Blog powered by Zöller: Der digitale Zivilprozess rückt näher

Dass die Ziviljustiz dringend den Anschluss an das digitale Zeitalter finden muss, ist mittlerweile allgemeine Meinung; Statements dazu aus Praxis und Wissenschaft gibt es bereits zuhauf. Mit besonderem Interesse wurde aber dem Abschlussbericht der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ entgegengesehen, denn von diesem mit Vertretern der Justizverwaltungen, der Gerichtspraxis, der Anwaltschaft und der Wissenschaft besetzten Gremium durften grundlegende Richtungsentscheidungen für die Reformpolitik erwartetet werden. Der soeben veröffentlichte Abschlussbericht enttäuscht diese Erwartungen nicht. Obwohl er an den hergebrachten Strukturen und Grundsätzen des Zivilprozesses festhält, verschafft er ihm durch maß- und sinnvolle Nutzung der digitalen Technologie ein neues, zeitgemäßes Format.

Entscheidendes Element des künftigen Zivilprozesses wird die Verfahrensmanagement-Plattform sein, auf der das gesamte Verfahren, insbesondere die Kommunikation zwischen dem Gericht und den anderen Prozessbeteiligten abgewickelt wird. An die Stelle eines Konglomerats von PDF-Dateien (wie in der bisherigen E-Akte) tritt dann ein cloudbasiertes Verfahrensdokument. Parteivortrag sowie Hinweise und Entscheidungen des Gerichts werden dort eingestellt und übersichtlich geordnet. Sieben Tage nach Mitteilung des Neueingangs gilt das Dokument als zugegangen, sodass die Formalitäten des Zustellungsverfahrens entfallen können. Richter und Anwälte können sich jederzeit durch Blick in das digitale Verfahrensdokument über den aktuellen Sachstand informieren, ihn auch variabel nach ihren Präferenzen (z.B. chronologisch, sachlich, nach Urhebern geordnet) darstellen lassen. Der Bericht sieht hier auch Einsatzmöglichkeiten für KI und – in einem weiteren Schritt – für die kollaborative Fortschreibung des Parteivortrags.

Die Kommission beschränkt sich nicht darauf, diese Möglichkeiten nach Art einer Zukunftsvision in den Raum zu stellen, sondern befasst sich, teilweise auf existierende Modelle im Ausland und in der Schiedsgerichtsbarkeit Bezug nehmend, eingehend mit der praktischen Umsetzbarkeit. Das gilt auch für die Beteiligung von Naturalparteien, deren Zugang zum Gerichtsverfahren im Übrigen durch ein bundeseinheitliches Justizportal – ein weiteres Herzstück des Kommissionsberichts – verbessert werden soll.

Nicht weniger bedeutsam sind die Vorschläge der Kommission für ein effizienteres Verfahrensmanagement.  Sie sind auf eine stringente, frühzeitig einsetzende, mit den Parteien abgestimmte, transparente Verfahrensplanung gerichtet. Der Vorsitzende soll durch einen Organisationstermin oder verfahrensleitende Hinweise für die Strukturierung des Streitstoffs sorgen. Der Grundsatz der mündlichen Verhandlung soll zwar beibehalten, aber zeitgemäß modifiziert, virtuelle Verhandlungsformen sollen ausgebaut werden.

Mit Nachdruck – und bis ins Einzelne gehenden Vorschlägen – spricht sich der Bericht dafür aus, das Kammerprinzip und spezialisierte Spruchkörper, auch über Gerichtssprengel hinaus, zu fördern. Die Kammer für Handelssachen soll aufgewertet werden.

Auf die ungezählten weiteren Vorschläge des 240 Seiten umfassenden Berichts kann hier nicht eingegangen werden; sie reichen vom Einsatz digitaler, auf KI basierender Assistenzprogramme über die Ersetzung von Formularen durch digitale Eingabe- und Abfragesysteme, das Nutzbarmachen von Beweiserhebungen für Parallelverfahren und neue Formen der Urteilsverkündung bis zur Automatisierung des Kostenfestsetzungsverfahrens und zur Einführung eines Vollstreckungsregisters, welches die Ausfertigung des Titels und die Erteilung der Klausel ersetzen soll.

Dass sich Manches wie Science Fiction liest, liegt nicht an mangelhafter Bodenhaftung der Verfasser, sondern daran, dass sich die Ziviljustiz zu lange den modernen Entwicklungen verschlossen hat. Auch der Kommission ist klar, dass sich nicht alle Vorschläge auf einen Schlag verwirklichen lassen; zu manchen Punkten schlägt sie weitere Erörterungen oder Erprobungsgesetze vor. Dabei sind die Aussichten auf ein baldiges Tätigwerden des Gesetzgebers nicht schlecht, denn die durch rückläufige Prozesszahlen, zunehmende Verfahrensdauern und belastende Massenverfahren gekennzeichnete Situation der Ziviljustiz verlangt dringende Abhilfe.

Dass das Thema auf die rechtspolitische Agenda kommt, wird zudem unterstützt durch die Initiative einer von Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte eingerichteten Arbeitsgruppe. Diese hat in ihren Münchener Thesen und einem Tagungsband Anforderungen an einen Zivilprozess der Zukunft aufgestellt, die weitgehend mit der Tendenz des Kommissionsberichts übereinstimmen, aber auch zusätzliche Aspekte, etwa den Einbau konsensualer Elemente, Handhaben gegen überlange Verfahrensdauern und die Bündelung von Massenverfahren behandeln.

Die Vorarbeiten für die heute noch geltende ZPO von 1877 dauerten rund 40 Jahre; es gab ungezählte Kommissionen und Entwürfe.  Mit den heutigen Herausforderungen und der rasanten technologischen Entwicklung wäre ein solches Procedere nicht zu vereinbaren. Zu Recht spricht sich die Kommission daher für ein iteratives Vorgehen mittels Legal Design Thinking aus. Ziel muss nicht eine völlig neue ZPO sein. Kurzfristig umsetzbare Vorschläge der Arbeitsgruppen sollten daher vorgezogen, die zweifellos aufwendige Entwicklung der elektronischen Systeme vorangetrieben, aber nicht abgewartet werden. Probeläufe in Reallaboren sind angesagt. Manche Empfehlungen können auch schon nach geltendem Recht umgesetzt werden, z.B. die virtuelle Verfahrenskonferenz zur Strukturierung von Prozessstoff und -verlauf (s. Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 139 ZPO Rn. 4 ff., § 273 ZPO Rn. 15).


Aktuelle Gesetzesänderungen werden vom Zöller stets aufbereitet. In den Online-Aktualisierungen finden Sie Änderungen auch zwischen den Auflagen. Zudem wird der Zöller die zu erwartenden Änderungen rund um den „Zivilprozess der Zukunft“ intensiv und vielfältig begleiten.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Zuordnung einer Telefax-Nummer zu einem Gericht
Beschluss vom 5. Oktober 2016 – VII ZB 45/14

Mit der Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts befasst sich der VII. Zivilsenat.

Der Prozessbevollmächtigte der in erster Instanz unterlegenen Beklagten hatte die Berufung gegen das Urteil des AG zur Fristwahrung per Telefax übermitteln lassen. Das Original (mit dem Zusatz „vorab per Telefax an 2017-1009“) ging erst nach Fristablauf beim LGein. Auf einen Hinweis des LG, dass ein Faxeingang nicht festgestellt werden könne, machte der Prozessbevollmächtigte glaubhaft, dass seine Sekretärin den Schriftsatz am Tag des Fristablaufs an die angegebene Telefaxnummer übermittelt hatte. Auf einen ergänzenden Hinweis des LG, diese Nummer sei dem AG zugeordnet, zeigte er auf, dass die Nummer sowohl im Dienstleistungsportal des Landes als auch im gemeinsamen Justizportal des Bundes und der Länder als Faxnummer des LG ausgewiesen ist. Das LG verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Er hält bereits die Feststellungen des LG zur Zuordnung der Faxnummer für unzureichend. Anlass zu eingehenderen Ermittlungen bestand aus Sicht des BGH schon deshalb, weil AG und LG eine gemeinsame Briefannahmestelle unterhalten und es deshalb naheliegt, dass eine Geschäftsordnungsregel getroffen wurde, wonach die bei einem dort vorhandenen Faxanschluss eingehenden Schreiben – ebenso wie ein im Original eingegangener Schriftsatz – als bei demjenigen Gericht eingegangen gelten, an das die Sendung adressiert ist. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass im Hinblick auf die Zuordnung der Faxnummer in den beiden Internetportalen jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Dass der diesbezügliche Vortrag erst nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist erfolgte, ist unschädlich, weil für den Prozessbevollmächtigten erst aus dem ergänzenden Hinweis des LG ersichtlich war, dass die Faxnummer einem anderen Gericht zugeordnet sein könnte.

Praxistipp: Wenn ein Gericht mitteilt, eine bestimmte Faxsendung nicht erhalten zu haben, sollte vorsichtshalber auch vorgetragen und glaubhaft gemacht werden, woraus sich die Zuordnung der verwendeten Telefaxnummer zu dem betreffenden Gericht ergibt.

Schadensersatzpflicht eines Zuschauers für Verbandsstrafe
Urteil vom 22. September 2016 – VII ZR 14/16

Ebenfalls der VII. Zivilsenat war zur Entscheidung eines Falls berufen, der für einige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt hat.

Der Beklagte hatte als Zuschauer bei einem Fußballspiel der 2. Bundesliga einen dem Sprengstoffgesetz unterfallenden Knallkörper gezündet. Dabei wurden sieben andere Zuschauer verletzt. Der Deutsche Fußballbund setzte gegen den Heimverein eine Geldstrafe fest. Die auf Ersatz des gezahlten Betrags gerichtete Klage war in erster Instanz erfolgreich. Das OLG wies die Klage hingegen ab, weil es an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehle.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Durch den Stadionbesuch ist ein Zuschauervertrag zustande gekommen, der den Beklagten verpflichtete, das Interesse des Klägers an einem ungestörten Spielablauf nicht zu beeinträchtigen. Der Beklagte hat diese Pflicht verletzt und damit die durch Festsetzung der Verbandsstrafe eingetretene Vermögensbeeinträchtigung auf Seiten des Klägers verursacht. Entgegen der Auffassung des OLG fehlt es nicht an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang. Zwischen der verletzten Pflicht und der daraus resultierenden Folge besteht ein hinreichender innerer Zusammenhang. Das Mittel der Verbandsstrafe als Sanktion für schuldhafte Störungen durch Zuschauer dient ebenfalls dem Zweck, einen störungsfreien Ablauf zu gewährleisten. Ob die der Festsetzung der Strafe zugrunde liegenden Regeln des DFB wirksam sind, ist irrelevant, weil die Entscheidung des Klägers, die Strafe zu zahlen, jedenfalls keine ungewöhnliche oder unsachgemäße Reaktion darstellt. Der Beklagte kann sich auch nicht auf ein Mitverschulden wegen unzureichender Einlasskontrollen berufen. Diese Kontrollen dienen nicht der Erfüllung einer Obliegenheit des Veranstalters gegenüber Zuschauern, die verbotene Gegenstände mit sich führen.

Praxistipp: Um Diskussionen über die Wirksamkeit der vom DFB erlassenen Verfahrensregeln (dazu BGH, Urteil vom 20. September 2016 – II ZR 25/15) zu vermeiden, ist es zweckmäßig, den Regressanspruch erst nach Zahlung der Geldstrafe geltend zu machen.