Montagsblog: Neues vom BGH

Vertrauensschutz gegenüber Rechtsnachfolge in öffentlich-rechtliche Pflichten
Urteil vom 29. September 2016 – I ZR 11/15

Mit grundlegenden Fragen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots befasst sich der I. Zivilsenat.

Die Klägerin war von der zuständigen Behörde zur Altlastensanierung eines von ihr genutzten Grundstücks verpflichtet worden. Sie verlangte von der beklagten AG, die seit ihrer Gründung im Jahr 1926 bis 1997 Eigentümerin des Grundstücks gewesen war, Gesamtschuldnerausgleich nach § 24 Abs. 2 BBodSchG. Die Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Das OLG erklärte den Klageanspruch für dem Grunde nach gerechtfertigt, weil die Beklagte entweder als Gesamtrechtsnachfolgerin der früheren Eigentümerin oder aufgrund eigener Baumaßnahmen im Jahr 1928 hafte.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Nach seiner Auffassung kann die Beklagte nicht als Gesamtrechtsnachfolgerin des Verursachers in Anspruch genommen werden. Die am 01.03.1999 in Kraft getretene Regelung in § 4 Abs. 3 Satz 1 BBodSchG sieht eine solche Haftung zwar vor. Eine zeitlich unbegrenzte Anwendung dieser Vorschrift würde aber jedenfalls für Fälle, in denen die Gesamtrechtsnachfolge bereits im Jahr 1926 eingetreten ist, zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen „echten“ Rückwirkung führen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden öffentlich-rechtliche Verpflichtungen als grundsätzlich höchstpersönlich angesehen und eine Gesamtrechtsnachfolge hinsichtlich solcher Pflichten verneint. In der Literatur wurde dies erst Ende der 1960er Jahre in Frage gestellt. Das Bundesverwaltungsgericht bejahte eine Gesamtrechtsnachfolge erstmals im Jahr 1971. § 4 Abs. 3 BBodSchG ist deshalb verfassungskonform zu reduzieren.

Praxistipp: Angesichts der in der Entscheidung mitgeteilten Daten dürfte die verfassungskonforme Reduktion grundsätzlich für alle Fälle gelten, in denen die Gesamtrechtsnachfolge vor Ende der 1960er Jahre eingetreten ist.

Klage auf Freistellung nach Abweisung einer denselben Anspruch betreffenden Vollstreckungsgegenklage
Urteil vom 18. Oktober 2016 – XI ZR 145/14

Mit dem Verhältnis zwischen einer Freistellungs- und einer Vollstreckungsgegenklage befasst sich der XI. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte eine Eigentumswohnung als Kapitalanlage erworben. Zur Finanzierung hatte ihr die beklagte Bank ein mit einer sofort vollstreckbaren Grundschuld besichertes Darlehen gewährt. Später machte die Klägerin geltend, die Beklagte habe arglistig verschwiegen, dass der Kaufpreis um ein Mehrfaches über dem Verkehrswert der Wohnung liege. Die Klägerin beantragte unter anderem, die Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld für unzulässig zu erklären und die Beklagte zu verurteilen, sie von den Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag freizustellen. Die Vollstreckungsgegenklage wurde im weiteren Prozessverlauf rechtskräftig abgewiesen. Der abgetrennte und an ein anderes Gericht verwiesene Freistellungsanspruch hatte hingegen in zweiter Instanz Erfolg.

Der BGH weist die auf Freistellung gerichtete Klage ab. Der Freistellungsanspruch ist schon deshalb als unbegründet anzusehen, weil er gegen eine Forderung gerichtet ist, deren Bestehen für die Entscheidung über die Vollstreckungsgegenklage relevant war. Zwar betreffen die beiden Klagen nicht denselben Streitgegenstand. Die rechtskräftige Abweisung der Vollstreckungsgegenklage entfaltet aber eine Bindungswirkung, die den Schuldner daran hindert, Einwendungen gegen den Bestand der titulierten Forderung zu erheben, die bereits im Verfahren der Vollstreckungsgegenklage geltend gemacht werden konnten.

Praxistipp: Angesichts der Bindungswirkung sollte der Schuldner schon vor Prozessbeginn sorgfältig erwägen, ob es nicht sinnvoller ist, sich auf eine Vollstreckungsgegenklage zu konzentrieren und von einer zusätzlichen, denselben Anspruch betreffenden Freistellungs- oder Schadensersatzklage abzusehen.

Versetzung in den Ruhestand
Urteil vom 16. November 2016 – IV ZR 356/15

Um eine juristische Sekunde geht es in einer Entscheidung des IV. Zivilsenats.

Die Klägerin hatte bei der Beklagten eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung abgeschlossen. Die Klägerin wurde wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt, was nach den einschlägigen Versicherungsbedingungen als Eintritt des Versicherungsfalls gilt. Die Beklagte verweigerte die Leistung, weil die Versicherungsdauer mit dem 30.11.2012 geendet hatte und die Versetzung in den Ruhestand erst zum Ablauf dieses Tags erfolgt war. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Mit den Vorinstanzen sieht er denjenigen Zeitpunkt als ausschlaggebend an, zu dem die Versetzung in den Ruhestand wirksam geworden ist. Anders als die Vorinstanzen ist er der Auffassung, dass die relevante Wirkung nicht erst mit dem ersten Tag des Ruhestands (also am 01.12.2012 um 0 Uhr) eingetreten ist, sondern schon mit Ablauf des Vortags, also am 30.11.2012 um 24 Uhr – gewissermaßen in letzter Sekunde.

Praxistipp: Die Unterscheidung zwischen dem Ende eines Tages und dem Beginn des Folgetags kann auch für die Einhaltung prozessualer Fristen von Bedeutung sein.

Montagsblog: Neues vom BGH

In Anlehnung an die sog. Montagspost beim BGH berichtet der Montagsblog regelmäßig über ausgewählte aktuelle Entscheidungen.

Akzessorietät der Bürgschaft: Verjährung der Hauptforderung
Urteil vom 14. Juni 2016 – XI ZR 242/15

Grundlegende Erörterungen zur Akzessorietät der Bürgenhaftung stellt der IX. Zivilsenat an.

Die klagende Bank hatte der damaligen Ehefrau des Beklagten in den Jahren 1992 und 1993 zwei Darlehen für den Ankauf und die Sanierung einer Wohnanlage gewährt; der Beklagte hatte jeweils eine selbstschuldnerische Bürgschaft übernommen. Nach Zahlungseinstellung und Anordnung der Zwangsverwaltung stellte die Klägerin die Darlehensforderungen im Jahr 2001 fällig. Im Jahr 2004 nahm sie den Beklagten als Bürgen in Anspruch. Die im Jahr 2008 in einem separaten Rechtsstreit in Anspruch genommene Hauptschuldnerin, die sich unter anderem auf Verjährung berief, wurde im Jahr 2009 erstinstanzlich zur Zahlung verurteilt; gegen diese Entscheidung wurde kein Rechtsmittel eingelegt. Die Klage gegen den Bürgen blieb zunächst in zwei Instanzen erfolglos. Nach Zurückverweisung in einem ersten Revisionsurteil erklärte das OLG die Klageforderung für dem Grunde nach gerechtfertigt.

Der BGH weist die Revision des Beklagten gegen das Grundurteil des OLG zurück. Mit dem OLG ist er der Auffassung, dass sich der Beklagte aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung der Hauptschuldnerin nicht mehr auf die Verjährung der Hauptforderung berufen kann. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist § 768 Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach der Bürge nur die dem Hauptschuldner zustehenden Einreden erheben kann. Anders als bei den von § 767 Abs. 1 Satz 1 BGB erfassten Einwendungen gegen den Bestand der Hauptforderung (zB Erfüllung oder Aufrechnung) genügt bei Einreden also nicht, dass ein dafür erforderlicher Tatbestand objektiv erfüllt ist; vielmehr muss der Hauptschuldner (noch) berechtigt sein, die Einrede zu erheben. Im Streitfall kann die Hauptschuldnerin aufgrund ihrer rechtskräftigen Verurteilung die Einrede der Verjährung nicht (mehr) erheben. Deshalb kann auch der Bürge diese Einrede nicht mehr geltend machen. Etwas anderes gilt gemäß § 768 Abs. 2 BGB, wenn die Einrede bereits wirksam entstanden war und durch ein Rechtsgeschäft des Hauptschuldners wieder in Wegfall geraten ist. Der VIII. Zivilsenat hat diese Regelung für den Fall analog angewendet, dass sich der Hauptschuldner gegen eine nach Verjährung erhobene Klage nicht zur Wehr setzt (Urteil vom 12.03.1980 – VIII ZR 115/79, BGHZ 76, 222 = MDR 1980, 664). Den im Streitfall erhobenen Einwand, die Hauptschuldnerin habe den Prozess schlecht geführt, hält der XI. Zivilsenat für eine analoge Anwendung von § 768 Abs. 2 BGB nicht für ausreichend.

Praxistipp: Wenn der Bürge vom Prozess gegen den Hauptschuldner weiß und befürchtet, dass dieser Hauptschuldner die Einrede der Verjährung durch unzureichende Prozessführung verlieren wird, sollte er dem Rechtsstreit als Streithelfer des Hauptschuldners beitreten.

Öffentliche Beschaffenheitsangaben und notarieller Gewährleistungsausschluss
Urteil vom 22. April 2016 – V ZR 23/15

Mit der Reichweite eines Gewährleistungsausschlusses in einem Grundstückskaufvertrag befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Kläger kauften von den Beklagten ein Wohnhaus, an dessen Stelle früher eine Scheune gestanden hatte. In der Verkaufsanzeige in einem Internetprotal hatten die Beklagten angegeben, das Haus sei 1999/2000 errichtet worden. Später stellte sich heraus, dass eine Außenwand aus der Bausubstanz der früheren Scheune übernommen worden war. Die Kläger begehrten deshalb die Rückabwicklung des Kaufvertrags. Die Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Das OLG verurteilte die Beklagten antragsgemäß, weil das Alter der Außenwand einem Mangel darstelle, dieser im Hinblick auf die höhere Schadensanfälligkeit und Wärmedurchlässigkeit nicht als unbeachtlich angesehen werden könne und der im notariellen Kaufvertrag vereinbarte Gewährleistungsausschluss Abweichungen von den im Internet veröffentlichten Beschaffenheitsangaben nicht erfasse.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er tritt dem Berufungsgericht darin bei, dass öffentliche Äußerungen über Eigenschaften der Kaufsache gemäß § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB für die Bestimmung der Sollbeschaffenheit von Bedeutung sind und das Baujahr eines Gebäudes in aller Regel zu den wertbeeinflussenden Faktoren gehört. Er lässt offen, ob dies auch für die hier in Rede stehende Außenwand gilt, weil das OLG keine Feststellungen zu Art, Größe und Bedeutung dieses Bauteils im Verhältnis zum gesamten Gebäude getroffen hat. Abweichend vom OLG sieht er die Klageansprüche – sofern die Beklagten nicht arglistig gehandelt haben, was nach Zurückverweisung noch aufzuklären ist – als unbegründet an, weil sich der notariell vereinbarte Gewährleistungsausschluss grundsätzlich auch auf öffentliche Äußerungen zur Beschaffenheit erstreckt. Zwar können solche Äußerungen im Einzelfall die begründete Erwartung wecken, dass sich ein allgemeiner Haftungsausschluss nicht auf darin zugesagte Eigenschaften beziehe. Bei einem Grundstückskaufvertrag ist dies in der Regel aber ausgeschlossen, weil eine Einschränkung des im notariellen Vertrag vereinbarten allgemeinen Gewährleistungsausschlusses ebenfalls der notariellen Beurkundung bedürfte und grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Parteien keinen formunwirksamen Vertrag schließen wollen.

Praxistipp: Ein Grundstückskäufer, der Wert auf bestimmte Eigenschaften legt, die in öffentlichen Anzeigen oder dergleichen beschrieben sind, muss darauf achten, dass ein vereinbarter Haftungsausschluss ausdrücklich um die Bestimmung ergänzt wird, dass die Gewährleistung für diese – konkret zu benennenden – Eigenschaften unberührt bleibt.