch möglich gewesen wäre und der Übermittlungsfehler rechtzeitig hätte festgestellt werden können. Dessen ungeachtet könne das Vorbringen zu aufgetretenen technischen Störungen die Prozessbevollmächtigte des Klägers ohnehin nicht entschuldigen.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Dass die Prozessbevollmächtigte unverschuldet gehindert gewesen wäre, die Berufungsbegründung an das richtige Gericht zu übermitteln, ist nicht glaubhaft gemacht worden. Ein der Partei zuzurechnendes Anwaltsverschulden an der Versäumung einer Frist liegt vor, wenn die für eine Prozessführung erforderliche, übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts außer Acht gelassen worden ist. Bei Anlegung dieses Maßstabs hat das Berufungsgericht zwar die an die anwaltlichen Sorgfaltspflichten zu stellenden Anforderungen überspannt. Dies hat sich aber im Ergebnis nicht ausgewirkt. Eine Überdehnung der anwaltlichen Sorgfaltspflichten liegt darin, dass das Berufungsgericht der Prozessbevollmächtigten angelastet hat, nicht sofort nach dem Versand der Berufungsbegründung um 22.56 Uhr auch die vom Justizserver automatisch erstellte Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO im beA-System abgerufen und kontrolliert, sondern erst noch einen Fristverlängerungsantrag in einer anderen Sache gefertigt zu haben. Die anwaltliche Sorgfalt erfordert es, beim Versand von fristgebundenen Schriftsätzen per beA zu kontrollieren, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht erteilt worden ist. Danach ist es zwar unerlässlich, dass der Rechtsanwalt die vom Justizserver generierten Eingangsbestätigungen für die von ihm übermittelten fristgebundenen Schriftsätze (überhaupt) abruft und kontrolliert und damit den Übermittlungsvorgang insgesamt abschließt. Allerdings bleibt es seiner eigenen Arbeitsorganisation überlassen, wann er dies tut, sofern er nicht wiederum durch die Wahl dieses Zeitpunkts die anwaltliche Sorgfalt verletzt. Dies ist hier entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht der Fall. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Reicht er ihn nicht rechtzeitig bei Gericht ein, kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur in Betracht, wenn der Rechtsanwalt alle erforderlichen Schritte unternommen hat, die bei einem normalen Verlauf der Dinge mit Sicherheit dazu führen würden, dass die Frist gewahrt wird. Schöpft er eine Rechtsmittelbegründungsfrist bis zum letzten Tag aus, hat er wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos zudem erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Nutzt ein Rechtsanwalt zur Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes ein Telefaxgerät, hat er das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übertragung begonnen hat, dass unter gewöhnlichen Umständen mit deren Abschluss vor 24.00 Uhr gerechnet werden konnte. Dabei hat er die Belegung des Empfangsgeräts des Gerichts durch andere eingehende Sendungen – insbesondere in den Abend- und Nachtstunden – in Rechnung zu stellen und zusätzlich zu der eigentlichen Sendedauer eine ausreichende Zeitreserve einzuplanen, um gegebenenfalls durch Wiederholung der Übermittlung den Zugang des Schriftsatzes bis zum Fristablauf zu gewährleisten. Dieser zeitliche „Sicherheitszuschlag“ wird allgemein mit ungefähr 20 Minuten bemessen. Entsprechendes gilt bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen per beA, da auch im elektronischen Rechtsverkehr Verzögerungen beispielsweise durch eine Vielzahl vor Mitternacht eingehender und vom System zu verarbeitender Nachrichten, Software-Updates oder Schwankungen bei der Internetverbindung einzukalkulieren sind. Ob dabei ebenfalls eine zeitliche Reserve in der Größenordnung von 20 Minuten zu fordern ist, kann dahinstehen. Denn jedenfalls war die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers angegebene Zeitspanne von ungefähr 55 Minuten als Sicherheitszuschlag ausreichend, die ihr ohne den nur wenige Minuten nach 22.56 Uhr erfolgten Internetausfall noch zur Verfügung gestanden hätte, um die Eingangsbestätigung abzurufen und zu kontrollieren, die Fehlübersendung zu bemerken und die Übermittlung der Berufungsbegründung an das richtige Empfängergericht nachzuholen.

Danach steht dem Wiedereinsetzungsbegehren des Klägers nicht schon entgegen, dass seine Prozessbevollmächtigte den korrekten Zugang der Berufungsbegründung nicht unmittelbar im Anschluss an deren Versendung überprüft hat. Dass die Vorinstanz insoweit gleichwohl von einem Sorgfaltspflichtverstoß ausgegangen ist, hat sich indes nicht entscheidungserheblich ausgewirkt. Denn die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs ist selbständig tragend auch darauf gestützt, dass das Vorbringen des Klägers zum Ausfall der Internetverbindung und zu den von seiner Prozessbevollmächtigten entfalteten Bemühungen zu deren Wiederherstellung unzureichend ist und damit nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass das Unterbleiben einer rechtzeitigen „Reparatur“ des Übermittlungsfehlers auf einem Verschulden ihrerseits beruht. Dies ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Fehlfunktion technischer Einrichtungen den Rechtsanwalt nur dann entlastet, wenn die Störung plötzlich und unerwartet aufgetreten ist und weder durch regelmäßige Wartungen der Geräte hätte verhindert werden können noch auf einem Bedienfehler beruht. Dies ist substantiiert und nachvollziehbar vorzutragen und glaubhaft zu machen, wobei außer der Art des Defekts und der Maßnahmen zu seiner Behebung auch dargelegt werden muss, dass die Fristwahrung nicht auf anderem Wege – also im elektronischen Rechtsverkehr durch eine gemäß § 130d Satz 2 ZPO zulässige Ersatzeinreichung etwa per Telefax – möglich war. Ob das Berufungsgericht zu Recht beanstandet hat, es werde „lediglich in allgemeiner Form…mitgeteilt“, dass am 20. November 2023 nach 22.56 Uhr das Internet ausgefallen sei, wofür „nachvollziehbare Belege…fehlen“, kann dahinstehen. Dazu ist lediglich anzumerken, dass mit einem – nach allgemeiner Lebenserfahrung gelegentlich durchaus auftretenden – Abbruch der Internetverbindung die Art der technischen Störung hinreichend genau beschrieben (anders als etwa mit einem „Computerdefekt“) und durch die abgegebene anwaltliche Versicherung glaubhaft gemacht sein dürfte. Die Vorinstanz, die die Schilderungen zu den Bemühungen um die Wiederherstellung der Internetverbindung als „rudimentär“ bewertet hat, hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht hat, dass sie sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Wiederherstellung der Internetverbindung erfolglos ergriffen hat bzw. aus konkret bezeichneten Gründen nicht hat ergreifen können. Zwar sind insoweit keine übertriebenen Anforderungen zu stellen, zumal ein Internetausfall vielfältige und nicht immer sicher identifizierbare Ursachen haben kann (z.B. ungünstige Wetterbedingungen, Kabelbrüche durch Straßenbauarbeiten, technische Probleme im Verantwortungsbereich des Internetanbieters, Defekte oder Störungen des Routers, Konfigurations-, Software- oder Hardwareprobleme innerhalb des lokalen Netzwerks oder des Endgeräts). Von einem Rechtsanwalt als professionellem Anwender kann jedoch erwartet werden, dass er diejenigen ganz einfachen, ohne besondere technische Kenntnisse auch von Laien umsetzbaren und weitgehend allgemein geläufigen Sofortmaßnahmen zur Wiederherstellung einer Internetverbindung kennt und ergreift. Dazu gehört nicht nur das Aus- und Einschalten des Routers und des Computers sowie die Überprüfung von dessen Internet- und Netzwerkeinstellungen, sondern jedenfalls auch die Kontrolle, ob die Netzwerkkabel am Router und (bei einer LAN-Verbindung) am Computer noch richtig eingesteckt sind. Dazu ist hier nichts vorgetragen worden. Insbesondere hat die Prozessbevollmächtigte nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass sie überprüft habe, ob sich die Kabelverbindungen gelöst hätten. Da es schon insoweit an einem ausreichenden Wiedereinsetzungsvorbringen fehlt, muss nicht abschließend entschieden werden, ob auch die einfach zu bewerkstelligende Errichtung eines WLAN-Hotspots über ein Smartphone und dessen Nutzung als Ersatz-Internetverbindung zu den Maßnahmen gehört, zu denen im Wiedereinsetzungsverfahren hätte vorgetragen werden müssen.

 

Fazit: Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs per beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch hier ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Die Überprüfung der ordnungsgemäßen Übermittlung erfordert dabei die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt wurde (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – VIII ZB 9/20 –, MDR 2021, 896).

Anwaltsblog 9/2024: Beratungspflichten eines Rechtsanwalts bei Wegfall der Erfolgsaussicht eines Rechtsstreits nach Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Mit der Verpflichtung des Rechtsanwalts, aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung durch die Nutzung von online-Datenbanken zeitnah zur Kenntnis zu nehmen, befasst sich eine Entscheidung in einem Anwaltshaftungsprozess (Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 26. Januar 2024 – 9 U 364/18):

 

Die Klägerin, ein Rechtsschutzversicherer, nimmt die beklagten Rechtsanwälte aus übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden sein, dass die Beklagten für ihre Mandanten einen von vornherein aussichtslosen Rechtsstreit geführt bzw. fortgeführt haben: Die Beklagten machten für ihre Mandanten Ansprüche wegen der Verletzung von Beratungspflichten vor Abschluss einer Beteiligung an der „S. GmbH & Co. KG“ geltend. Die Verjährung dieser Ansprüche wollten sie durch einen Güteantrag gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB hemmen. Während des Prozessverlaufs verschärfte der BGH die Anforderungen an einen wirksamen Güteantrag (BGH, Urteil vom 18. Juni 2015 – III ZR 198/14 –, MDR 2015, 943). Da der von den Beklagten gestellte Güteantrag den Anforderungen der geänderten Rechtsprechung nicht entsprach, war die Klageforderung verjährt und die Fortsetzung des Prozesses nicht erfolgversprechend. Dass die weitere Rechtsverfolgung dadurch aussichtslos geworden war, mussten die Beklagten erkennen und ihre Mandanten zur Rücknahme der 2013 eingereichten Klage raten.

Ein Rechtsanwalt ist grundsätzlich zur allgemeinen, umfassenden und möglichst erschöpfenden Beratung des Auftraggebers verpflichtet. Unkundige muss er über die Folgen ihrer Erklärungen belehren und vor Irrtümern bewahren. In den Grenzen des Mandats hat er dem Mandanten diejenigen Schritte anzuraten, die zu dem erstrebten Ziel zu führen geeignet sind, und Nachteile für den Auftraggeber zu verhindern, soweit solche voraussehbar und vermeidbar sind. Dazu hat er dem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist. Ziel der anwaltlichen Rechtsberatung ist es danach, dem Mandanten eigenverantwortliche, sachgerechte (Grund-)Entscheidungen („Weichenstellungen”) in seiner Rechtsangelegenheit zu ermöglichen. Dazu muss sich der Anwalt über die Sach- und Rechtslage klarwerden und diese dem Auftraggeber verständlich darstellen. Auch im Blick auf die Erfolgsaussichten eines in Aussicht genommenen Rechtsstreits geht es darum, den Mandanten in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich seine Rechte und Interessen zu wahren und eine Fehlentscheidung in seinen rechtlichen Angelegenheiten vermeiden zu können. Aufgrund der Beratung muss der Mandant in der Lage sein, Chancen und Risiken des Rechtsstreits selbst abzuwägen. Hierzu reicht es nicht, die mit der Erhebung einer Klage verbundenen Risiken zu benennen. Der Rechtsanwalt muss auch das ungefähre Ausmaß der Risiken abschätzen und dem Mandanten das Ergebnis mitteilen. Zwar besteht keine mandatsbezogene Pflicht, einen von Anfang an aussichtslosen Rechtsstreit nicht zu führen, jedoch muss der Rechtsanwalt seiner Pflicht zur Beratung des Mandanten über die Erfolgsaussichten des in Aussicht genommenen Rechtsstreits genügen. Ist danach eine Klage praktisch aussichtslos, muss der Rechtsanwalt dies klar herausstellen. Er darf sich nicht mit dem Hinweis begnügen, die Erfolgsaussichten seien offen. Vielmehr kann der Rechtsanwalt nach den gegebenen Umständen gehalten sein, von der beabsichtigten Rechtsverfolgung ausdrücklich abzuraten. Bei der Beratung kommt der aktuellen einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung überragende Bedeutung zu. Diese hat ein auf das betroffene Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt, der mit einer Vielzahl ähnlich gelagerter Verfahren mandatiert ist, im besonderen Maße zeitnah zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Beratung zu berücksichtigen. Der Rechtsanwalt hat seine Hinweise, Belehrungen und Empfehlungen in der Regel an dieser Rechtsprechung auszurichten, dies sogar dann, wenn er diese für unzutreffend hält. Seine Pflicht, den Mandanten über die Erfolgsaussichten eines in Aussicht genommenen Rechtsstreits aufzuklären, endet nicht mit dessen Einleitung. Verändert sich die rechtliche oder tatsächliche Ausgangslage im Laufe des Verfahrens, muss der Rechtsanwalt seinen Mandanten über eine damit verbundene Verschlechterung der Erfolgsaussichten aufklären. Dies kommt in Betracht, wenn eine zu Beginn des Rechtsstreits noch ungeklärte Rechtsfrage in einem Parallelverfahren höchstrichterlich geklärt wird und danach das Rechtsschutzbegehren des Mandanten keine Aussicht auf Erfolg mehr hat. In dieser Situation hat er von einer Fortführung der Rechtsverfolgung abzuraten.

Ein Rechtsberater ist verpflichtet, die höchstrichterliche Rechtsprechung zeitnah zur Kenntnis zu nehmen und seine Rechtsberatung daran auszurichten. Über die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich der Rechtsanwalt anhand von amtlichen Sammlungen und einschlägigen Fachzeitschriften zu informieren. Ferner findet sich diese Rechtsprechung in Kommentaren, Lehrbüchern und elektronischen Datenbanken. Ein auf Kapitalanlagerecht spezialisierter Rechtsanwalt war nach Auffassung des Senats gehalten, sich über die online verfügbare Entscheidungsdatenbank des BGH über die fortlaufende Rechtsprechung zu informieren. Der Begriff der amtlichen Sammlung ist im Hinblick auf Entscheidungen des BGH nicht allein auf Druckwerke beschränkt. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass gerade angesichts der Entwicklung des allgemeinen Medienkonsums und der zunehmenden Digitalisierung im Arbeitsbereich eine immer stärker werdende Verlagerung der Wahrnehmung höchstrichterlicher Rechtsprechung hin zu digitalen Angeboten erfolgt. Dies gebietet es, dass nicht allein die Druckwerke amtlicher Sammlungen (BGHZ und BGHSt) als maßgebliches Erfassungsmittel der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH in den Blick genommen werden müssen, sondern auch dessen online verfügbare Entscheidungsdatenbank, in der die seit dem 01.01.2000 ergangenen Entscheidungen veröffentlicht werden. Gerade bei der Online-Entscheidungsdatenbank des BGH handelt es sich um eine einfach zugängliche und kostenfreie Recherchemöglichkeit, die nach Ansicht des Senats ein Äquivalent zu der gedruckten amtlichen Sammlung darstellt. Ihr kommt die für amtliche Sammlungen kennzeichnende besondere Autorisierung vor.

Der Senat geht davon aus, dass sich die Mandanten der Beklagten bei pflichtgemäßer Beratung gegen die Fortführung des Rechtsstreits entschieden hätten. Die schuldhafte Pflichtverletzung der Beklagten ist für den Schaden kausal geworden.

 

Fazit: Ein und derselbe Kostenschaden kann zwei unterschiedlichen, sich wechselseitig ausschließenden Streitgegenständen unterfallen. Der Mandant kann behaupten, der Vorprozess wäre bei pflichtgemäßem Vorgehen des Anwalts gewonnen und ihm folglich keine Kostenpflicht auferlegt worden. Hier tritt der Kostenschaden neben den Schaden, der im Verlust der Hauptsache liegt. Zum anderen kann der Mandant geltend machen, der Anwalt habe den nicht gewinnbaren Vorprozess gar nicht erst einleiten oder fortführen dürfen (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19 –, MDR 2021, 1357).

Anwaltsblog: Welche Pflichten treffen den Rechtsanwalt, der selbst einen fristgebundenen Schriftsatz aus dem beA versendet?

Übermittelt ein Rechtsanwalt einen fristgebundenen Schriftsatz per beA, entsprechen seine Sorgfaltspflichten denjenigen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Dabei gehört die korrekte Eingabe der Empfängernummer zu seinen Sorgfaltsanforderungen. Ob hiervon ausgehend eine Prozessbevollmächtigte, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet ist, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Mit einem an das Landgericht Berlin adressierten Schriftsatz hat die Klägerin Berufung gegen das Urteil des AG Berlin-Schöneberg eingelegt. Dieser Schriftsatz ist als elektronisches Dokument über das beA an das Amtsgericht versandt worden, wo er am letzten Tag der Rechtsmittelfrist -eingegangen ist. Beim (zuständigen) Landgericht ist er nach Weiterleitung durch das Amtsgericht erst nach Fristablauf eingegangen. Ihren Wiedereinsetzungsantrag hat die Klägerin wie folgt begründet: Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsschrift am Vormittag des Tags des Fristablaufs diktiert und nach Vorlage des Diktats und Kontrolle des Schriftsatzes eigenhändig unterschrieben. Sie habe anschließend eine Mitarbeiterin angewiesen, die Berufungsschrift sofort in ihr beA für den Versand einzustellen. Gegen 14 Uhr habe die Kanzleimitarbeiterin ihr mitgeteilt, die beA-Nachricht sei mit Ausnahme der qualifizierten elektronischen Signatur sofort versandfertig an das Berufungsgericht. Die Prozessbevollmächtigte habe sich sofort in ihren beA-Account eingeloggt, die Berufungsschrift sowie die Anlage jeweils einzeln mit ihrer qualifizierten elektronischen Signatur versehen und den „Senden-Button gedrückt“. Anschließend habe sie die Akte wieder an die Angestellte mit der Anweisung übergeben, den Versand zu überprüfen. Auf spätere Nachfrage habe diese versichert, der Versand sei ordnungsgemäß erfolgt. Tatsächlich aber sei durch ein unerklärliches Versehen der Mitarbeiterin beim Einstellen der beA-Nachricht in das Postfach der Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Auswahl des Empfängers über die globale Adressliste das Amtsgericht Schöneberg anstelle des Landgerichts Berlin ausgesucht worden, obwohl die Berufungsschrift (richtig) an das Landgericht adressiert gewesen sei.

Der Wiedereinsetzungsantrag hat keinen Erfolg. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte, als sie die Berufungsschrift selbst über das beA versandte, ohne Weiteres und rechtzeitig die Fehlerhaftigkeit der zuvor von ihrer Mitarbeiterin getroffenen Auswahl des Amtsgerichts als Empfänger der Nachricht erkennen können und korrigieren müssen. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Entschließt er sich, einen fristgebundenen Schriftsatz selbst bei Gericht einzureichen, hat er auch in diesem Fall geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen fristgerechten Eingang zu gewährleisten.    Hiervon ausgehend war die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist. Dies hat sie nicht mit der gebotenen Sorgfalt getan. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin konnte beim Versand der Berufungsschrift aus der beA-Webanwendung den Adressaten ihrer Nachricht – ähnlich einer E-Mail – dem deutlich sichtbaren Empfängerfeld entnehmen. Für sie war somit erkennbar, wohin sie die beA-Nachricht schickt, wenn sie, wie von ihr ausgeführt, auf den „Senden-Button gedrückt“ hat. Es musste ihr ohne Weiteres auffallen, dass es sich bei dem ausgewählten Amtsgericht nicht um das zuständige Gericht für die Einlegung einer Berufung handeln konnte. Zudem muss ein Rechtsanwalt, auch soweit er sich grundsätzlich auf seine Mitarbeiter verlassen kann, selbst tätig werden und für die ordnungsgemäße Erfüllung der betreffenden Aufgabe Sorge tragen, wenn für ihn bei gehöriger Aufmerksamkeit und Sorgfalt erkennbar ist, dass seinem Büropersonal im Rahmen des ihm übertragenen Aufgabenkreises Fehler unterlaufen sind oder es Anweisungen nicht beachtet hat. Dies ist hinsichtlich des von der Kanzleimitarbeiterin im beA ersichtlich unzutreffend ausgewählten erstinstanzlichen Gerichts als Adressat für die Berufungsschrift der Fall. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte ohne weiteres – insbesondere ohne Abgleich mit dem Schriftsatz – und rechtzeitig erkennen können, dass ihre Mitarbeiterin nicht das richtige Gericht im Empfängerfeld der beA-Nachricht ausgewählt hatte, und hätte dies vor dem Absenden korrigieren müssen.

(BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 – VIII ZB 60/22)

 

Fazit: Ein Prozessbevollmächtigter, der den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vornimmt, ist verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihm durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als das richtige Empfangsgericht adressiert ist.

Anwaltsblog: Kein Vertrauen auf (erstmalige) Fristverlängerung von mehr als einem Monat ohne Zustimmung Gegenseite!

Darf der Rechtsmittelführer bei einem erstmaligen Fristverlängerungsantrag von mehr als einem Monat auf die Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist vertrauen und braucht nicht bei Gericht nachzufragen?

Das Familiengericht hat die Antragsgegnerin durch am 3. Januar 2022 zugestellten Beschluss zur Auskunftserteilung verpflichtet. Die Antragsgegnerin hat Beschwerde eingelegt und am 3. März 2022 beantragt, die Frist zur Begründung um sechs Wochen bis einschließlich 14. April 2022 zu verlängern. Mit am 14. April 2022 beim OLG eingegangenem Schriftsatz hat sie ihre Beschwerde begründet. Nach Hinweis hat die Antragsgegnerin beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihre zuverlässige und erfahrene Rechtsanwaltsfachangestellte habe den Ablauf der Begründungsfrist, nachdem ein erster, auf Verlängerung bis zum 4. April 2022 gerichteter Fristverlängerungsantrag abgefasst worden sei, weisungsgemäß zunächst auf dieses Datum in den elektronischen Kalender eingetragen. Da allerdings dann eine weitergehende Fristverlängerung bis 14. April 2022 für nötig befunden worden sei, habe die Kanzleiangestellte die Frist auf den 14. April 2022 umgetragen. Die Verfahrensbevollmächtigte habe auf eine zeitnahe Entscheidung über das Fristverlängerungsgesuch vertraut und erst durch den gerichtlichen Hinweis bemerkt, dass die Beschwerdebegründung nicht zu dem von ihr vorgegebenen Fristende am 4. April 2022 eingereicht worden sei.
Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Gründe für eine unverschuldete Fristversäumung sind nicht offenkundig. Die Sorgfaltspflicht verlangt in Fristsachen von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen zwar einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Der Rechtsanwalt hat jedoch durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Für den Fall eines Fristverlängerungsantrags bestehen zudem weitere Anforderungen an das Fristenwesen. In diesen Fällen muss als zusätzliche Fristensicherung auch das hypothetische Ende der beantragten Fristverlängerung bei oder alsbald nach Einreichung des Verlängerungsantrags im Fristenbuch eingetragen, als vorläufig gekennzeichnet und rechtzeitig – spätestens nach Eingang der gerichtlichen Mitteilung – überprüft werden, damit das wirkliche Ende der Frist festgestellt werden kann. Dass diese Anforderungen erfüllt waren, hätte der konkreten Darlegung und Glaubhaftmachung bedurft.
Dass das OLG über den Fristverlängerungsantrag nicht vor Ablauf der ohne Einwilligung des Gegners verlängerbaren Frist entschieden hat, war nicht verfahrensfehlerhaft. Es war auch nicht aufgrund seiner gerichtlichen Fürsorgepflicht gehalten, die Antragsgegnerin vor Ablauf des ohne Einwilligung des Gegners bewilligungsfähigen Zeitraums auf die mangels Einwilligung fehlende Möglichkeit einer weitergehenden Fristverlängerung hinzuweisen. Denn das Rechtsmittelgericht darf grundsätzlich davon ausgehen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten eines Beteiligten die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung von mehr als einem Monat bekannt sind. Grundsätzlich ist es Sache der Verfahrensbeteiligten, für die Wahrung der Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen Sorge zu tragen, eine etwa erforderliche Einwilligung des Gegners zu einer Fristverlängerung beizubringen und Unklarheiten rechtzeitig auszuräumen. Darf der Beteiligte auf die Gewährung einer beantragten Fristverlängerung vertrauen, weil deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, bedarf es keiner Nachfrage beim Gericht. Anderes gilt jedoch, wenn mit der beantragten Fristverlängerung nicht gerechnet werden kann. In einem solchen Fall ist es Sache des Beteiligten, sich rechtzeitig nach dem Schicksal des von ihm gestellten Antrags auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist zu erkundigen, um die Begründung fristwahrend einreichen zu können.
(BGH, Beschluss vom 2. August 2023 – XII ZB 96/23)

Fazit: Regressfälle wie dieser können durch die ordnungsgemäße Notierung von Vorfristen vermieden werden. Für Rechtsmittelbegründungen muss außer dem Fristablauf noch (mindestens) eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist notiert werden (BGH vom 21.06.2023 – XII ZB 418/22).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die anwaltlichen Sorgfaltspflichten bei der elektronischen Signatur eines fristgebundenen Schriftsatzes

Überprüfung eines zu signierenden Schriftsatzes
Beschluss vom 8. März 2022 – VI ZB 78/21

Mit den Anforderungen an die Überprüfung eines Dokuments vor dessen elektronischer Signatur befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der Beklagte hatte gegen ein Urteil des LG fristgerecht Berufung eingelegt. Am letzten Tag der Begründungsfrist ging ein aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) versandtes und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenes elektronisches Dokument seines Prozessbevollmächtigten ein, das mit „Berufungsbegründung“ überschrieben war, aber nur aus einer Seite bestand. Das OLG lehnte die beantragte Wiedereinsetzung ab und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Das OLG hat die Versäumung der Begründungsfrist zu Recht als schuldhaft angesehen. Der Prozessbevollmächtigte hätte den Schriftsatz vor der Signatur auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüfen müssen. Er durfte diese Aufgabe nicht an sein Büropersonal delegieren. Eine Überprüfung war auch deshalb nicht entbehrlich, weil ihm das vollständige Dokument kurz zuvor bereits vorgelegt worden war und er dieses nur zur Korrektur eines Tippfehlers auf der ersten Seite zurückgegeben hatte. Vielmehr musste er auch das korrigierte Dokument darauf überprüfen, ob es den richtigen Inhalt hat und alle Seiten umfasst.

Praxistipp: Der im Streitfall aufgetretene Fehler ist besonders tückisch, weil er bei der Unterschrift eines Papierdokuments wohl ohne weiteres auffallen würde. Um ihn zu vermeiden, sollte ein Signaturprogramm eingesetzt werden, das ein vollständiges Durchblättern des Dokuments ermöglicht.