OLG Brandenburg: Besorgnis der Befangenheit bei Untätigkeit?

Das OLG Brandenburg (Beschl. v. 21.9.2020 – 1 W 25/20) hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die bloße Untätigkeit eines Richters eine Besorgnis der Befangenheit begründen könne. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Sachverhalt: Der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragte im Juni 2018 bei dem Amtsgericht einen Erbschein. Im November 2018 wies die Richterin darauf hin, dass der Antragsteller nach ihrer Auffassung durch ein Negativtestament als Erbe ausgeschlossen sei. Deswegen käme die beantragte Erteilung des Erbscheins nicht in Betracht. Der Antragsteller hielt an seiner abweichenden Rechtsauffassung fest. Er bat um eine Entscheidung. Diese Bitten wiederholte der Antragsteller im Februar, Mai und Juni 2019 und schließlich im Januar 2020. Im Juni 2020 lehnte der Antragsteller dann die Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab und erhob darüber hinaus eine Verzögerungsrüge. In ihrer dienstlichen Erklärung führt die Richterin aus, sie habe die Sache vor sich hergeschoben, um sich zu einem späteren Zeitpunkt die nötige Zeit für die Bearbeitung der Sache zu nehmen. Das AG wies den Antrag zurück, das OLG beschied die sofortige Beschwerde gleichfalls negativ.

Die Entscheidung des Gerichts: Das OLG weist darauf hin, dass die schlichte Untätigkeit eines Richters ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine Besorgnis der Befangenheit noch nicht begründen kann. Eine Untätigkeit kann eine Besorgnis der Befangenheit bestenfalls dann rechtfertigen, wenn die mitgeteilten Gründe unhaltbar sind oder wenn Gründe nicht einmal mitgeteilt werden und daraus der Schluss auf eine rechtsschutzfeindliche Gesinnung gegenüber der Partei gerechtfertigt ist. Dabei ist es nicht möglich, eine derartige Gesinnung einfach zu unterstellen. Somit kann hier eine Besorgnis der Befangenheit nicht unterstellt werden.

Fazit: Eine andere Entscheidung ist aus praktischen Erwägungen heraus kaum vorstellbar! Ansonsten hätte – wenigstens theoretisch – jeder Richter die Möglichkeit, sich einer für ihn unangenehmen Sache dadurch zu entledigen, dass er sie einfach nicht bearbeitet. Natürlich ist nicht zu verkennen, dass jahrelange Verzögerungen für die Rechtssuchenden im Einzelfall zu unerträglichen Situationen führen können. Dieser Konflikt ist letztlich kaum oder gar nicht lösbar. Im Zweifelsfall bleibt wahrscheinlich nur übrig, die Justizverwaltung in Gestalt des Justizministeriums mit der Androhung von Amtshaftungsansprüchen unter Druck zu setzen. Dann kann man nur hoffen, dass die Amtshaftungsklage tatsächlich in angemessener Dauer bearbeitet wird und nicht auch mit Verzögerungsrügen und Befangenheitsanträgen endet.

 

LG Frankfurt a.M.: Befugnis des Vorsitzenden, das Tragen einer besonderen Maske anzuordnen

In einem Beschluss hatte ein Richter am Amtsgericht für die durchzuführende mündliche Verhandlung u. a. folgendes angeordnet: „Anwesende Personen müssen durchgängig einen geeigneten Mund-Nase-Schutz tragen (OP-Maske oder höhere Schutzklasse, notfalls dichtes Baumwolltuch).“ Dagegen legte der Beklagte eine Beschwerde ein und führte aus: Er wolle sich nicht gegen das Tragen einer Maske an sich, sondern nur dagegen beschweren, eine Maske mit höherer Schutzklasse tragen zu müssen. Diese stelle eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Wahrnehmung rechtlicher Interessen und einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Berufsfreiheit dar.

Das LG (LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 5.11.2020 – 2-03 T 4/20) lässt dahinstehen, ob die Beschwerde zulässig ist, sondern hält diese auf jeden Fall für unbegründet. Bei der getroffenen Maßnahme handelt es sich um eine gemäß § 176 GVG zulässig sitzungspolizeiliche Anordnung. Eine solche umfasst auch Maßnahmen des Infektionsschutzes. Wegen der aktuellen Verbreitung des Corona-Virus darf auch das – ohnehin weit verbreitete – Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (vulgo als Maske bezeichnet) angeordnet werden. Der Vorsitzende darf sich dabei an den Empfehlungen des Robert Koch-Institutes orientieren. Dem Beklagten ist es auch mit Maske ohne weiteres zumutbar, mündlich vorzutragen. Auch die weitere Beschreibung bzw. Konkretisierung der Maske ist nicht zu beanstanden, zumal sie den Anforderungen entspricht, die in der einschlägigen Corona-VO gleichfalls gestellt werden. Weitergehend wäre sogar eine Anordnung zum Tragen von Masken nach den Standards FFP2 oder KN95 auch von dem Ermessen des Vorsitzenden gedeckt gewesen. Derartige Masken sind für geringe Beträge zu erwerben und stellen einen besseren Schutz dar. Da damit die Gefahr einer Infektion reduziert werden kann, liegt auch kein unzulässiger Eingriff in die Berufsfreiheit vor.

Es ist daher festzuhalten: Der Vorsitzende ist gemäß § 176 GVG nach seinem Ermessen dazu berechtigt, Anordnungen zum Infektionsschutz zu treffen, insbesondere zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, auch mit einer höheren Schutzklasse.

 

Corona-Pandemie: Schweigen einer Partei ersetzt nicht die Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren

Das OLG Düsseldorf hat  entschieden, dass das Schweigen einer Partei auf die Anordnung des schriftlichen Verfahrens auch unter Berücksichtigung der im März 2020 bestehenden COVID-19-Situation nicht als Zustimmung gedeutet werden kann (Beschl. v. 16.07.2020 – I-12 U 26/20).

Das LG hatte im schriftlichen Verfahren nach § 128 ZPO ein klageabweisendes Urteil verkündet. Die erforderliche eindeutige Einverständniserklärung des Klägers hierfür lag nicht vor. Der Kläger beantragte nunmehr Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren und rügte u. a. diesen Verfahrensfehler. Das OLG lehnte die beantragte Prozesskostenhilfe gleichwohl ab.

Allerdings lag hier ein Verfahrensfehler vor. Für die Anordnung des schriftlichen Verfahrens gemäß § 128 ZPO ist eine klare und eindeutige Erklärung beider Parteien erforderlich. Die Corona-Virus-Pandemie und der Umstand, dass die Gerichte teilweise nur im „Notbetrieb“ gelaufen sind, ändert daran nichts. Zwar hatte der Kläger nach der Anordnung des schriftlichen Verfahrens dazu geschwiegen, aber auch dieses Schweigen ersetzt keine Zustimmung. Dieser Verfahrensfehler nötigt jedoch nicht zur Aufhebung und Zurückverweisung, die der Kläger hier erreichen wollte. Dabei kann dahinstehen, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit überhaupt als wesentlicher Verfahrensmangel gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO angesehen werden kann. Denn im konkreten Fall drohte keine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme, wie sie für eine Aufhebung und Zurückverweisung Voraussetzung ist. Vielmehr hätten die erforderlichen Feststellungen, wenn es auf sie ankäme, unproblematisch von dem OLG selbst getroffen werden können. Das OLG Düsseldorf betont in diesem Zusammenhang erneut, dass es für eine Aufhebung und Zurückverweisung gerade nicht ausreichend ist, wenn den Parteien noch Gelegenheit zu weiterem Vortrag zu geben wäre und alsdann möglichweise eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderlich werden sollte (vgl. BGH, Urt. v. 2.3.2017 – VII ZR 154/15, MDR 2017, 842; s. a. Frank O. Fischer MDR 2020, 832 ff.).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat weiterhin deshalb keinen Erfolg, weil es – gerade in der Berufungsinstanz – immer auf die Erfolgsaussicht in der Sache ankommt. Dies bedeutet: Wenn es trotz eines Verfahrensfehlers der ersten Instanz letztlich bei der getroffenen Entscheidung bleiben wird, ist keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen. So aber lagen die Dinge im konkreten Fall.

Fazit: Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 128 ZPO setzt – auch angesichts der gegenwärtigen Corona-Virus-Pandemie – voraus, dass beide Parteien ausdrücklich und vorbehaltlos ihr Einverständnis mit dem schriftlichen Verfahren erklärt haben. Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz kann nicht bewilligt werden, wenn es letztlich bei der angefochtenen Entscheidung bleiben wird, obwohl der ersten Instanz ein Verfahrensfehler unterlaufen ist. Etwas leichter ist es allerdings bei dem Amtsgericht im Verfahren nach § 495a ZPO: Dort kann von Amts wegen im schriftlichen Verfahren entschieden werden. Davon sollte die Praxis derzeit großzügig Gebrauch machen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Folgen einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung in einem Rechtsstreit zwischen Wohnungseigentümern.

Einlegung der Berufung beim unzuständigen Gericht
Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 45/20

Mit dem Verhältnis zwischen § 281 und § 233 ZPO befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Sie streiten über die Berechtigung zur Nutzung einer Terrasse und die Pflicht zur Erstellung von Jahresrechnungen. Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Die Beklagte legte Berufung bei dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen LG ein. Dieses hatte das AG in seiner Rechtsmittelbelehrung als zuständig bezeichnet. Auf einen Hinweis des LG, dass gemäß § 72 Abs. 2 GVG das Gericht am Sitz des OLG zuständig sei, beantragte die Beklagte, den Rechtsstreit entsprechend § 281 ZPO dorthin zu verweisen. Das LG kam dem nicht nach und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Die Voraussetzungen, unter denen eine bei einem unzuständigen Gericht eingelegte Berufung ausnahmsweise entsprechend § 281 ZPO an das zuständige Gericht zu verweisen sind, liegen nach Auffassung des BGH nicht vor, weil es keinem Zweifel unterliege, dass Streitigkeiten der hier in Rede stehenden Art unter den Tatbestand von § 72 Abs. 2 GVG fielen. Die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung des AG führe in solchen Fällen nicht zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 281 ZPO, sondern lediglich dazu, dass der Berufungskläger beim zuständigen Gericht erneut Berufung einlegen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen könne.

Praxistipp: Auch wenn dies mit zusätzlichen Kosten verbunden sein kann, stellt es in der Regel den sichersten Weg dar, die Berufung bei dem Gericht einzulegen, das in der Rechtsbehelfsbelehrung als zuständig bezeichnet wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig zu Tage tritt; wenn dies in Betracht kommt, ist es am sichersten, bei beiden in Frage kommenden Gerichten fristgerecht Berufung einzulegen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um formelle Fragen aus dem Bereich des Grundbuchrechts.

Bedingung oder Befristung dinglicher Rechte an einem Grundstück
Beschluss vom 1. Oktober 2020 – V ZB 51/20

Mit den Voraussetzungen für die Löschung einer Reallast befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, das mit einer Reallast belastet ist. Das Recht war im Jahr 2009 aufgrund einer Bewilligung des damaligen Eigentümers eingetragen worden. Laut dieser Erklärung dient das Recht der Sicherung eines für die Lebensdauer der Berechtigten bestehenden vertraglichen Rentenanspruchs. Die Antragstellerin hat eine Sterbeurkunde vorgelegt, laut der die Berechtigte im Januar 2018 verstorben ist. Sie begehrt die Löschung des Rechts im Grundbuch. Das AG hat ihr durch Zwischenverfügung aufgegeben, eine Löschungsbewilligung der Erben der Berechtigten sowie einen Erbennachweis einzureichen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben.

Der BGH hebt die angefochtenen Entscheidungen aus formellen Gründen auf, bestätigt diese aber in der Sache.

Die Zwischenverfügung ist formell unzulässig. Nach der Rechtsprechung des BGH darf eine Zwischenverfügung gemäß § 18 GBO nur ergehen, wenn der Mangel des Antrags mit rückwirkender Kraft geheilt werden kann. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn eine erst noch zu erklärende Eintragungsbewilligung erforderlich ist.

In seinen Hinweisen für das weitere Verfahren stellt der BGH klar, dass die inhaltliche Beurteilung durch das OLG zutreffend ist.

Eine Bewilligung der Erben wäre nach § 23 GBO entbehrlich, wenn die eingetragene Reallast auf die Lebenszeit der Berechtigten befristet wäre. Eine solche Befristung muss jedoch aus dem Grundbuch selbst ersichtlich sein. Nach § 874 BGB kann die Eintragung zwar zur näheren Bezeichnung des Inhalts des Rechts auf die Eintragungsbewilligung Bezug nehmen. Eine Bedingung oder Befristung stellt aber nicht lediglich eine nähere Bezeichnung des Inhalts dar. Sie betrifft den rechtlichen Bestand des eingetragenen Rechts, nicht nur dessen nähere Ausgestaltung. Eine Bezugnahme auf die Bewilligung ist nur hinsichtlich weiterer Einzelheiten zulässig, etwa hinsichtlich der Fristdauer.

Eine Bewilligung der Erben wäre gemäß § 22 Abs. 1 GBO auch dann entbehrlich, wenn sich die dingliche Einigung (§ 873 BGB) zwischen dem Berechtigten und dem damaligen Grundstückseigentümer auf ein befristetes Recht bezogen hätte. In diesem Falle wäre das Grundbuch unrichtig, soweit es das Recht als unbefristet ausweist. Die Unrichtigkeit muss aber gemäß § 29 Abs. 1 GBO durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden nachgewiesen werden. Die vorgelegte Eintragungsbewilligung genügt zwar dieser Form. Sie enthält aber nur eine Erklärung des Eigentümers und lässt nicht erkennen, ob die Berechtigte einer Befristung zugestimmt hat. Eine solche Zustimmung könnte zwar in einem öffentlich beglaubigten Eintragungsantrag der Berechtigten zu sehen sein. Im Streitfall ist der Eintragungsantrag aber vom Eigentümer gestellt worden.

Praxistipp: Die Entscheidung zeigt eindrucksvoll, wie wichtig es sein kann, dass eine Grundbucheintragung vom Betroffenen bewilligt und vom Begünstigten beantragt wird.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um gerichtliche Anordnungen zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.

Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen
Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20

Mit den Befugnissen des Gerichts gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG befasst sich der IV. Zivilsenat.

Die Klägerin unterhält bei der Beklagten eine private Krankenversicherung. Mit ihrer Klage wendet sie sich gegen Beitragserhöhungen. Die Beklagte reichte unter anderem ein Anlagenkonvolut ein, aus dem sich nach ihrem Vorbringen Einzelheiten zu den Grundlagen ihrer Prämienkalkulation ergeben. Zugleich beantragte sie, die Klägerin, deren Prozessbevollmächtigte, den gerichtlichen Sachverständigen und eventuell bestellte Privatgutachter der Klägerin zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Das LG übergab dem Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zunächst nur die von der Beklagten eingereichte Liste der nach ihrer Ansicht geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen. Anschließend schloss es die Öffentlichkeit aus und ordnete an, dass die während des nicht öffentlichen Teils anwesenden Personen auf Klägerseite zur Geheimhaltung von Tatsachen verpflichtet sind, soweit sie die in der Liste aufgeführten Unterlagen betreffen. Die Beschwerde der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten gegen diese Anordnung blieb erfolglos.

Die Rechtsbeschwerden der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten haben ebenfalls keinen Erfolg. Der BGH bestätigt, dass ein Krankenversicherer ein schutzwürdiges Interesse an der Geheimhaltung der Grundlagen seiner Prämienkalkulation hat, dem die Gerichte bei der Anwendung von § 172 Nr. 2, § 173 Abs. 2 und § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG Rechnung tragen müssen. Die Entscheidung des LG, im Streitfall eine Geheimhaltung anzuordnen, ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Entgegen einer in Literatur und Instanzrechtsprechung vertretenen Auffassung ermöglicht § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG jedenfalls zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen auch eine Geheimhaltungsanordnung, die sich nur an einzelne Personen richtet.

Praxistipp: Um eine ungeschützte Weitergabe von geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen an die Gegenseite sicher zu vermeiden, sollten diese grundsätzlich erst eingereicht werden, nachdem das Gericht Anordnungen zur Geheimhaltung getroffen hat.

BGH: Beginn der Beschwerdefrist bei einer fehlerhaften Zustellung

In einer Familienstreitsache (BGH, Beschl. v. 22.4.2020 – XII ZB 131/19, MDR 2020, 1081) ging es um Trennungsunterhalt. Das Amtsgericht verkündete am 18.11.2016 eine begründete Entscheidung, wonach der Antragsgegner an die Antragstellerin u. a. 333 Euro monatlich zahlen sollte. Den Beteiligten wurde hingegen eine Ausfertigung ohne Gründe zugestellt, wonach der Antragsgegner u. a. 524 Euro monatlich zahlen musste. Der Antragsgegner zahlte die 524 Euro. Erst bei einem weiteren Termin am 14.9.2018 (mithin fast zwei Jahre später!) fiel dieses Versehen auf. Daraufhin wurde der (richtige) Beschluss vom 18.11.2016 dem Antragsteller am 24.09.2018 zugestellt. Am 23.10.2018 wurde daraufhin Beschwerde eingelegt und später begründet. Gleichwohl wurde die Beschwerde als unzulässig verworfen und auch die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.

Es ist nahezu unglaublich, was alles in der gerichtlichen Praxis passiert und was davon mitunter von den Beteiligten hingenommen wird, und zwar sogar ohne Rückfragen. Und die Konsequenzen sind mitunter auch wenig befriedigend. Dies zeigt auch der vorliegende Fall. Die entscheidende Frage hier war: Wurde durch die Verkündung die Fünfmonatsfrist des § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG in Lauf gesetzt, obwohl ein falscher Beschluss ohne Gründe zugestellt wurde? Wenn ja, hätte der Antragsgegner sein Glück nämlich nur über eine Wiedereinsetzung versuchen können. Diese war zwar nicht beantragt worden, das Oberlandesgerichts hatte einen entsprechenden konkludenten Antrag jedoch unterstellt.

Die einmonatige Beschwerdefrist beginnt allerdings nach ständiger Rechtsprechung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG mit Erlass der Entscheidung auch dann, wenn die Zustellung ganz unterblieben ist oder die zugestellte Fassung vom Original abweicht. Auf die fehlende oder fehlerhafte Zustellung kommt es nicht an. Dies gilt aus Gründen der Rechtssicherheit. Die Verkündung war auch wirksam, insbesondere war die Unterschrift der Richterin ordnungsgemäß. Demgemäß war die Beschwerdefrist sechs Monate nach der Verkündung abgelaufen.

Das Oberlandesgericht war von einem konkludenten Wiedereinsetzungsantrag ausgegangen, hat diesen aber als verspätet angesehen. Dies war richtig. Zwar war die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO trotz deren Ablauf gewahrt, weil der Fehler nur dem Gericht zuzurechnen war. Die Wiedereinsetzungsfrist begann hier aber am 14.9.2018, weil der Antragsgegner an diesem Tag von dem Geschehen erfahren hatte. Die Beschwerde erst am 23.10.2018 war damit verspätet.

Fazit: Der kluge und sorgfältige Anwalt notiert immer die Sechsmonatsfrist, wenn eine Entscheidung nicht bekannt wird oder nicht begründet wurde. Und: Manchmal hilft schon eine Rückfrage bei der zuständigen Geschäftsstelle, um ein derartiges Missverständnis aufzuklären. Zur Not muss in besonderen Fällen Einsicht in die Gerichtsakte genommen werden.

Thesenpapier zur umfassenden Modernisierung des Zivilprozesses

Jedes Jahr treffen sich die Präsidentinnen und Präsidenten der ordentlichen Obergerichte (OLG, KG, BayObLG und BGH) an wechselnden Orten zu einer Tagung, zuletzt zur 71. Jahrestagung im Mai 2019 in Bamberg. Dort wurde die altehrwürdige ZPO in den Blick genommen. Diese nutzt bisher die vorhandenen  technischen Möglichkeiten kaum aus, um Gerichtsverfahren bürgerfreundlich und effizient zu gestalten. Der elektronische Rechtsverkehr und die e-Akte bilden letztlich nur die Papierwelt digital nach. Um eine echte Transformation zivilgerichtlicher Verfahren ins digitale Zeitalter zu ermöglichen, bedarf es grundlegenderer Überarbeitungen des Verfahrensrechts. Diesen Reformbedarf haben die Präsidentinnen und Präsidenten erkannt und die Einsetzung einer mit Richterinnen und Richtern aller Ebenen besetzten Arbeitsgruppe beschlossen, die nunmehr ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Auch wenn es sich hierbei nur um einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem rechtspolitischen Forderungskatalog handelt, lohnt sich doch ein Blick in das vom Präsidenten des OLG Nürnberg Dr. Dickert als Vorsitzendem der Arbeitsgruppe veröffentlichte Thesenpapier.

Dieses enthält eine ganze Reihe von weitreichenden Vorschlägen, die – im Falle ihrer Umsetzung – die zivilprozessuale Welt ganz erheblich umkrempeln werden. Die folgende Aufzählung ist längst nicht abschließend:

  • Ein neues Beschleunigtes Online-Verfahren soll für „massenhaft auftretende Streitigkeiten“ – hier wird an Fluggastrechte oder Mieterhöhungen zu denken sein – ein formularbasiertes Verfahren anbieten, das vollständig online durchgeführt wird. Es werden spezielle Online-Gerichte eingerichtet werden können, die nötigenfalls im Wege der Video- oder Telefonkonferenz verhandeln.
  • Der seit Jahrzehnten diskutierte „strukturierte Parteivortrag“ kann (im Anwaltsprozess) endlich Wirklichkeit werden. Der Parteivortrag zum Lebenssachverhalt wird von den Parteivertretern in einer Relationstabelle niedergelegt. Dazu bearbeiten die Rechtsanwälte ein gemeinsames elektronisches Dokument, das sog. Basisdokument. Dieses soll später die Funktion des Tatbestands übernehmen.
  • Nicht nur in Pandemiezeiten interessant wird die Möglichkeit sein, „virtuelle Verhandlungen“ im Wege der Videokonferenz zu führen, bei denen sich auch das Gericht nicht mehr in einem Sitzungssaal aufhalten muss.
  • Auch die Protokollierung soll moderner, d.h. genauer und einfacher werden. Zu diesem Zweck soll ab 2026 das schriftliche Wortprotokoll von Beweisaufnahmen zwingend sein. Die Verschriftlichung soll computergestützt – auch auf Grundlage von vorläufigen Videoaufzeichnungen – erfolgen.
  • Erweitert werden sollen auch die Kommunikationsmöglichkeiten: Für den Bürger soll ein Online-Portal eingerichtet werden, dass die Funktion einer Rechtsantragsstelle wahrnimmt und zugleich dem Zugang zum Mahnverfahren und Beschleunigten Online-Verfahren dient. Rechtsanwälte und Gericht sollen auch über einen elektronischen Nachrichtenraum – ähnlich der bekannten Messenger-Dienste – kommunizieren können, z.B. Terminsabsprechen treffen, Verzögerungen mitteilen oder Vergleichsverhandlungen anregen oder sich darüber austauschen.

Die Thesen werden nunmehr zunächst mit der Richterschaft dann mit Anwaltschaft und Rechtspolitik diskutiert werden. Man kann gespannt sein, wie es weiter geht!

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die analoge Anwendbarkeit von § 839a BGB.

Haftung des gerichtlichen Sachverständigen bei Verfahrensbeendigung durch Vergleich
Urteil vom 25. Juni 2020 – III ZR 119/19

Mit der Möglichkeit einer analogen Anwendung von § 839a BGB befasst sich der III. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte in einem Vorprozess gegen Gewährleistungsansprüche wegen Sachmängeln einer Druckmaschine geltend gemacht. Das LG hatte den Beklagten mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. Der Beklagte kam zu dem Ergebnis, die Druckgeschwindigkeit der Maschine sei entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu beanstanden. Das LG wies die Klage daraufhin ab. In der Berufungsinstanz äußerte das OLG Zweifel an der Verwertbarkeit des Gutachtens. Auf Vorschlag des Gerichts einigten sich die Parteien darauf, dass die Klägerin Eigentümerin der Maschine wird und alle anderen Ansprüche erledigt sind. Die Klägerin nahm daraufhin den Beklagten wegen Erstattung eines unrichtigen Gutachtens auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klage blieb in den ersten beiden Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er tritt dem OLG darin bei, dass die Haftung eines gerichtlichen Sachverständigen für fehlerhafte Gutachten in § 839a BGB abschließend geregelt ist. Deshalb kommen konkurrierende Ansprüche aus § 823 oder § 826 BGB nicht in Betracht. Eine unmittelbare Anwendung von § 839a BGB setzt voraus, dass das Verfahren durch eine gerichtliche Entscheidung erledigt wird. Ein Vergleich wird davon auch dann nicht erfasst, wenn er auf einem Vorschlag des Gerichts beruht. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kommt im Falle eines Vergleich aber eine entsprechende Anwendung von § 839a BGB in Betracht. Wie im Falle einer gerichtlichen Entscheidung setzt die Haftung voraus, dass der Inhalt des Vergleichs durch das Gutachten beeinflusst worden ist. Ob diese und die weiteren Voraussetzungen vorliegen, wird das OLG im wieder eröffneten Berufungsverfahren zu prüfen haben.

Praxistipp: Bei einer Verfahrensbeendigung durch Vergleich wird sich in der Regel die Frage stellen, ob der Geschädigte den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels – d.h. durch Weiterführen des Prozesses – hätte abwenden können, was nach § 839a Abs. 2 und § 839a Abs. 3 BGB zum Wegfall des Ersatzanspruchs führt.

BGH: Gehörsverletzung durch unterbliebene Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

Der BGH hat mit Beschl. v. 21.1.2020 – VI ZR 346/18, MDR 2020, 751 über die Gehörsverletzung wegen unterbliebener Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz nach erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteiltem Hinweis entschieden.

Sachverhalt

Die Entscheidung betrifft nur einen kleinen Ausschnitt eines sehr umfangreichen Prozesses. Der über 80 Jahre alte Kläger bezog von dem Beklagten, einem Apotheker, ein in der Apotheke hergestelltes Medikament. Eine pharmazeutisch-technische Assistentin verwendete bei der Herstellung des Medikamentes Methadon anstatt Meprobamat (bei beiden Arzneimitteln handelt es sich um Betäubungsmittel). Nachdem der Kläger das fehlerhaft hergestellte Medikament eingenommen hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin im Koma liegend auf. Der Kläger erlitt letztlich einen schweren Hirnschaden.

Bezüglich des von dem Kläger geltend gemachten Haushaltsführungsschadens hatte das LG der Klage in Höhe von 162.513,64 Euro stattgegeben. Der Beklagte legte Berufung ein. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wies das OLG darauf hin, dass seitens des Klägers weiterer Vortrag dazu erforderlich sei, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für Pflege und Betreuung sowie – in Abgrenzung dazu – für die Haushaltsführung geltend mache. Entsprechender Vortrag des Klägers erfolgte im Termin nicht mehr. Ein Schriftsatznachlass (§ 139 Abs. 5 ZPO) wurde von dem Kläger nicht beantragt. Das OLG bestimmte einen Verkündungstermin. Der Kläger trug vor diesem Termin schriftsätzlich noch weiter zu den Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin vor. Das OLG wies dann die Klage bezüglich des Haushaltsführungsschadens ab und vertrat die Auffassung, eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht geboten gewesen.

Die Gründe des BGH

Der BGH nimmt diese Entscheidung nicht hin, sondern hebt das Urteil des OLG insoweit auf und verweist die Sache zurück.

Zentraler Punkt der Entscheidung ist einmal wieder das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Bleibt der Vortrag einer Partei ohne Stütze im Prozessrecht unberücksichtigt, stellt dies eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs dar. Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass eine erstinstanzlich siegreiche Partei darauf vertrauen darf, sie werde von dem Berufungsgericht einen Hinweis erhalten, wenn es der erstinstanzlichen Entscheidung nicht folgen möchte oder dafür weiteren Vortrag oder einen zusätzlichen Beweisantritt für erforderlich hält. Dabei muss der Hinweis so rechtzeitig erfolgen, dass die Partei noch vor einem Termin reagieren kann. Wird dann ein Hinweis – entgegen § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO (!) – erst im Termin erteilt, muss die betroffene Partei die Gelegenheit haben, darauf zu reagieren. Wenn offensichtlich ist, dass eine Reaktion nicht sofort erfolgen kann, muss der Partei die Gelegenheit gegeben werden, noch vorzutragen, und zwar entweder durch einen Übergang in das schriftliche Verfahren oder eine Vertagung. Dies gilt auch dann, wenn die betroffene Partei keinen Schriftsatznachlass beantragt. Daraus folgt dann die Pflicht, aufgrund eines noch eingehenden Schriftsatzes gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.

Das Verfahren des Berufungsgerichts entsprach nicht diesen Grundsätzen. Der Hinweis erfolgte erst im Termin. Der Kläger hatte sich rechtzeitig geäußert, nämlich durch einen Schriftsatz, der vor dem Verkündungstermin einging. Die Verhandlung hätte vorliegend demgemäß wiedereröffnet werden müssen.

Der Beklagte wollte dem noch entgegenhalten, ein Hinweis wäre nicht erforderlich gewesen, da er bereits in erster Instanz den von dem OLG aufgegriffenen Einwand erhoben habe. Insofern könne es für den Kläger nicht überraschend gewesen sein, dass das OLG so entschieden habe. Darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, dass das Berufungsgericht darauf hinweisen muss, wenn es den Vortrag der erstinstanzlich siegreichen Partei für nicht ausreichend hält.

Der Gehörsverstoß ist auch erheblich. Der Kläger hatte in dem erwähnten Schriftsatz weiter erheblich vorgetragen, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG bei Berücksichtigung des Vortrages abweichend entschieden hätte.

Das OLG muss sich also mit dem Haushaltsführungsschaden erneut befassen. Im Übrigen hatte das Rechtsmittel keinen Erfolg. Der BGH verfuhr insoweit nach § 544 Abs. 6 S. 2 Hs. 2.

Folgerungen für die Praxis

Die Entscheidung stellt, wie überhaupt die gesamte Rechtsprechung des BGH, sehr strenge Anforderungen an die Beachtung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Um Verfahrensfehler zu vermeiden, bleibt den Gerichten nichts anderes übrig als auf Vortrag, der auf verspätete Hinweise noch erfolgt, stets noch zu reagieren. Der BGH nimmt den Parteien die Verantwortung ab, indem sogar auf einen Antrag auf Schriftsatznachlass verzichtet wird.

Hinweis für die Beratungspraxis

Die Gerichte sollten bestrebt sein, erforderliche Hinweise, wie dies das Gesetz auch vorsieht, möglichst früh zu erteilen, jedenfalls vor einem Termin. Das praktische Problem besteht jedoch darin, dass dies wegen der hohen Arbeitsbelastung oftmals nicht möglich ist. Gerade in der zweiten Instanz ist eine sachgerechte Vorbereitung der Akte überwiegend erst kurz vor dem Termin möglich.

Wenn vom Gericht in einem Termin ein Hinweis erfolgt und eine sofortige Reaktion nicht möglich ist, muss der Rechtsanwalt darauf hinwirken, dass er noch eine Möglichkeit zur Reaktion erhält. Entweder durch Vertagung oder durch Übergang in das schriftliche Verfahren oder – wenigstens – durch einen Schriftsatznachlass. Mit dem Schriftsatznachlass sollte vorsorglich auf die geschilderte Rechtsprechung hingewiesen werden, damit der Vortrag auch berücksichtigt wird. Besonders gefährlich wird es natürlich, wenn das Gericht keinen Verkündungstermin bestimmt, sondern eine Entscheidung am Schluss der Sitzung ankündigt. Dann muss sofort im Termin reagiert werden!