Anwaltsblog 31/2024: Verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei

Wieder einmal musste der BGH ein OLG korrigieren, das überspannte Anforderung an die Substantiierungspflicht gestellt hatte (BGH, Beschluss vom 25. April 2024 – III ZR 54/23):

 

Dem Kläger wurde am 13. August 2019 die Fahrerlaubnis entzogen. Das Verwaltungsgericht hob den Bescheid auf und wies den Beklagten an, den Führerschein zurückzugeben, was im Februar 2021 erfolgte. Der Kläger, der im fraglichen Zeitraum bei einem Unternehmen arbeitete, reduzierte mit Wirkung zum 1. September 2019 seine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden auf 28 Wochenstunden und arbeitete in der Folge nur noch an vier Tagen pro Woche. Er behauptet Einkommensverluste aufgrund des Fahrerlaubnisentzugs in Höhe von insgesamt 31.678 €. Durch den erhöhten Zeitaufwand für den Arbeitsweg sei er gezwungen gewesen zu sein, seine Arbeitszeit zu reduzieren. Der Arbeitsweg habe sich durch den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel auf mindestens eineinhalb Stunden einfach verlängert, während er vorher mit dem Motorrad lediglich rund 30 Minuten einfach benötigt habe und an Staus hätte vorbeifahren können. Er hätte ohne Arbeitszeitreduzierung um 6.00 Uhr morgens das Haus verlassen müssen und wäre meist erst nach 22.00 Uhr abends zurückgekehrt. Dies sei nicht zumutbar gewesen, da er so kaum noch Freizeit gehabt hätte. Aus dem um 1.551 € niedrigeren Brutto-Lohnanspruch über 18 Monate errechne sich ein Schaden in Höhe von 27.918 €. Zudem habe er in diesem Zeitraum in Höhe von 3.760 € geringere Bonuszahlungen erhalten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das OLG die Berufung zurückgewiesen. Es fehle zumindest an der Kausalität des Entzugs der Fahrerlaubnis für den geltend gemachten Vermögensschaden. Der Kläger habe durch die Reduzierung seiner Arbeitszeit in den Geschehensablauf eingegriffen und selbst eine weitere Ursache gesetzt, die seinen Vermögensschaden erst herbeigeführt habe. Er habe zum Nachweis seiner Behauptungen hinsichtlich der Fahrzeit mit dem Motorrad und öffentlichen Verkehrsmitteln lediglich einen Screenshot eines Routenplaners vorgelegt. Der Beklagte habe substantiiert bestritten, dass die darin angegebene Fahrzeit mit dem PKW oder dem Motorrad zu Arbeitsbeginn des Klägers im Berufsverkehr auch nur annäherungsweise erreichbar sei. Der Kläger habe seinen Vortrag nicht weiter substantiiert, insbesondere nicht im Hinblick auf die bei Arbeitsbeginn und Arbeitsende tatsächlich erreichbaren Fahrzeiten.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Das ist u.a. dann der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist dabei schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann vielmehr Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten.

Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zu den Fahrzeiten sei unsubstantiiert, das von ihm beantragte Sachverständigengutachten müsse deswegen nicht eingeholt werden, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Kläger hat in der Klageschrift unter Vorlage einer Wegzeitberechnung (Screenshot eines Routenplaners) vorgetragen, vor Entziehung der Fahrerlaubnis für den Weg zur Arbeit ein Motorrad benutzt zu haben, mit dem der Arbeitsweg in etwa 30 Minuten je einfache Strecke zu bewältigen gewesen sei, während er mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens eineinhalb Stunden je einfache Strecke benötigt habe. In seiner Replik auf die Klageerwiderung hat er behauptet, die der Klageschrift beigefügte Wegzeitberechnung sei richtig und spiegele die durchschnittliche Reisezeit zu Arbeitsbeginn und nach Beendigung der Arbeit wider. Zum Beweis hat er die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Bereits dieses Vorbringen hätte dem Tatrichter Veranlassung geben müssen, in die Beweisaufnahme einzutreten und einen – ortskundigen und mit den dort gegebenen Verhältnissen im Berufsverkehr vertrauten – Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. In der Berufungsbegründung hat der Kläger sein Vorbringen überdies dahingehend ergänzt, dass sich die rund 30-minütige Fahrzeit mit dem Motorrad selbst bei vollständiger Sperrung der kürzesten Strecke in der „Rush-Hour“ bei Nutzung einer Alternativroute nur um neun Minuten erhöhte, und sodann an die Einholung des angebotenen Sachverständigengutachtens erinnert. Weiterer Angaben für die Behauptung, dass die Fahrzeit mit dem Motorrad deutlich kürzer gewesen sei als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, bedurfte es nicht.

 

Fazit: Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH v. 1.6.2005 – XII ZR 275/02, MDR 2006, 48). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10, MDR 2012, 1033).

BGH: Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten

Ein LKW der Beklagten war an einem LKW der Klägerin vorbeigefahren und hatte letzteren dabei am (Spezial)Aufbau gestreift. Die Klägerin holte ein Sachverständigengutachten über die Höhe des Schadens ein und verlangte u. a. diesen Betrag von der Beklagten. Die Klage war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Letztlich wurde die Auffassung vertreten, dass der Kläger einen abgrenzbaren Schaden nicht dargelegt hätte, weil der gerichtliche Sachverständige festgestellt habe, dass die Beschädigungen an dem LKW der Klägerin nur teilweise dem Unfall zugeordnet werden könnten. Demgegenüber hatte die Klägerin zuletzt geltend gemacht, dass es sich bei dem Aufbau ihres LKW um einen Spezialaufbau handele, bei dem einzelne Arbeitsschritte nicht abgegrenzt werden könnten, vielmehr müsse der Aufbau insgesamt ersetzt werden. Eine eventuelle Wertverbesserung sei durch einen Abzug-neu-für-alt zu kompensieren.

Der BGH (Beschl. v. 6.6.2023 – VI ZR 197/21, MDR 2023, 1046) hebt die Entscheidung des KG auf und verweist die Sache zurück. Ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör liegt vor. Das KG hätte sich mit dem erwähnten Vortrag der Klägerin befassen müssen. Entweder hätte das KG die Einwände der Klägerin dem Sachverständigen zur erneuten Begutachtung zuleiten müssen oder es hätte nach § 412 ZPO ein neues Gutachten einholen müssen. Jedenfalls müssen die Tatsacheninstanzen Einwände der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten ernst nehmen.

Auch ein Ausforschungsbeweis liegt hier nicht vor. Die Klägerin ist nicht gehalten, zur Substantiierung ihres Vortrags zunächst ein außergerichtliches Gutachten einzuholen. § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung.

Fazit: Wird ein erhebliches Beweisangebot, z. B. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht berücksichtigt, liegt regelmäßig ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Eine Partei ist regelmäßig nicht verpflichtet, ein eigenes Gutachten zur Frage der Höhe eines Schadens einzuholen, sondern kann einen Schaden behaupten und dafür ein Sachverständigengutachten als Beweis anbieten. Das Gericht wird einem solchen Beweisantritt regelmäßig nachzugehen haben.

 

BGH: Stellungnahmefrist zu einem Sachverständigengutachten

In einem Prozess ging es um komplexe Fragen der Schadensverursachung durch ein Bauvorhaben der Beklagten an einem anderen Bauwerk, dessen Eigentümer die Kläger sind. Die Beklagte hatte fristgemäß gegen ein zuvor von dem OLG eingeholtes Ergänzungsgutachten Bedenken geltend gemacht. Um diese Einwände näher geltend zu machen, hatte die Beklagte eine mehrmonatige Fristverlängerung beantragt. Sie wollte einen Privatgutachter mit der Ausformulierung von Einwänden gegen das Gutachten des Gerichtssachverständigen beauftragen. Diese Fristverlängerung lehnt das OLG ab, da die Beklagte ein sachkundiges Bauunternehmen sei und eine so lange Frist mit der Prozessförderungspflicht nicht zu vereinbaren sei. Weiterhin zahlte die Beklagte den von dem OLG geforderten Vorschuss für die von ihr beantragte Anhörung des Sachverständigen nicht ein. Die Beklagte verlor dann den Prozess, da das OLG einen bereits bestimmten Termin nicht aufhob, sondern abhielt und entschied.

Die Revision der Beklagten hatte wieder einmal mit einer Gehörsrüge Erfolg. Betrifft ein Sachverständigengutachten schwierige Fragen, muss den Parteien natürlich die erforderliche Gelegenheit gegeben werden, um zu dem Gutachten Stellung nehmen zu können. Dies ist selbstverständlich. Die Länge der hierfür zu gewährenden Frist hängt auch davon ab, ob die Partei ihrerseits einer sachverständigen Beratung bedarf, um ihre Stellungnahme abzugeben. Hier führt die Tatsache, dass es sich bei der Beklagten um ein Bauunternehmen handelt, nicht dazu, dass sich die Beklagte auch mit den hier maßgeblichen konkreten und schwierigen Bodenkundefragen auskennen müsste. Der Beklagten hätte daher eine längere Frist eingeräumt werden müssen, damit diese sich sachverständig hätte beraten lassen können. Auch ein Verstoß gegen die Prozessförderungspflicht durch die Beklagte ist nicht erkennbar. Zwar hatte die Beklagte bestimmte Unterlagen erst eher spät vorgelegt, jedoch war die Beklagte nicht gemäß § 282 Abs. 1 ZPO zur Vorlage dieser Unterlagen verpflichtet und eine gerichtliche Anordnung, diese Unterlagen vorzulegen, ist nicht rechtzeitig erfolgt. Nicht relevant ist auch die Nichtzahlung des Vorschusses für die beantragte Anhörung des Sachverständigen, weil der ursprünglich bestimmte Termin auch bei rechtzeitiger Zahlung des Vorschusses nicht hätte durchgeführt werden dürfen, da die Beklagte ja noch innerhalb der zu verlängernden Frist hätte Stellung nehmen können.

Fazit: Diese Entscheidung ist nicht ganz unproblematisch. Sie gibt den Parteien, vor allem den wirtschaftlich stärkeren Parteien, die Möglichkeit, einen Prozess erheblich zu verschleppen. Wenn man genug schreibt, hat man immer die Möglichkeit, triviale Fragen zu wissenschaftlich hochkomplexen Fragestellung hoch zu stilisieren. Der Prozessgegner ist in derartigen Fällen dann oftmals machtlos. Vor lauter Gewährung von rechtlichem Gehör darf man nicht vergessen, dass ein Prozess auch einmal eines Endes bedarf. Mindestens eine der Parteien hat daran in aller Regel ein wirklich großes Interesse. Dieses Interesse droht die höchstrichterliche Rechtsprechung mit der beständigen Ausdehnung des rechtlichen Gehörs in alle nur denkbaren Richtungen aus dem Auge zu verlieren. Die immer wieder neue und ständig erweiterte Gewährung des rechtlichen Gehörs sollte daher nicht unbedingt zum Maß aller Dinge werden.

BGH, Beschl. v. 12.4.2018 – V ZR 153/17

Montagsblog: Neues vom BGH

Um die Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens geht es in dieser Woche.

Hinweis auf eigene Sachkunde des Gerichts
Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit den prozessualen Voraussetzungen für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer entscheidungserheblichen Frage.

Die Klägerin nahm den Beklagten nach dem Einsetzen von Zahnimplantaten und einer Kieferbrücke auf Schadensersatz in Anspruch. Sie machte unter anderem geltend, die eingesetzte Brücke sei von ihrer Konstruktion her nicht geeignet gewesen, einen festsitzenden Zahnersatz herzustellen. Zum Beweis dafür bot sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens ein. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück, soweit es um Ersatzansprüche wegen der Zahnbrücke geht. Das OLG hat insoweit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen hat, ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass und aus welchem Grund es selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Zu einem diesbezüglichen Hinweis ist das Gericht auch dann verpflichtet, wenn es aufgrund eigener Sachkunde zu der Einschätzung gelangt, dass die Einholung eines Gutachtens nicht geeignet ist, die entscheidungsrelevante Frage zu klären.

Praxistipp: Wenn das Gericht den gebotenen Hinweis erteilt, und die Partei die Darlegungen zur eigenen Sachkunde für nicht ausreichend hält, muss sie entsprechende Rügen noch in der Berufungsinstanz erheben, um einen Rügeverlust in der Revisionsinstanz zu vermeiden.