Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit neuen Vorbringens in der Berufungsinstanz.

Neues Vorbringen im Verfahren nach § 522 Abs. 1 ZPO
Beschluss vom 24. September 2019 – VI ZB 517/18

Mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen das Berufungsgericht eine Berufung durch Beschluss als unbegründet zurückweisen darf, obwohl es die Begründung der Vorinstanz für unzutreffend hält, befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin verlangt vom beklagten Insolvenzverwalter, Schadensersatzansprüche aus der Vermittlung einer Kapitalanlage zur Insolvenztabelle festzustellen. Das LG wies die Klage als unzulässig ab. Das OLG sah die Klage als zulässig an, wies die Berufung aber dennoch gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück, weil es die Klage mangels Kausalitätsnachweis als unbegründet ansah. Ein auf Vernehmung eines Zeugen gerichtetes Beweisangebot der Klägerin zu diesem Thema wies es gemäß § 531 Abs. 2 ZPO und hilfsweise gemäß § 296 Abs.1 ZPO als verspätet zurück.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Eine Zurückweisung des Beweisangebots nach § 531 Abs. 2 ZPO ist im Streitfall schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin es bereits in der Klageschrift unterbreitet und in der Berufungsinstanz lediglich wiederholt hat. Aus diesem Grund kommt auch eine Zurückweisung nach § 296 Abs. 1 ZPO nicht in Betracht. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das Berufungsgericht den Zeugen auch dann hätte vernehmen müssen, wenn die Klägerin ihn erstmals in der Berufungsinstanz benannt hätte. Das Berufungsgericht war gehalten, die Klägerin auf seine vom Landgericht abweichende Rechtsaufassung hinzuweisen, und ihr Gelegenheit zu geben, zu dem nach Auffassung des LG nicht relevanten Thema der Kausalität ergänzende Angriffsmittel vorzubringen.

Praxistipp: Nach § 522 Abs. 3 ZPO und § 26 Nr. 8 EGZPO (ab 1.1.2020: § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO n.F.) ist eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung einer Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO nur dann zulässig, wenn der Wert der mit dem Rechtsmittel geltend zu machenden Beschwer 20.000 Euro übersteigt.

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Um die Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens geht es in dieser Woche.

Hinweis auf eigene Sachkunde des Gerichts
Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit den prozessualen Voraussetzungen für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer entscheidungserheblichen Frage.

Die Klägerin nahm den Beklagten nach dem Einsetzen von Zahnimplantaten und einer Kieferbrücke auf Schadensersatz in Anspruch. Sie machte unter anderem geltend, die eingesetzte Brücke sei von ihrer Konstruktion her nicht geeignet gewesen, einen festsitzenden Zahnersatz herzustellen. Zum Beweis dafür bot sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens ein. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück, soweit es um Ersatzansprüche wegen der Zahnbrücke geht. Das OLG hat insoweit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen hat, ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass und aus welchem Grund es selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Zu einem diesbezüglichen Hinweis ist das Gericht auch dann verpflichtet, wenn es aufgrund eigener Sachkunde zu der Einschätzung gelangt, dass die Einholung eines Gutachtens nicht geeignet ist, die entscheidungsrelevante Frage zu klären.

Praxistipp: Wenn das Gericht den gebotenen Hinweis erteilt, und die Partei die Darlegungen zur eigenen Sachkunde für nicht ausreichend hält, muss sie entsprechende Rügen noch in der Berufungsinstanz erheben, um einen Rügeverlust in der Revisionsinstanz zu vermeiden.

Montagsblog: Neues vom BGH

In Anlehnung an die sog. Montagspost beim BGH berichtet der Montagsblog regelmäßig über ausgewählte aktuelle Entscheidungen.

Zurechnung von sittenwidrigem Handeln und Vorsatz
Urteil vom 28. Juni 2016 – VI ZR 536/15

Mit grundlegenden Fragen der Haftungszurechnung nach § 31 BGB befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die beklagte Aktiengesellschaft war Mitherausgeberin eines Prospekts für einen geschlossenen Immobilienfonds. Die Kläger, die einen Fondsanteil erwarben, begehrten die Rückabwicklung ihrer Beteiligung, unter anderem mit der Begründung, im Prospekt sei ein bestehender Altlastenverdacht nicht erwähnt worden. Das LG wies die Klage ab. Das OLG verurteilte die Beklagte antragsgemäß. Es bejahte einen Ersatzanspruch der Kläger aus § 826 BGB, weil die unterlassene Aufklärung über den Altlastenverdacht verwerflich sei und die Beklagte jedenfalls das bei ihren Sachbearbeitern vorhandene Wissen gegen sich gelten lassen müsse.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Mit dem OLG ist er der Auffassung, dass der Prospekt ohne einen Hinweis auf die Altlastenproblematik fehlerhaft war. Zur Feststellung der Sittenwidrigkeit bedarf es aber zusätzlicher Umstände, etwa einer bewussten Täuschung. Dabei ist grundsätzlich nur der Kenntnisstand von Personen maßgeblich, für deren Verhalten die Beklagte gemäß § 31 BGB einzustehen hat, also von Vorständen und sonstigen verfassungsmäßig berufenen Vertretern. Ob darüber hinaus die für den rechtsgeschäftlichen Verkehr entwickelten Grundsätze über die Wissenszurechnung herangezogen werden können, lässt der BGH offen. Nicht zulässig ist jedenfalls eine „mosaikartige“ Zusammenstellung des Wissens von mehreren Mitarbeitern. Entsprechendes gilt für den gemäß § 826 BGB erforderlichen Vorsatz.

Praxistipp: Wenn ungewiss ist, ob der erforderliche Kenntnisstand für die gesetzlichen Vertreter nachgewiesen werden kann, sollte besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt werden, wer als verfassungsmäßiger Vertreter der Gesellschaft in Betracht kommt.

Wahrunterstellung einer Behauptung
Beschluss vom 23. August 2016 – VIII ZR 178/15

Mit den Voraussetzungen für die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die Beklagten hatten vom Kläger eine Vierzimmerwohnung gemietet. Ende 2012 kündigte der Kläger den Mietvertrag mit der Begründung, sei Sohn wolle die Wohnung zusammen mit einem langjährigen Freund nutzen. Die Beklagten traten der Kündigung entgegen und machten in der Berufungsinstanz unter anderem geltend, die Geltendmachung von Eigenbedarf sei nicht glaubhaft, weil der Kläger nach den Angaben seines erstinstanzlich als Zeuge vernommenen Sohnes ein halbes Jahr vor der Kündigung eine frei gewordene Wohnung im gleichen Haus anderweit vermietet habe, obwohl der Sohn des Klägers den Entschluss, einen eigenen Hausstand zu gründen, schon geraume Zeit zuvor gefasst und dies mit dem Kläger auch besprochen habe. Zum Beweis benannten die Beklagten den Freund des Sohnes. Das LG wies die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Räumungsurteil ohne weitere Beweisaufnahme zurück. Zur Begründung führte es unter anderem an, aus den glaubhaften Angaben des Sohnes ergebe sich, dass ein fester Entschluss zur Gründung eines eigenen Hausstands erst kurz vor der Kündigung gefasst worden sei; aus der Behauptung, der Sohn habe sich mit seinem Freund schon längere Zeit zuvor über etwaige Auszugsabsichten unterhalten, könnten keine abweichenden Schlussfolgerungen gezogen werden.

Der BGH verweist die Sache – die schon zum zweiten Mal in die Revisionsinstanz gelangt war – erneut an eine andere Kammer des LG zurück. Er bewertet das Absehen von einer Vernehmung des in zweiter Instanz benannten Zeugen als Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar kann eine Beweisaufnahme unterbleiben, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachenbehauptung unerheblich ist. Hierbei ist die Behauptung aber mit dem Inhalt heranzuziehen, wie die Partei sie aufgestellt hat. Im Streitfall bezieht sich der Beweisantrag nicht nur auf die Behauptung, der Sohn des Klägers habe gegenüber dessen Freund schon geraume Zeit vor der Kündigung Auszugsabsichten geäußert, sondern auch darauf, dass damals bereits ein fester Entschluss gefasst worden sei. Wenn die zuletzt genannte Behauptung zutrifft, schließt dies eine Kündigung wegen Eigenbedarfs gegenüber den Beklagten zwar nicht per se aus. Der Zeitpunkt, zu dem der Eigenbedarf entstanden ist, kann aber für Frage von Bedeutung sein, ob der Nutzungswunsch ernsthaft ist.

Praxistipp: Bei umfangreichem und komplexem Tatsachenvortrag sollte stets unmissverständlich klargestellt werden, worauf sich ein Beweisangebot im Einzelnen bezieht.