Anwaltsblog 20/2024: Anforderungen an eine wirksame Mängelanzeige nach § 377 Abs. 1 HGB

Wieder einmal hatte sich BGH mit den Anforderungen an die Mängelanzeige zu befassen, die bei kaufmännischen Kaufverträgen der Verkäufer nach § 377 HGB bei aufgetretenen Mängel unverzüglich zur Wahrung seiner Rechte abgeben muss (BGH, Beschluss vom 23. April 2024 – VIII ZR 35/23):

Die Klägerin bezog von der beklagten Zwischenhändlerin Rohware für die Herstellung von Fertiglebensmitteln. Die Beklagte lieferte ihr am 2. und 21. August sowie am 20. September 2017 insgesamt rund 15 t tiefgekühlte, in Scheiben geschnittene Jalapeños (Paprikaschoten). Bei der Weiterverarbeitung zu Chili-Cheese-Nuggets fiel bei der Klägerin kurz vor Abschluss der Produktion am 13. Oktober 2017 ein scharfkantiges Kunststoffteil zwischen einigen Jalapeños-Scheiben auf. Noch am selben Tag teilte sie der Beklagten telefonisch mit, dass „in der gelieferten Ware Fremdkörper enthalten“ seien und übersandte Fotos per E-Mail. Die Fotos zeigen ein schwarzes Plastikteil zwischen tiefgefrorenen Jalapeños-Scheiben, einen Paketaufkleber für einen 10 kg-Karton mit den Angaben „GE805und einer „Lot Nr. M2261108“ sowie einen Schein über die Tiefkühleinlagerung von 7.280 kg mit Einlagerdatum 20. September 2017 und Chargennummer 201709020-1701655. Die Klägerin sperrte die bereits produzierten Teilmengen für den Verkauf und rief die schon ausgelieferten Nuggets zurück. Eine Untersuchung der restlichen Rohware bei einem Drittunternehmen ergab das Vorhandensein weiterer Fremdkörper. Mit E-Mail vom 16. Oktober 2017 bestätigte die Beklagte den Eingang der Reklamation und kündigte eine Reaktion an. Am 26. Oktober 2017 teilte sie unter Bezugnahme auf die „Reklamation der von uns gelieferten GE805 – Jalapeños grün in Scheiben“ mit, dass sie nach Rücksprache mit ihrem Lieferanten einen Fremdkörperbefund nicht ausschließen könne.

Mit der Klage hat die Klägerin u.a. Ersatz des Warenwerts der bereits produzierten Nuggets sowie für die Einlagerung und Vernichtung der produzierten Ware verlangt. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Kammergericht die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch aus dem Kaufvertrag bereits deshalb nicht zu, weil er gemäß § 377 Abs. 1, 3 HGB ausgeschlossen sei. Es fehle an einer hinreichend bestimmten Mängelrüge der Klägerin. Die Mitteilung vom 13. Oktober 2017 genüge diesen Anforderungen auch unter Berücksichtigung der übermittelten Fotos nicht. Es sei denkbar, dass sich die Beanstandung auf lediglich einen einzelnen – den abgebildeten – Karton, auf alle Kartons mit der „Lot Nr. M2261108“, auf die gesamte Lieferung, auf sämtliche Ware mit der (vorangestellten) Nummer „K5409“ aus allen drei Lieferungen oder aber auf die gesamte Ware aus allen drei Lieferungen beziehe. Welche Mangelbehauptung die Klägerin nun konkret erhoben habe, habe ein Empfänger in der Person der Beklagten anhand der Mängelanzeige nicht feststellen können.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung. Dem Berufungsgericht ist eine Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Nach dem Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts war es für das Vorliegen einer hinreichend bestimmten Mängelrüge im Oktober 2017 entscheidend, ob die Beklagte als Verkäuferin aufgrund der ihr seitens der Klägerin bis zum 17. Oktober 2017 überlassenen Informationen das Vorhandensein des behaupteten Mangels der gelieferten Rohware prüfen, eigene Nachforschungen anstellen und ihre Lieferantin in Anspruch nehmen konnte. In diesem Zusammenhang kam dem Vortrag der Klägerin entscheidende Bedeutung zu, wonach die Beklagte mit der E-Mail vom 26. Oktober 2017 über die aufgrund der Beanstandung von ihr zwischenzeitlich ergriffenen Maßnahmen zur Aufklärung und Untersuchung des beanstandeten Fremdkörperbefunds berichtet hat. Auf dieses zentrale Vorbringen zum (tatsächlichen) Verständnis der Beklagten hinsichtlich der ihr übermittelten Informationen ist das Berufungsgericht nicht eingegangen. Vielmehr hat es seine Würdigung, wonach für den Empfänger einer solchen Mängelrüge nicht erkennbar sei, was der Käufer konkret beanstande, allein auf allgemeine Erwägungen zu einem möglichen Aussagegehalt der den Lichtbildern entnehmbaren Informationen gestützt, ohne sich hierbei (erkennbar) mit dem seitens der Klägerin konkret gehaltenen Vortrag zum tatsächlichen Verständnishorizont der Beklagten auseinanderzusetzen. Soweit es dabei darauf verwiesen hat, dass die Beklagte bei der Inanspruchnahme ihres Lieferanten und bei der eigenen Nachforschung vom Umfang der Mängelanzeige abhängig sei, lassen diese vorrangig abstrakt gehaltenen Aussagen darauf schließen, dass das Berufungsgericht das Klägervorbringen zu den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalls gehörswidrig übergangen hat. Setzt sich ein Gericht mit einem Parteivortrag nicht inhaltlich auseinander, sondern mit Leerformeln über diesen hinweg, ist das im Hinblick auf die Anforderungen aus dem Verfahrensgrundrecht nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht anders zu behandeln als ein kommentarloses Übergehen des Vortrags. Die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es das Vorbringen der Klägerin in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen, zur Annahme einer hinreichenden Bestimmtheit der Mängelrüge gelangt wäre.

 

Fazit: Die Mängelanzeige gemäß § 377 Abs. 1 HGB muss den Verkäufer in die Lage versetzen, aus seiner Sicht und Kenntnis der Dinge zu erkennen, in welchen Punkten und in welchem Umfang der Käufer die gelieferte Ware als nicht vertragsgemäß beanstandet. Ferner soll sie dem Verkäufer ermöglichen, die Beanstandungen zu prüfen und gegebenenfalls abzustellen. Aus diesen Gründen muss die Mängelanzeige Art und Umfang der Beanstandungen zumindest in allgemeiner Form benennen. Angesichts der Beweisnot, in die der Verkäufer mit zunehmendem Zeitablauf zu geraten droht, soll die Mängelanzeige ihn in die Lage zu versetzen, möglichst bald den Beanstandungen durch den Käufer nachzugehen und gegebenenfalls Beweise sicherzustellen. Es bedarf aus diesem Grunde nicht so sehr der Aufdeckung der Ursachen des Fehlers als vielmehr seiner Beschreibung (BGH, Urteil vom 14. Mai 1996 – X ZR 75/94 –, MDR 1996, 918).

Anwaltsblog 19/2024: Zur Reichweite eines vertraglichen Gewährleistungsausschlusses beim Kauf eines 40 Jahre alten Gebrauchtwagens

Der BGH hatte zu entscheiden, ob sich der Verkäufer eines fast 40 Jahre alten Fahrzeugs auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen kann, wenn er die einwandfrei funktionierende Klimaanlage in seiner Verkaufsanzeige hervorgehoben hatte, und der Käufer nunmehr Mängelrechte wegen eines Defekts der Klimaanlage geltend macht (BGH, Urt. v. 10.4.2024 – VIII ZR 161/23, MDR 2024, 706):

 

Der Kläger erwarb im März 2021 im Rahmen eines Privatverkaufs von dem Beklagten zu einem Kaufpreis von 25.000 € einen erstmals im Juli 1981 zugelassenen Mercedes-Benz 380 SL mit einer Laufleistung von rund 150.000 km. In der Verkaufsanzeige des Beklagten auf einer Onlineplattform hieß es: „Klimaanlage funktioniert einwandfrei. Der Verkauf erfolgt unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung“. Im Mai 2021 beanstandete der Kläger, dass die Klimaanlage defekt sei. Nachdem der Beklagte etwaige Ansprüche des Klägers zurückgewiesen hatte, ließ dieser die Klimaanlage durch eine Erneuerung des Klimakompressors instandsetzen und verlangt den Ersatz von Reparaturkosten von rund 1.750 €.

Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehe dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch der zwischen den Parteien vereinbarte Gewährleistungsausschluss entgegen. Dieser erstrecke sich auch auf einen etwaigen Mangel an der Klimaanlage. Zwar sei eine gleichzeitige Vereinbarung einer bestimmten Beschaffenheit der Kaufsache einerseits und eines umfassenden Ausschlusses der Gewährleistung andererseits regelmäßig dahin auszulegen, dass der Gewährleistungsausschluss nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten solle (BGH, Urt. v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, MDR 2007, 642). Jedoch müsse bei einem rund 40 Jahre alten Fahrzeug auch im Falle einer – hier hinsichtlich der Klimaanlage getroffenen – Beschaffenheitsvereinbarung angesichts der unvermeidlichen und teils gebrauchsunabhängigen Alterung einzelner Bauteile selbst dann, wenn es sich um einen hochwertigen und gepflegten Pkw handele, stets mit dem Auftreten von Instandsetzungsbedarf gerechnet werden. Demgemäß habe der Kläger in Anbetracht des Gewährleistungsausschlusses nicht erwarten dürfen, dass die schon lange Zeit über ihre technische Lebensdauer hinaus betriebene Klimaanlage auch weiterhin funktionieren werde.

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung ist in den Fällen einer (ausdrücklich oder stillschweigend) vereinbarten Beschaffenheit iSv. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB aF (nunmehr § 434 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 1 BGB) ein daneben vereinbarter allgemeiner Haftungsausschluss für Sachmängel dahin auszulegen, dass er nicht für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit, sondern nur für sonstige Mängel, nämlich solche im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF, gelten soll. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt eine von diesem Grundsatz abweichende Auslegung des Gewährleistungsausschlusses nicht in Betracht. Der Umstand, dass der Beklagte nicht erst im schriftlichen Kaufvertrag, sondern bereits in seiner Internetanzeige – unmittelbar im Anschluss an die Angabe „Klimaanlage funktioniert einwandfrei“ – erklärt hat, dass der Verkauf „unter Ausschluss jeglicher Sachmängelhaftung“ erfolge, erlaubt es nicht, den vereinbarten Gewährleistungsausschluss dahingehend zu verstehen, dass er sich auf die getroffene Beschaffenheitsvereinbarung über die (einwandfreie) Funktionsfähigkeit der Klimaanlage erstreckt. Denn gerade das – aus Sicht eines verständigen Käufers – gleichrangige Nebeneinanderstehen einer Beschaffenheitsvereinbarung einerseits und eines Ausschlusses der Sachmängelhaftung andererseits gebietet es, den Gewährleistungsausschluss als beschränkt auf etwaige, hier nicht in Rede stehende Sachmängel nach § 434 Abs. 1 Satz 2 BGB aF aufzufassen, da die Beschaffenheitsvereinbarung für den Käufer andernfalls ohne Sinn und Wert wäre.

Insbesondere aber rechtfertigen in einem Fall, in dem – wie hier – die Funktionsfähigkeit eines bestimmten Fahrzeugbauteils den Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung bildet, weder das (hohe) Alter des Fahrzeugs beziehungsweise des betreffenden Bauteils, noch der Umstand, dass dieses Bauteil typischerweise dem Verschleiß unterliegt, die Annahme, dass ein zugleich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss auch für das Fehlen der vereinbarten Beschaffenheit gelten soll. Diese Umstände (Alter des Fahrzeugs, Verschleißanfälligkeit eines Bauteils) können zwar für die übliche Beschaffenheit eines Gebrauchtwagens von Bedeutung sein. Sie spielen jedoch weder für die Frage einer konkret vereinbarten Beschaffenheit noch für die hier maßgebliche Frage eine Rolle, welche Reichweite ein allgemeiner Gewährleistungsausschluss im Fall einer vereinbarten Beschaffenheit hat. Vielmehr findet der Grundsatz, dass ein vertraglich vereinbarter allgemeiner Gewährleistungsausschluss die Haftung des Verkäufers für einen auf dem Fehlen einer vereinbarten Beschaffenheit beruhenden Sachmangel unberührt lässt, auch dann uneingeschränkt Anwendung, wenn der Verkäufer die Funktionsfähigkeit eines Verschleißteils eines Gebrauchtwagens zugesagt hat.

 

Fazit: Haben die Parteien die „einwandfreie“ Funktionsfähigkeit eines typischerweise dem Verschleiß unterliegenden Fahrzeugbauteils vereinbart, liegt ein Sachmangel vor, wenn sich dieses Bauteil bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs in einem Zustand befindet, der seine einwandfreie Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Das gilt unabhängig davon, ob insoweit ein „normaler“, das heißt ein insbesondere nach Alter, Laufleistung und Qualitätsstufe nicht ungewöhnlicher, die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigender Verschleiß vorliegt – der einen Sachmangel nicht begründet – und/oder ob bei objektiver Betrachtung jederzeit mit dem Eintreten einer Funktionsbeeinträchtigung dieses Bauteils zu rechnen war.

Anwaltsblog 18/2024: Müssen Anwaltsschriftsätze das Aktenzeichen des Gerichts enthalten?

Innerhalb weniger Wochen mussten sich zwei Zivilsenate des BGH mit der Frage befassen, ob fristgemäß einzureichende Anwaltsschriftsätze das (korrekte) Aktenzeichen des Gerichts aufweisen müssen (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592; BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris):

Im ersten Fall war das Berufungsverfahren der Beklagten zunächst beim 7. Zivilsenat des OLG geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Dieser wies darauf hin, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und setzte der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen, sondern das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 die Berufung zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592).

Auch im zweiten Fall hat das OLG die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 BGB zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es auf den Inhalt seines Hinweisbeschlusses vom 30. März 2022 verwiesen, zu dem sich die Klägerin trotz antragsgemäß verlängerter Frist nicht mehr geäußert habe. Jedoch war am letzten Tag der Frist (5. Mai 2022) ein Schriftsatz der Klägervertreter beim Berufungsgericht eingegangen, der eine Stellungnahme zum Hinweisbeschluss enthält. Dieser wurde allerdings aufgrund eines Schreibversehens bei der Angabe des Aktenzeichens („99 U 25/22“ statt „9 U 25/22“) auf Geschäftsstellenebene zunächst dem falschen Senat (Eingangssenat) zugeordnet und dem Berichterstatter des Berufungssenats erst nach Versendung des Zurückweisungsbeschlusses vom 6. Mai 2022 vorgelegt (BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris).

In beiden Fällen hat der BGH eines Verstoß des Berufungsgerichts gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht festgestellt, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, die in einem ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vorgetragen werden. Grundsätzlich verstößt das Gericht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt, wobei es auf ein Verschulden des Gerichts nicht ankommt. Im Hinblick auf eine einzuhaltende Frist ist für den Eingang des Schriftsatzes und daher für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, ob der Schriftsatz vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufende Gericht gelangt ist. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz innerhalb der Frist in die für die Sache bereits angelegte Akte eingeordnet worden ist. Da der Rechtsuchende keinen Einfluss darauf hat, welche Richter im Einzelnen durch die Geschäftsverteilung zur Bearbeitung der Sache bestimmt worden sind, braucht er keine Sorge dafür zu treffen, dass seine Eingabe innerhalb des angerufenen Gerichts unverzüglich in die richtige Akte gelangt. Demgemäß schreibt das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Dem Schriftsatz muss jedoch zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll. Dies ist der Fall, wenn die Parteien des Rechtsstreits im Schriftsatz korrekt angegeben waren und zudem durch die Bezugnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts deutlich wird, welchem Verfahren die Ausführungen zuzuordnen waren.

 

Fazit: Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird. Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Für den fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes ist deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt (BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23 –, MDR 2024, 395).

 

Anmerkung: Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht. Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat. Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Der Gesetzgeber sollte de lege ferenda dieses missliche Rechtsdefizit beenden, um eine schnelle und kostengünstige Reparatur der sog. Pannenfälle (G. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 8 mwN.) zu ermöglichen.

Anwaltsblog 17/2024: Beweis der Unrichtigkeit eines Empfangsbekenntnisses durch Vorlage des beA-Nachrichtenjournals?

Ob ein Berufungsgericht die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals eines Parteivertreters anordnen darf, wenn Zweifel an der Richtigkeit des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums bestehen, hatte das OLG München zu klären (OLG München, Beschluss v. 26.04.2024 – 23 U 8369/21):

 

Ein Urteil wurde vom Gericht am 07.10.2021 an das beA des Beklagtenvertreters versandt; die elektronische Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters ist am gleichen Tag erfolgt. Mit dem Empfangsbekenntnis hat der Beklagtenvertreter den 22.10.2021 als Zustelldatum angegeben. Die Klägerseite bestreitet im Berufungsverfahren das angegebene Zustelldatum und beantragt, dem Beklagtenvertreter aufzugeben, das beA-Nachrichtenjournal zu der elektronischen Übersendung des Landgerichtsurteils am 07.10.2021 in ausgedruckter Form vorzulegen.

Das Berufungsgericht ordnet daraufhin die beantragte Vorlage an. Die Anordnung beruht auf § 142 Abs. 1 ZPO. Der Ausdruck aus dem beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters ist als Ausdruck eines elektronischen Dokuments eine sonstige Unterlage iSd. § 142 Abs. 1 ZPO. Sie befindet sich im Besitz der beklagten Partei. Hierzu genügt der mittelbare Besitz der Partei, der dadurch begründet wird, dass sich das Journal in den Händen des seinen Anweisungen unterliegenden Rechtsanwalts befindet. Dass der Beklagtenvertreter den Ausdruck u.U. erst noch erstellen muss, hindert die zumindest analoge Anwendung des § 142 Abs. 1 ZPO nicht. Es entspricht pflichtgemäßem Ermessen, die Vorlage anzuordnen. Das beA-Nachrichtenjournal protokolliert im System des Rechtsanwalts, wann eine Nachricht eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat. Dies kann ein gewichtiges Beweismittel für die Klagepartei sein, die die Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters genannten Zustelldatums behauptet.

Ein das Klägerinteresse überwiegendes Geheimhaltungsinteresse der beklagten Partei oder ihres Prozessvertreters ist nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Frage, wann das Urteil des Landgerichts erstmals seitens des Beklagtenvertreters geöffnet wurde, hat der Beklagte kein schützenswertes Interesse, die Information aus dem Verfahren herauszuhalten. Im Gegenteil: Die für die Zulässigkeit der Berufung wesentliche Vorfrage ist – wie die Zulässigkeit der Berufung – von Amts wegen zu klären. Anders als bei der Vorlage von Mandantenkorrespondenz geht es hierbei nicht um die interne Kommunikation eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten etwa über die Prozessstrategie. Allerdings ist im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass nach § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F. (§ 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO n.F.) grundsätzlich allein das Empfangsbekenntnis als Nachweis der Zustellung genügt. Die gesetzliche Wertung darf nicht vorschnell dahin abgeändert werden, dass der Zustellempfänger zusätzlich auch noch das beA-Nachrichtenjournal vorlegen muss, um seiner Nachweispflicht zu genügen. Eine Anordnung der Vorlage des Journals ist daher nur dann gerechtfertigt und angemessen, wenn konkrete Umstände vorgetragen oder sonst verfahrensgegenständlich sind, die im Einzelfall einen besonderen, gegenüber dem Normalfall gesteigerten Überprüfungsbedarf indizieren. Nach diesen Grundsätzen war die Anordnung hier zu treffen: Zwischen der Absendung des Teilurteils am 07.10.2021 und der elektronischen Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters am gleichen Tag einerseits und dem 22.10.2021 als Zustelldatum gemäß dem Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters andererseits lagen mehr als zwei Wochen. Diese erhebliche Dauer belegt zwar für sich nicht die Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses. Sie rechtfertigt – in Verbindung mit den übrigen Umständen des vorliegenden Einzelfalls – hier indes, die Vorlage des Nachrichtenjournals zur näheren Überprüfung anzuordnen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat. Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erklärt, wie und warum es gleichwohl zu der deutlich über eine Woche hinausgehenden Zustellverzögerung kam. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das Empfangsbekenntnis erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vom 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat, nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war. Insgesamt ergibt sich aus der gegebenen Situation ein weiterer, besonderer Aufklärungsbedarf, der das Beweisinteresse der Klägerin überwiegen und die Anordnung gemäß § 142 ZPO angemessen erscheinen lässt.

 

Fazit: Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23 –, MDR 2024, 519).

 

Anmerkung: Der Gesetzgeber hat auch für den Fall der elektronischen Übermittlung eines Dokuments an einen Rechtsanwalt daran festgehalten, den Nachweis der Zustellung an ein voluntatives Element zu knüpfen und hierfür nicht allein die automatisierte Eingangsbestätigung (ggf. in Verbindung mit einem bestimmten Zeitablauf) ausreichen zu lassen (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2022 – 9 B 2/22 –, Rn. 10, mwN.). Dem Rechtsanwalt, dem die Angabe eines (zu späten) Zustelldatums vorgeworfen wird, verbleibt daher die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, das übermittelte Dokument erst zu diesem Datum als zugestellt entgegengenommen zu haben. Der Verstoß gegen Berufspflichten ist zivilprozessrechtlich irrelevant (ausführlich zu der Problematik: Wagner/Ernst: Falsche oder verzögert abgegebene Empfangsbekenntnisse im elektronischen Rechtsverkehr, NJW 2021, 1564).

Anwaltsblog 16/2024: Strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung bei der Ersatzeinreichung (§ 130d Satz 2 ZPO)!

Wieder einmal hatte sich der BGH mit den Anforderungen an die bei der Ersatzeinreichung gerichtlicher Schriftsätze notwendige Glaubhaftmachung zu befassen (BGH, Beschluss vom 14. März 2024 – V ZB 2/23):

 

Dem Kläger wurde das klageabweisende Urteil des Landgerichts am 18. August 2022 zugestellt. Mit einem per Telefax am 4. Oktober 2022 an das OLG übermittelten Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist mit der Begründung beantragt, seit dem 8. September habe der beA-Account seines Prozessbevollmächtigten nicht mehr funktioniert. Trotz sofortiger Bestellung und wiederholter Nachfrage bei der Bundesnotarkammer habe sein Prozessbevollmächtigter bislang noch keine neue beA-Karte erhalten, so dass er den am 17. September 2022 gefertigten Berufungsschriftsatz nicht habe elektronisch übermitteln können. Sein Prozessbevollmächtigter habe deshalb Frau Rechtsanwältin J. gebeten, bis zum 19. September 2022 (Montag) den Schriftsatz über ihren beA-Account zu versenden. Erst am 20. September 2022 habe diese mitgeteilt, dass sie die Übersendung wegen einer plötzlichen Erkrankung ihres Kindes nicht habe vornehmen können. Daher sei die Übermittlung des Wiedereinsetzungsantrags per Telefax erfolgt. Das OLG hat die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Für die Wiedereinsetzung ist die versäumte Prozesshandlung in der für sie vorgeschriebenen Form nachzuholen. Hat es der Rechtsmittelführer innerhalb der Rechtsmittelfrist versäumt, eine wirksame Rechtsmittelschrift zu übermitteln, hat er dies somit bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist formgerecht nachzuholen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung bedarf derselben Form wie die versäumte Prozesshandlung (§ 236 Abs. 1 ZPO). Die Wiedereinsetzungsfrist bei der Versäumung der Berufungsfrist beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO zwei Wochen und beginnt nach § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist. Die Wiedereinsetzungsfrist endete deshalb spätestens am 4. Oktober 2022, weil der Kläger am 20. September 2022 erfahren hat, dass Rechtsanwältin J. den Berufungsschriftsatz nicht an das Berufungsgericht übermittelt hatte. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit dem am 4. Oktober 2022 per Fax übersandten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist weder die versäumte Prozesshandlung wirksam nachgeholt noch einen formwirksamen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Sein Prozessbevollmächtigter hat den Schriftsatz dem Berufungsgericht nicht als elektronisches Dokument übermittelt. Die zwingende Einreichung von Erklärungen in der elektronischen Form betrifft die Frage ihrer Zulässigkeit. Die Einhaltung der vorgeschriebenen Form ist deshalb von Amts wegen zu prüfen. Ein Formverstoß führt zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung. Die Voraussetzungen des § 130d Satz 1 ZPO sind vorliegend nicht erfüllt, da der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsschrift innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist dem Berufungsgericht nicht wie gesetzlich gefordert als elektronisches Dokument übermittelt hat, sondern nach den allgemeinen Vorschriften per Telefax. Da sich die Form des Antrags auf Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 1 ZPO nach den Vorschriften richtet, die für die versäumte Prozesshandlung gelten, hätte auch der Wiedereinsetzungsantrag als elektronisches Dokument eingereicht werden müssen.

Die Übermittlung per Telefax war als Ersatzeinreichung nicht ausnahmsweise gemäß § 130d Satz 2 ZPO ausreichend. Ist eine Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung gemäß § 130d Satz 2 ZPO nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Durch die Einschränkung „aus technischen Gründen“ und „vorübergehend“ wird klargestellt, dass professionelle Einreicher hierdurch nicht von der Notwendigkeit entbunden sind, die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorzuhalten und bei technischen Ausfällen unverzüglich für Abhilfe zu sorgen. Der Gesetzgeber wollte nur Fälle erfassen, in denen einer Übermittlung des Schriftsatzes in elektronischer Form rein technische Gesichtspunkte entgegenstehen, nicht dagegen in der Person des Einreichers liegende Gründe. Entsprechend stellen Verzögerungen bei der Einrichtung der technischen Infrastruktur keinen vorübergehenden technischen Grund dar.

Dem Kläger ist es nicht gelungen, die vorübergehende Unmöglichkeit einer elektronischen Übermittlung aus technischen Gründen glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Einreichers liegenden Gründen beruht. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat zur Glaubhaftmachung geltend gemacht, sein beA-Account habe seit dem 8. September 2022 nicht mehr funktioniert. Trotz sofortiger Bestellung und wiederholter Nachfragen bei der Bundesnotarkammer habe er bis zum Fristablauf keine neue beA-Karte erhalten, so dass er den Berufungsschriftsatz nicht habe elektronisch übermitteln können. Den Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer aus technischen Gründen vorübergehenden Unmöglichkeit wird die Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht gerecht, weil daraus nicht in sich schlüssig und nachvollziehbar hervorgeht, ob er die notwendigen technischen Einrichtungen für die Einreichung elektronischer Dokumente vorgehalten hat. Der beA-Account war nach seinem Vortrag funktionsunfähig. Der zur Glaubhaftmachung gehaltene Vortrag lässt aber gerade offen, ob die Funktionsunfähigkeit auf einer technischen Störung beruhte oder auf den Ablauf der Gültigkeitsdauer seiner beA-Karte zurückzuführen war. Zu den erforderlichen technischen Einrichtungen, die ein professionelle Einreicher für die Übermittlung elektronischer Dokumente vorzuhalten hat, gehört nicht nur ein entsprechendes Endgerät, sondern auch die erforderliche gültige beA-Karte. Mangelt es an der notwendigen Ausstattung, beruht eine Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument nicht auf technischen Gründen. Der Verweis auf die mehrmalige Nachfrage bei der Bundesnotarkammer genügt zur Glaubhaftmachung einer technischen Unmöglichkeit nicht, solange nicht dargelegt ist, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, um rechtzeitig über eine gültige beA-Karte zu verfügen.

 

Fazit: Zu den erforderlichen technischen Einrichtungen, die ein professionelle Einreicher wie Rechtsanwälte für die Übermittlung elektronischer Dokumente vorzuhalten hat, gehört nicht nur ein entsprechendes Endgerät, sondern auch die erforderliche gültige beA-Karte. Mangelt es an der notwendigen Ausstattung, beruht eine Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument nicht auf technischen Gründen (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – XII ZB 88/23 –, MDR 2024, 389).

Anwaltsblog 15/2024: Was muss ein unmittelbar vor Ablauf der bereits einmal verlängerten Berufungsbegründungsfrist erkrankter Rechtsanwalt zur Fristwahrung veranlassen?

Ob ein unmittelbar vor Ablauf der bereits einmal verlängerten Berufungsbegründungsfrist erkrankter Rechtsanwalt einen anwaltlichen Vertreter mit der Erstellung der Berufungsbegründung beauftragen muss, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 14. März 2024 – V ZB 34/23):

 

Der als Einzelanwalt tätige Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit einem am Donnerstag, den 9. März 2023, um 19:50 Uhr beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz beantragt, die bereits einmal verlängerte und am 13. März endende Frist zur Berufungsbegründung bis zum 13. April zu verlängern, weil er „an Covid erkrankt“ sei und die Berufungsbegründung nicht fristgerecht fertigen könne. Das OLG hat den Antrag mit Verfügung vom 10. März abgelehnt. Mit Schriftsatz vom 10. März, am selben Tag um 18:11 Uhr beim OLG eingegangen, hat der Prozessbevollmächtigte erneut einen Fristverlängerungsantrag – nunmehr unter Beifügung einer ärztlichen Bescheinigung – gestellt. Mit Verfügung vom 13. März hat das Berufungsgericht die Fristverlängerung abgelehnt. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte am 22. März Wiedereinsetzung beantragt und zugleich die Berufungsbegründung eingereicht.

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung verworfen. Der Klägervertreter habe nicht ausreichend glaubhaft gemacht habe, dass er ohne sein Verschulden verhindert gewesen sei, die bereits einmal verlängerte Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Ihm sei vorzuwerfen, dass er die Beklagtenvertreterin am 9. März 2023 nicht um Zustimmung zu einer Fristverlängerung gebeten habe. Zudem hätte er einen Vertreter mit der Fertigung der Berufungsbegründung beauftragen können.

Die Rechtsbeschwerde der Kläger hat keinen Erfolg. Allerdings rügen sie zu Recht, dass das OLG ein Verschulden des Klägervertreters damit begründet, dieser habe seinen Vertreter nicht mit der Fertigung und Übersendung der Berufungsbegründung beauftragt. Dem Mandanten eines Einzelanwalts dürfen aufgrund der Erkrankung des Rechtsanwalts keine Nachteile bei der Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen entstehen. Die Fertigung einer Rechtsmittelbegründung muss deshalb mit der gleichen Sorgfalt möglich sein wie ohne die Erkrankung. Vor diesem Hintergrund erfordern die Sorgfaltspflichten des unvorhersehbar erkrankten Rechtsanwalts die Beauftragung eines vertretungsbereiten Kollegen mit der Fertigung einer Rechtsmittelbegründung allenfalls dann, wenn bis zum Ablauf der Begründungsfrist ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Nach diesem Maßstab war der Klägervertreter nicht gehalten, seinen Vertreter mit der fristwahrenden inhaltlichen Bearbeitung der Berufungsbegründung zu beauftragen. Das Berufungsgericht verkennt insoweit schon, dass am Abend des 9. März 2023 nicht vier, sondern lediglich zwei Arbeitstage, nämlich der 10. März 2023 (Freitag) und der 13. März 2023 (Montag) für die Fertigung der Berufungsbegründung zur Verfügung gestanden hätten. Allein die in erster Instanz (im Prozessverlauf teilweise geänderten) zuletzt gestellten Anträge umfassen 2,5 Seiten des landgerichtlichen Urteils. Von sieben Klageanträgen wurden Anträge teilweise zurückgenommen oder für erledigt erklärt. Die Widerklage umfasst fünf Anträge. Der Tatbestand des landgerichtlichen Urteils umfasst ohne die Anträge vier Seiten und die Entscheidungsgründe 6,5 Seiten. Es fanden fünf mündliche Verhandlungen und eine durch ein ausführliches Protokoll dokumentierte Augenscheinnahme statt. Bis auf die Feststellung der Erledigung eines Klageantrags hat das Landgericht die Klage abgewiesen und die Kläger auf die Widerklage hin teilweise verurteilt. Unter diesen Umständen weist die Rechtssache eine Komplexität auf, die es einem mit der Sache erstmalig befassten Vertreter nicht ermöglicht hätte, die Erfolgsaussichten der einzelnen abgewiesenen Klageanträge und der auf die Widerklage hin ergangenen Verurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht noch am (Arbeits-)Tag vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist zu prüfen und zu begründen.

Dieser Rechtsfehler führt jedoch nicht zum Erfolg der Rechtsbeschwerde, weil das OLG die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf eine andere selbständig tragende Begründung stützt, die keinen Rechtsfehler aufweist. Das OLG stützt ein Verschulden des Klägervertreters rechtsfehlerfrei darauf, dass der Klägervertreter die Beklagtenvertreterin nicht bereits am 9. März um Zustimmung zur Fristverlängerung ersucht hat. Wiedereinsetzung war nur dann zu gewähren, wenn der Klägervertreter ohne sein Verschulden daran gehindert war, eine – zweite – Fristverlängerung zu erwirken. Da dem Klägervertreter bereits eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gewährt wurde, kam nach § 520 Abs. 2 Satz 2, 3 ZPO eine weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nur mit Einwilligung des Gegners in Betracht. In einem solchen Fall ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nur dann zu gewähren, wenn die Gegenseite die zur Fristverlängerung erforderliche Einwilligung nicht erteilt und die Frist deshalb nicht verlängert wird. Infolgedessen kommt es darauf an, ob die Kläger dargelegt und glaubhaft gemacht haben, dass ihrem Prozessbevollmächtigten die Einholung der gegnerischen Einwilligung nicht möglich oder unzumutbar war. Zwar hat der Klägervertreter am 9. März 2023 einen Antrag auf Fristverlängerung gestellt. Da die Beklagtenvertreterin ihre Einwilligung nicht erklärt hatte, enthielt der Antrag hierzu auch keine Angaben. Der Klägervertreter wusste aber, dass ihm eine zweite Fristverlängerung nach § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO nur unter Darlegung der Einwilligung der Gegenseite gewährt werden würde. Zu Recht nimmt das Berufungsgericht an, dass der Klägervertreter am 9. März gehalten gewesen wäre, zuerst die Beklagtenvertreterin um Abgabe der (erforderlichen) Einwilligung zu ersuchen. Den Klägervertreter kann nicht entlasten, dass die Beklagtenvertreterin nur unter der Bedingung, dass der Klägervertreter einen ärztlichen Nachweis über seine Erkrankung vorlegt, bereit war, ihre Einwilligung zu erklären. Hätte er die Beklagtenvertreterin am 9. März um Zustimmung zur Fristverlängerung ersucht, so hätte er von der Bedingung der Beklagtenvertreterin frühzeitig Kenntnis erlangt und ihm wäre es dann (am 9. oder 10. März) noch möglich gewesen, einen ärztlichen Nachweis zur Vorlage gegenüber der Beklagtenvertreterin einzuholen. Diese Maßnahmen waren auch geboten, weil der Klägervertreter nach den Ausführungen der Rechtsbeschwerde bereits zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, die Berufungsbegründung, wegen deren Anfertigung er an diesem Tag in sein Büro gefahren war, zu fertigen. Nach den Feststellungen des OLG hätte die Beklagtenvertreterin die Einwilligung erteilt, wenn ihr das Attest vorgelegt worden wäre.

 

Fazit: Bei Einwilligung des Gegners ist das Vertrauen des Berufungsklägers in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt. Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung erneut zu verlängern, darf er darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben wird. (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22 -, MDR 2023, 379). Voraussetzung ist aber, dass mit dem Antrag die Einwilligung des Gegner vorgelegt oder zumindest anwaltlich versichert wird.

Anwaltsblog 14/2024: Aufhebung und Zurückverweisung nur bei Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme!

Mit den Voraussetzungen einer Aufhebung und das Zurückverweisung durch das Berufungsgericht an das erstinstanzliche Gericht hatte sich in einem Bauschadensersatzprozess der BGH zu befassen (BGH, Urteil vom 1. Februar 2024 – VII ZR 171/22):

 

Die Klägerin als Bestellerin begehrt von dem Beklagten als Werkunternehmer den Ersatz von Mehrkosten und Schadensersatz nach fünf Teilkündigungen eines zwischen den Parteien geschlossenen Werkvertrages über ein Kongresszentrum. Das LG hat nach Übertragung der Sache auf den Einzelrichter durch einen Beschluss, der nur von zwei Mitgliedern der Kammer unterzeichnet worden ist, der Klage bis auf einen Teil des Zinsanspruchs in voller Höhe stattgegeben. Die Berufung des Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Eine Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens an das LG komme nicht in Betracht. Zwar sei das angefochtene Urteil entgegen den gesetzlichen Vorschriften vom Einzelrichter und nicht von der Kammer gefasst worden. Der Verstoß gegen den gesetzlichen Richter sei von Amts wegen zu berücksichtigen. Er sei dadurch begründet, dass gemäß § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c ZPO grundsätzlich die Zuständigkeit der Kammer gegeben sei, hingegen der Einzelrichter entschieden habe. Zwar habe die Kammer einen Übertragungsbeschluss auf den Einzelrichter gemäß § 348a Abs. 1 ZPO gefasst. Den Beschluss hätten aber nur zwei von drei Kammermitgliedern unterschrieben. Der Übertragungsbeschluss sei aus diesem Grund nicht wirksam geworden. Eine Zurückverweisung der Sache an das LG komme nicht in Betracht, weil das Verfahren entscheidungsreif sei.

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht war befugt, in der Sache selbst zu entscheiden. Es kann dahinstehen, ob die Zivilkammer des LG wirksam einen Beschluss gemäß § 348a Abs. 1 ZPO gefasst hat, mit dem der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden ist. Allerdings war nach § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c ZPO die Kammer zur Entscheidung berufen, weil es sich um eine Streitigkeit aus einem Bauvertrag handelte, für die nach § 72a Abs. 1 Nr. 2 GVG Spezialkammern bei den Landgerichten bestehen. Gemäß § 348a Abs. 1 ZPO kann die Zuständigkeit des Einzelrichters begründet werden, wenn die Kammer die Sache durch Beschluss auf den Einzelrichter überträgt. Eine Beschlussfassung gemäß § 348a Abs. 1 ZPO setzt indes eine entsprechende interne Willensbildung der vollbesetzten Zivilkammer voraus, deren Vorliegen vom Gericht von Amts wegen zu prüfen ist. Diese Prüfung hat das Berufungsgericht nicht hinreichend vorgenommen. Aus dem bei den Akten befindlichen schriftlichen Originalbeschluss, auf dem sich lediglich die Unterschriften der Vorsitzenden der Kammer und eines Beisitzers befinden, geht nicht ohne weiteres hervor, ob dem Beschluss eine entsprechende Willensbildung der vollbesetzten Zivilkammer zugrunde lag. Selbst wenn unterstellt wird, dass mangels wirksamer Übertragung der Sache auf den Einzelrichter die angefochtene Entscheidung des Landgerichts nicht von dem gesetzlich zur Entscheidung berufenen Richter getroffen worden ist (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), war eine Zurückverweisung der Sache an das LG nicht geboten. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO lässt im Falle eines in der ersten Instanz unterlaufenen Verfahrensfehlers, zu dem auch die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts zählt, eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht grundsätzlich nur dann zu, wenn aufgrund des Verfahrensmangels außerdem eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein in erster Instanz unterlaufener Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zwingt allerdings ausnahmsweise – ungeachtet der weiteren in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO genannten Voraussetzungen – dann zur Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht, wenn das erstinstanzliche Verfahren überhaupt keine Grundlage für das Berufungsverfahren darstellen kann. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht schon mit Blick auf § 547 Nr. 1 ZPO vor, weil erkennendes Gericht dieser Vorschrift nur das Berufungsgericht ist, dessen Entscheidung mit der Revision angegriffen wird.

Nach diesen Maßstäben war eine Zurückverweisung der Sache durch das OLG an das LG gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht geboten. Zu Recht hat das OLG angenommen, die Voraussetzung für eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO, dass aufgrund des Verfahrensfehlers eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme erforderlich sei, liege nicht vor; der Rechtsstreit sei vielmehr zur Entscheidung reif. Das OLG selbst, das durch drei seiner Mitglieder entschieden hat, war bei der angefochtenen Entscheidung vorschriftsmäßig besetzt. Da es eine eigene Sachentscheidung unter Würdigung der vom LG getroffenen tatsächlichen Feststellungen getroffen und sich nicht lediglich auf die Übernahme der Feststellungen des Einzelrichters beim LG beschränkt hat, ist das Berufungsurteil auch nicht durch eine etwaige fehlerhafte Besetzung des LG beeinflusst worden.

Das OLG war aufgrund der vom LG getroffenen Feststellungen in der Lage, unter selbständiger Würdigung der festgestellten Tatsachen eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Die Zurückverweisung an das Erstgericht soll nach der Konzeption des Gesetzgebers ein Ausnahmefall bleiben. Das Berufungsgericht hat nach § 538 Abs. 1 ZPO grundsätzlich die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Die Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung an das Gericht erster Instanz ist deshalb für den Fall, dass das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO), nur geboten, wenn eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme durch oder infolge der Korrektur des wesentlichen Verfahrensmangels zu erwarten ist, in deren Folge die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz ausnahmsweise zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht

 

Fazit: Im Falle eines in der ersten Instanz unterlaufenen Verfahrensfehlers, zu dem auch die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts zählt, ist eine Zurückverweisung der Sache grundsätzlich nur dann zulässig, wenn aufgrund des Verfahrensmangels außerdem eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Anwaltsblog 13/2024: Qualifizierte Signatur eines bestimmenden Schriftsatzes muss nicht vom Verfasser stammen!

Ob die Einreichung einer Berufungsbegründung wirksam war, die vom verfassenden Rechtsanwalt einfach signiert (unterschrieben) und von einem anderen Rechtsanwalt der Sozietät qualifiziert signiert und über dessen beA eingereicht worden ist, ohne den Zusatz „für“ beim Namen des Verfassers aufzuweisen, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 28. Februar 2024 – IX ZB 30/23):

 

In einem Anwaltshaftungsprozess hat das Amtsgericht der Klage stattgegeben. Mit der Berufung legitimierte sich für den beklagten Rechtsanwalt die Rechtsanwaltssozietät G., der der Beklagte selbst angehört. Am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist ist eine Berufungsbegründung als elektronisches Dokument beim Landgericht eingegangen. Der Schriftsatz schließt mit dem maschinenschriftlich eingefügten Namen des Beklagten und dem Zusatz „Rechtsanwalt“ ab. Zudem ist er mit der qualifizierten elektronischen Signatur des ebenfalls der Sozietät des Beklagten angehörenden Rechtsanwalts J. versehen, über dessen beA der Schriftsatz übermittelt wurde.

Nachdem das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hatte, hat die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Der Beklagte hat seine Berufung wirksam unter Beachtung der Anforderungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 Fall 1 ZPO begründet. Gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Die Bestimmung stellt damit zwei Wege zur rechtswirksamen Übermittlung von elektronischen Dokumenten zur Verfügung. Zum einen kann der Rechtsanwalt den Schriftsatz mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Zum anderen kann er auch nur einfach signieren, muss den Schriftsatz aber sodann selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 4 ZPO einreichen. Die einfache Signatur hat in dem zuletzt genannten Fall die Funktion zu dokumentieren, dass die durch den sicheren Übermittlungsweg als Absender ausgewiesene Person mit der die Verantwortung für das elektronische Dokument übernehmenden Person identisch ist. Wird der Schriftsatz hingegen mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, entsprechen deren Rechtswirkungen unmittelbar denen einer handschriftlichen Unterschrift des Rechtsanwalts gemäß § 130 Nr. 6 ZPO. Durch die Einreichung eines elektronischen Dokuments mit der qualifizierten Signatur eines Rechtsanwalts übernimmt dieser mithin nicht anders als bei einer handschriftlichen Unterzeichnung eines Schriftsatzes die Verantwortung für dessen Inhalt und ist daher verantwortende Person iSv. § 130a Abs. 3 Fall 1 ZPO.

Dem steht nicht entgegen, dass das elektronische Dokument am Schluss seiner Ausführungen den Namen eines anderen Rechtsanwalts als Verfasser nennt. Für einen unterzeichnenden Rechtsanwalt versteht es sich im Zweifel von selbst, mit seiner Unterschrift zugleich auch eine entsprechende Verantwortung für den bestimmenden Schriftsatz zu übernehmen. Bei Unterzeichnung eines mit dem maschinenschriftlichen Namen seines Verfassers abschließenden Schriftsatzes durch einen anderen von der Partei bevollmächtigten Rechtsanwalt bedarf es auch keines klarstellenden Zusatzes, wie etwa der Verwendung des Worts „für“. Denn bereits dem Umstand der Unterzeichnung des Schriftsatzes durch einen anderen Rechtsanwalt an sich lässt sich entnehmen, dass er an Stelle des Verfassers die Unterschrift leisten und damit als weiterer Hauptbevollmächtigter oder Unterbevollmächtigter der Partei auftreten wollte. Die qualifizierte elektronische Signatur entspricht der Unterschrift des Rechtsanwalts. Der Rechtsanwalt, der das zuvor von einem anderen verfasste elektronische Dokument, das auch mit dessen Namen und Berufsbezeichnung abschließt, qualifiziert elektronisch signiert, bringt wie mit seiner eigenhändigen Unterschrift ohne weitere Voraussetzungen im Zweifel seinen unbedingten Willen zum Ausdruck, mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur auch eine entsprechende Verantwortung für einen bestimmenden Schriftsatz zu übernehmen und dessen Inhalt zu verantworten und den Mandanten als weiterer Hauptbevollmächtigter oder zumindest als Unterbevollmächtigter in Wahrnehmung des Mandats zu vertreten. Auch insoweit bedarf es daher keines klarstellenden Zusatzes eines Vertretungsverhältnisses, insbesondere nicht der Verwendung des Worts „für“.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Rechtsanwalt J. als sozietätsangehöriger und somit von dem Beklagten bevollmächtigter Rechtsanwalt diesen mit Anbringung seiner qualifizierten elektronischen Signatur hat vertreten wollen. Damit hat Rechtsanwalt J. zugleich iSv. § 130a Abs. 3 Satz 1 Fall 1 ZPO die Verantwortung für den Inhalt des von seinem Kollegen verfassten und von diesem nur einfach signierten Berufungsbegründungsschriftsatz übernommen.

 

Fazit: Signiert ein Mitglied einer Anwaltssozietät einen Schriftsatz, den ein anderes Mitglied der Anwaltssozietät verfasst und einfach elektronisch signiert hat, in qualifiziert elektronischer Form und reicht diesen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht ein, ist dies wirksam. Eines klarstellenden Zusatzes („für“) bei der einfachen Signatur des Schriftsatzverfassers bedarf es nicht.

Anwaltsblog 12/2024: Nur eingeschränktes Rechtsmittel gegen zweites Versäumnisurteil!

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur statthaft, wenn sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Mit den Voraussetzungen einer unverschuldeten Säumnis musste sich der BGH befassen (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2024 – VIII ZB 47/23):

 

Auf den Einspruch des Klägers gegen ein Versäumnisurteil hatte das Landgericht Aachen Termin auf den 9. Dezember 2022, 13.00 Uhr bestimmt. Zu diesem Termin ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers bis um 13.20 Uhr nicht erschienen, sondern hat über seine Kanzlei mitteilen lassen, er befinde sich derzeit noch „im Gerichtsgebäude in Essen“ und werde nicht vor 14.30 Uhr zu dem Einspruchstermin erscheinen. Daraufhin hat das LG den Einspruch des Klägers durch zweites Versäumnisurteil als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Einer der Rechtsanwälte der aus drei Mitgliedern bestehenden Sozietät habe an dem Sitzungstag einen unaufschiebbaren Termin gegen 12.00 Uhr vor dem Amtsgericht Marl wahrgenommen. Aufgrund der unerwarteten Erkrankung eines weiteren Mitglieds der Sozietät habe der dritte Sozietätskollege vertretungsweise zwei auf 11.00 Uhr und 11.15 Uhr anberaumte Termine in Essen vor dem dortigen LG und dem AG wahrnehmen müssen. Nachdem der erste vorgenannte Termin, in dem lediglich Anträge hätten gestellt werden sollen, aus unvorhergesehenen Gründen bis 11.30 Uhr gedauert habe, habe der vorgenannte, in Essen befindliche Rechtsanwalt sein Büro gebeten, das LG Aachen über seine voraussichtliche Verspätung zu informieren und gegebenenfalls um eine Verlegung des dortigen Termins zu ersuchen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Prozessbevollmächtigte davon ausgegangen, dass der zweite Termin in Essen nicht länger als 20 Minuten dauern und er bei einer Fahrtzeit von Essen nach Aachen von circa eineinviertel Stunden allenfalls mit einer Verspätung von 15 Minuten nach Terminsaufruf vor dem LG Aachen erscheinen werde. Vollkommen überraschend und unvorhersehbar sei die zweite Sitzung in Essen jedoch erst um circa 13.00 Uhr beendet worden.

Das OLG hat die Berufung als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zu einer unverschuldeten Säumnis im Einspruchstermin nicht schlüssig vorgetragen, so dass die Berufung unzulässig sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe nicht ausreichend dargelegt, aus seiner Sicht alles Erforderliche und Zumutbare unternommen zu haben, um den Termin vor dem Landgericht wahrnehmen zu können.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Kläger hat nicht schlüssig dargetan, dass sein Prozessbevollmächtigter den Einspruchstermin am 9. Dezember 2022 ohne ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden versäumt hat. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers war nicht ohne Verschulden gehindert war, an der Sitzung vor dem Landgericht in Aachen am 9. Dezember 2022 teilzunehmen. Die Säumnis war nicht aufgrund der Wahrnehmung von Gerichtsterminen in Essen für den erkrankten Sozietätskollegen unverschuldet. Der Kläger hat in der Berufungsbegründung weder schlüssig dargelegt, dass sein Prozessbevollmächtigter „überraschend und unvorhersehbar“ aufgrund der Dauer des erst um 11.30 Uhr beginnenden Termins vor dem AG Essen bis um 13.00 Uhr an der Wahrnehmung des Einspruchstermins in Aachen gehindert gewesen sei, noch, dass wegen einer (absehbaren) Kollision des zweiten in Essen anberaumten Verhandlungstermins mit dem Einspruchstermin der zuletzt genannte Termin hätte verlegt werden müssen. Eine Terminsverlegung oder -vertagung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird.

Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon zu Beginn der zweiten Verhandlung in Essen um 11.30 Uhr nicht mehr von einer rechtzeitigen Ankunft beim LG Aachen ausgehen durfte. Denn der Prozessbevollmächtigte konnte weder von einem pünktlichen Beginn der Sitzung vor dem AG Essen um 11.15 Uhr noch von einer maximal 20minütigen Dauer der dortigen Verhandlung sicher ausgehen. Denn der zeitliche Verlauf einer Sitzung lässt sich – wie der tatsächliche Beginn der Sitzung um 11.30 Uhr und deren Dauer von anderthalb Stunden zeigen – erfahrungsgemäß grundsätzlich nicht zuverlässig voraussagen. Ein Prozessbevollmächtigter muss daher bei seiner Zeitplanung einkalkulieren, dass ein Sitzungstermin eine gewisse, im Voraus nicht sicher absehbare Zeit in Anspruch nehmen wird. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers musste deshalb nicht nur einen späteren Beginn der zweiten Sitzung in Essen – von hier lediglich einer Viertelstunde -, sondern auch eine längere Verhandlungsdauer vorsorglich einplanen. Für ihn war deshalb spätestens um 11.30 Uhr absehbar, dass er schon bei einer (einzukalkulierenden) geringfügigen Überschreitung der von ihm angesetzten Verhandlungsdauer selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Wartezeit von etwa 15 Minuten nach Aufruf der Sache vor dem LG Aachen nicht mehr rechtzeitig in dem Einspruchstermin würde erscheinen können. Allein mit dem späteren Beginn und der tatsächlichen Dauer der Verhandlung vor dem AG Essen konnte der Prozessbevollmächtigte deshalb sein Fernbleiben in dem Einspruchstermin nicht entschuldigen.

Das Landgericht war auch nicht gehalten, den Einspruchstermin wegen der (absehbaren) Kollision mit dem Verhandlungstermin in Essen auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu verlegen. Die Verhinderung des Prozessbevollmächtigten einer Partei aufgrund eines bereits zuvor anberaumten kollidierenden Verhandlungstermins kann einen erheblichen Grund für eine Terminsverlegung darstellen. Eine Kollision setzt voraus, dass die Wahrnehmung beider Termine zeitlich nicht möglich ist. In die Entscheidung über die Terminsverlegung sind alle Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls einzubeziehen, beispielsweise die Art des kollidierenden Gerichtstermins und des Zeitpunkts seiner Bestimmung, die Besonderheiten der Mandatsbeziehung, die Möglichkeit, den kollidierenden Termin zu verlegen oder einen der Termine durch einen Vertreter wahrnehmen zu lassen. Ausnahmsweise kann auch ein später anberaumter Termin Vorrang vor einem früher bestimmten Termin genießen, etwa wenn ein Verhandlungstermin bereits verlegt worden ist, prozessuale Gründe die Durchführung dieses Termins gebieten, es sich um einen Termin zur Durchführung einer aufwendigen Beweisaufnahme oder ein besonders eilbedürftiges Verfahren handelt. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger bereits einen erheblichen Grund iSv. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die Verlegung des Einspruchstermins in Aachen nicht schlüssig dargelegt. Das Berufungsgericht hat deshalb jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, dass eine Verlegung des Einspruchstermins aufgrund des von dem Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalts nicht in Betracht kam.

Es kommt vor diesem Hintergrund auch nicht darauf an, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon um 11.30 Uhr seine Mitarbeiter gebeten hat, das Landgericht in Aachen über seine voraussichtliche Verspätung aufgrund des Gerichtstermins in Essen zu informieren und um eine Terminsverlegung zu ersuchen. Das Berufungsgericht hat diesen Vortrag zu Recht als unerheblich angesehen. Es hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte nicht darauf vertrauen durfte, seinem (behaupteten) Verlegungsantrag werde entsprochen. Denn (allein) der von einer Partei gestellte Antrag auf Verlegung eines Verhandlungstermins – ohne Darlegung eines erheblichen Grunds – entschuldigt eine Versäumnis nach § 337 ZPO nicht, weil die Termine zur mündlichen Verhandlung der Parteidisposition entzogen sind.

 

Fazit: Eine Terminsverlegung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob es bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung verlegt, nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Einem Antrag auf Terminsverlegung oder -vertagung ist daher regelmäßig aufgrund Vorliegens eines erheblichen Grunds stattzugeben.

Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen?

Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Wann das Berufungsgericht ausnahmsweise unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen darf, weil das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Februar 2024 – VII ZR 42/22):

 

Die Klägerin hatte für die Beklagte 1.600 Haushalte mit Glasfaserkabeln erschlossen. Ihre Schlussrechnung von rund sechs Mio. € hat die Beklagte bis auf einen Betrag von 284.013,78 € ausgeglichen, den sie als Vertragsstrafe geltend macht. Diesen Betrag klagt die Klägerin ein. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Eine Vertragsstrafe sei nicht vereinbart, weil das ursprüngliche Angebot der Klägerin, das die AGB der Beklagten mit der Vertragsstrafenklausel einbeschloss, durch anschließende Verhandlungen der Parteien erloschen sei. Der dann geschlossene Vertrag enthalte keine Bezugnahme auf die AGB. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das  Landgericht sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten zu der Annahme gelangt, dass die Vertragsstrafe nicht vereinbart worden sei. Soweit es angenommen habe, das ursprüngliche Angebot der Klägerin sei erloschen, habe das Landgericht Vortrag der Beklagten übergangen, wonach die Klägerin bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist (= Bindefrist) an ihr Angebot gebunden gewesen sei. Das Landgericht habe zudem Vortrag der Beklagten zu den Vertragsverhandlungen nicht berücksichtigt.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen. Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung sein kann. Ob ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn dieser verfehlt ist oder das Berufungsgericht ihn für verfehlt erachtet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Verfahrensfehler des Landgerichts nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die Frage, ob dem Landgericht ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form eines Gehörsverstoßes unterlaufen ist, rechtsfehlerhaft nicht aufgrund des allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Standpunkts des Landgerichts beantwortet, sondern seinen eigenen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt zugrunde gelegt.

Zwar kann es einen schweren Verfahrensfehler iSd. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO darstellen, wenn das erstinstanzliche Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es den Kern ihres Vorbringens verkennt und daher eine entscheidungserhebliche Frage verfehlt. Das ist hingegen nicht der Fall, wenn es die sachlich-rechtliche Relevanz eines Parteivorbringens verkennt und ihm deshalb keine Bedeutung beimisst. Ein Verfahrensfehler liegt daher nicht vor, wenn das erstinstanzliche Gericht das Parteivorbringen lediglich unter einem sachlich-rechtlich fehlerhaften Gesichtspunkt gewürdigt oder deshalb nicht weiter erörtert hat, weil es hierauf nach seinem materiell-rechtlichen (möglicherweise unrichtigen) Standpunkt nicht ankommt. Bei einer Vertragsauslegung kann ein Verfahrensfehler nur angenommen werden, wenn das Gericht die Vertragsbestimmungen nicht lediglich inhaltlich unzutreffend würdigt, sondern erkennbar vertragliche Regelungen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder sprachlich falsch versteht. Das Landgericht hat bei der Vertragsauslegung keinen wesentlichen Vortrag der Beklagten übergangen oder den Kern ihres Vorbringens verkannt. Es hat festgestellt, dass die AGB der Beklagten Gegenstand der Ausschreibung waren und das Angebot der Klägerin vom 23. März 2016 auf diese Vertragsbestimmungen Bezug genommen hat. Ob und in welchem Umfang dieses Angebot Bestandteil des Vertrags geworden ist, ist nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, wobei allerdings die tatsächlichen Umstände der Vertragsverhandlungen der Parteien zu berücksichtigen sind. Soweit das Berufungsgericht einen Gehörsverstoß in der fehlenden Berücksichtigung der Annahmefrist (Bindefrist) sieht, war dieser Gesichtspunkt für die Entscheidung des Landgerichts nicht erheblich. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hat die Beklagte durch das Schreiben vom 1. Juni 2016 nur das Angebot vom 20. April 2016 angenommen und damit konkludent das Angebot vom 23. März 2016 abgelehnt. Deshalb kam es nach der Rechtsansicht des Landgerichts auf die in Ziffer 4 enthaltene Bindefrist wegen Erlöschen des Antrags gemäß § 146 BGB nicht an. Es bedurfte nach der Rechtsansicht des Landgerichts auch deshalb keiner Beweisaufnahme zu den Ursachen der verzögerten Erbringung der Werkleistungen, weil das Landgericht in seiner Hilfsbegründung die Vertragsklausel über die Vereinbarung der Vertragsstrafe gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erachtet hat. Soweit das Berufungsgericht hierzu eine andere Rechtsansicht vertritt, kann dies keinen Verfahrensfehler des Landgerichts begründen.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen unabhängig davon nicht erkennen, dass es das ihm in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, pflichtgemäß ausgeübt hat. Das Berufungsgericht hat weder in Erwägung gezogen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt, was den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann, noch hat es nachprüfbar dargelegt, dass die aus seiner Sicht durchzuführende Beweisaufnahme so aufwändig und umfangreich ist, dass eine Zurückverweisung an das Landgericht ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint. Das angefochtene Urteil hat daher keinen Bestand und ist aufzuheben.

 

Fazit: § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist eine Ausnahmeregelung, die den Grundsatz der Prozessbeschleunigung durchbricht, wenn die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers erfolgt und noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist. Das Berufungsgericht ist gehalten, nachprüfbar darzulegen, inwieweit eine noch ausstehende Beweisaufnahme so aufwendig oder umfangreich ist, dass es gerechtfertigt ist, die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen. Dabei hat es in Erwägung zu ziehen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer weiteren Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits und zu weiteren Nachteilen führt und dies den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann. Die Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme wird deshalb auf wenige Ausnahmefälle beschränkt sein, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht (BGH, Versäumnisurteil vom 16. Dezember 2004 – VII ZR 270/03 –, MDR 2005, 645).