OLG Dresden: Amtlicher Vordruck beim Antrag auf Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz

Vor dem OLG Dresden (Beschl. v. 5.2.2024 – 4 U 74/24) ging es um die Frage nach der Vorlage des amtlichen Vordrucks, wenn Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Berufung beantragt wird. Grundsätzlich muss der Vordruck in zweiter Instanz (erneut) vorgelegt werden. Haben sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht geändert, darf allerdings auf einen bereits vorgelegten Vordruck Bezug genommen werden. Die Vorlage des Vordrucks bzw. die Erklärung darf bis zum Ablauf der Berufungsfrist erfolgen. Im hiesigen Fall hatte die Klägerin jedoch lediglich die Vorlage des Vordrucks in Aussicht gestellt, denselben jedoch bis zum Schluss der Instanz nicht vorgelegt.

Unter diesen Umständen hatte der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz keinen Erfolg. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Das Berufungsverfahren wird jedenfalls deswegen zum Nachteil der Klägerin ausgehen, weil dieser keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wegen des Versäumnisses der Berufungsfrist mehr bewilligt werden kann. Die Voraussetzung wäre nämlich gewesen, dass die Klägerin innerhalb der erwähnten Frist auch ihre Bedürftigkeit dargelegt hätte. Daran hat es jedoch gefehlt, weil der Vordruck nicht vorlag. Außerdem wurde nicht erklärt, dass sich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht verändert haben. Damit ist das beabsichtigte Rechtsmittel endgültig gescheitert.

Bei Prozesskostenhilfeanträgen muss man als Rechtsanwalt stets an den Vordruck denken und gegebenenfalls dem Mandanten deutlich machen, dass davon oftmals das Schicksal des Verfahrens abhängig sein kann, vor allem, wenn es um die Rechtsmittelinstanzen geht! Eine Notlösung könnte sein, das Rechtsmittel ohne Rücksicht auf die Prozesskostenhilfe einzulegen. Freilich hat der Mandant dann auch das Kostenrisiko. Immerhin könnte man den Antrag auf Prozesskostenhilfe dann noch nachschieben.

Anwaltsblog 14/2024: Aufhebung und Zurückverweisung nur bei Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme!

Mit den Voraussetzungen einer Aufhebung und das Zurückverweisung durch das Berufungsgericht an das erstinstanzliche Gericht hatte sich in einem Bauschadensersatzprozess der BGH zu befassen (BGH, Urteil vom 1. Februar 2024 – VII ZR 171/22):

 

Die Klägerin als Bestellerin begehrt von dem Beklagten als Werkunternehmer den Ersatz von Mehrkosten und Schadensersatz nach fünf Teilkündigungen eines zwischen den Parteien geschlossenen Werkvertrages über ein Kongresszentrum. Das LG hat nach Übertragung der Sache auf den Einzelrichter durch einen Beschluss, der nur von zwei Mitgliedern der Kammer unterzeichnet worden ist, der Klage bis auf einen Teil des Zinsanspruchs in voller Höhe stattgegeben. Die Berufung des Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Eine Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens an das LG komme nicht in Betracht. Zwar sei das angefochtene Urteil entgegen den gesetzlichen Vorschriften vom Einzelrichter und nicht von der Kammer gefasst worden. Der Verstoß gegen den gesetzlichen Richter sei von Amts wegen zu berücksichtigen. Er sei dadurch begründet, dass gemäß § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c ZPO grundsätzlich die Zuständigkeit der Kammer gegeben sei, hingegen der Einzelrichter entschieden habe. Zwar habe die Kammer einen Übertragungsbeschluss auf den Einzelrichter gemäß § 348a Abs. 1 ZPO gefasst. Den Beschluss hätten aber nur zwei von drei Kammermitgliedern unterschrieben. Der Übertragungsbeschluss sei aus diesem Grund nicht wirksam geworden. Eine Zurückverweisung der Sache an das LG komme nicht in Betracht, weil das Verfahren entscheidungsreif sei.

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht war befugt, in der Sache selbst zu entscheiden. Es kann dahinstehen, ob die Zivilkammer des LG wirksam einen Beschluss gemäß § 348a Abs. 1 ZPO gefasst hat, mit dem der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden ist. Allerdings war nach § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c ZPO die Kammer zur Entscheidung berufen, weil es sich um eine Streitigkeit aus einem Bauvertrag handelte, für die nach § 72a Abs. 1 Nr. 2 GVG Spezialkammern bei den Landgerichten bestehen. Gemäß § 348a Abs. 1 ZPO kann die Zuständigkeit des Einzelrichters begründet werden, wenn die Kammer die Sache durch Beschluss auf den Einzelrichter überträgt. Eine Beschlussfassung gemäß § 348a Abs. 1 ZPO setzt indes eine entsprechende interne Willensbildung der vollbesetzten Zivilkammer voraus, deren Vorliegen vom Gericht von Amts wegen zu prüfen ist. Diese Prüfung hat das Berufungsgericht nicht hinreichend vorgenommen. Aus dem bei den Akten befindlichen schriftlichen Originalbeschluss, auf dem sich lediglich die Unterschriften der Vorsitzenden der Kammer und eines Beisitzers befinden, geht nicht ohne weiteres hervor, ob dem Beschluss eine entsprechende Willensbildung der vollbesetzten Zivilkammer zugrunde lag. Selbst wenn unterstellt wird, dass mangels wirksamer Übertragung der Sache auf den Einzelrichter die angefochtene Entscheidung des Landgerichts nicht von dem gesetzlich zur Entscheidung berufenen Richter getroffen worden ist (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), war eine Zurückverweisung der Sache an das LG nicht geboten. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO lässt im Falle eines in der ersten Instanz unterlaufenen Verfahrensfehlers, zu dem auch die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts zählt, eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht grundsätzlich nur dann zu, wenn aufgrund des Verfahrensmangels außerdem eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein in erster Instanz unterlaufener Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zwingt allerdings ausnahmsweise – ungeachtet der weiteren in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO genannten Voraussetzungen – dann zur Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht, wenn das erstinstanzliche Verfahren überhaupt keine Grundlage für das Berufungsverfahren darstellen kann. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht schon mit Blick auf § 547 Nr. 1 ZPO vor, weil erkennendes Gericht dieser Vorschrift nur das Berufungsgericht ist, dessen Entscheidung mit der Revision angegriffen wird.

Nach diesen Maßstäben war eine Zurückverweisung der Sache durch das OLG an das LG gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nicht geboten. Zu Recht hat das OLG angenommen, die Voraussetzung für eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO, dass aufgrund des Verfahrensfehlers eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme erforderlich sei, liege nicht vor; der Rechtsstreit sei vielmehr zur Entscheidung reif. Das OLG selbst, das durch drei seiner Mitglieder entschieden hat, war bei der angefochtenen Entscheidung vorschriftsmäßig besetzt. Da es eine eigene Sachentscheidung unter Würdigung der vom LG getroffenen tatsächlichen Feststellungen getroffen und sich nicht lediglich auf die Übernahme der Feststellungen des Einzelrichters beim LG beschränkt hat, ist das Berufungsurteil auch nicht durch eine etwaige fehlerhafte Besetzung des LG beeinflusst worden.

Das OLG war aufgrund der vom LG getroffenen Feststellungen in der Lage, unter selbständiger Würdigung der festgestellten Tatsachen eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Die Zurückverweisung an das Erstgericht soll nach der Konzeption des Gesetzgebers ein Ausnahmefall bleiben. Das Berufungsgericht hat nach § 538 Abs. 1 ZPO grundsätzlich die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Die Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung an das Gericht erster Instanz ist deshalb für den Fall, dass das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO), nur geboten, wenn eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme durch oder infolge der Korrektur des wesentlichen Verfahrensmangels zu erwarten ist, in deren Folge die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz ausnahmsweise zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht

 

Fazit: Im Falle eines in der ersten Instanz unterlaufenen Verfahrensfehlers, zu dem auch die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts zählt, ist eine Zurückverweisung der Sache grundsätzlich nur dann zulässig, wenn aufgrund des Verfahrensmangels außerdem eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit einer Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil.

Fernbleiben vom Termin nach Verlegungsantrag und Ablehnungsgesuch
BGH, Beschluss vom 8. Februar 2024 – V ZB 53/23

Der V. Zivilsenat befasst sich mit den Sorgfaltspflichten im Vorfeld eines Einspruchstermins.

Die Klägerin begehrt eine Löschungsbewilligung. Das AG hat gegen den Beklagten antragsgemäß ein Versäumnisurteil erlassen. Der Beklagte hat Einspruch eingelegt.

Fünf Tage vor der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte die Verlegung des Termins wegen fehlender Akteneinsicht begehrt. Mit einem unmittelbar vor Verhandlungsbeginn eingegangenen Schreiben hat er den zuständigen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das AG hat den Einspruch durch den abgelehnten Richter durch Versäumnisurteil verworfen. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Das LG hat die Berufung zu Recht als gemäß § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO unzulässig angesehen, weil der Beklagte in seiner Berufungsbegründung einen Fall der fehlenden oder schuldlosen Säumnis nicht dargelegt hat.

Der Beklagte durfte sich nicht darauf verlassen, dass sein unmittelbar vor dem Termin eingereichtes Ablehnungsgesuch dem abgelehnten Richter vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegt wird. Deshalb war er gehalten, vorsorglich zum Termin zu erscheinen und sein Ablehnungsgesuch ggf. zu wiederholen.

Unabhängig davon reicht die Rüge, ein vor dem Termin gestelltes Ablehnungsgesuch sei fehlerhaft behandelt worden, zur Darlegung fehlender oder unverschuldeter Säumnis im Sinne von § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht aus. Entsprechendes gilt für die Rüge, durch die Nichtgewährung von Akteneinsicht vor der mündlichen Verhandlung sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

Praxistipp: Bei einem Ablehnungsgesuch während der mündlichen Verhandlung kann der Termin gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 ZPO unter Mitwirkung des abgelehnten Richters fortgesetzt werden, wenn anderenfalls eine Vertagung erforderlich wäre.

Anwaltsblog 13/2024: Qualifizierte Signatur eines bestimmenden Schriftsatzes muss nicht vom Verfasser stammen!

Ob die Einreichung einer Berufungsbegründung wirksam war, die vom verfassenden Rechtsanwalt einfach signiert (unterschrieben) und von einem anderen Rechtsanwalt der Sozietät qualifiziert signiert und über dessen beA eingereicht worden ist, ohne den Zusatz „für“ beim Namen des Verfassers aufzuweisen, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 28. Februar 2024 – IX ZB 30/23):

 

In einem Anwaltshaftungsprozess hat das Amtsgericht der Klage stattgegeben. Mit der Berufung legitimierte sich für den beklagten Rechtsanwalt die Rechtsanwaltssozietät G., der der Beklagte selbst angehört. Am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist ist eine Berufungsbegründung als elektronisches Dokument beim Landgericht eingegangen. Der Schriftsatz schließt mit dem maschinenschriftlich eingefügten Namen des Beklagten und dem Zusatz „Rechtsanwalt“ ab. Zudem ist er mit der qualifizierten elektronischen Signatur des ebenfalls der Sozietät des Beklagten angehörenden Rechtsanwalts J. versehen, über dessen beA der Schriftsatz übermittelt wurde.

Nachdem das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hatte, hat die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Der Beklagte hat seine Berufung wirksam unter Beachtung der Anforderungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 Fall 1 ZPO begründet. Gemäß § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO muss das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Die Bestimmung stellt damit zwei Wege zur rechtswirksamen Übermittlung von elektronischen Dokumenten zur Verfügung. Zum einen kann der Rechtsanwalt den Schriftsatz mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Zum anderen kann er auch nur einfach signieren, muss den Schriftsatz aber sodann selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 4 ZPO einreichen. Die einfache Signatur hat in dem zuletzt genannten Fall die Funktion zu dokumentieren, dass die durch den sicheren Übermittlungsweg als Absender ausgewiesene Person mit der die Verantwortung für das elektronische Dokument übernehmenden Person identisch ist. Wird der Schriftsatz hingegen mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, entsprechen deren Rechtswirkungen unmittelbar denen einer handschriftlichen Unterschrift des Rechtsanwalts gemäß § 130 Nr. 6 ZPO. Durch die Einreichung eines elektronischen Dokuments mit der qualifizierten Signatur eines Rechtsanwalts übernimmt dieser mithin nicht anders als bei einer handschriftlichen Unterzeichnung eines Schriftsatzes die Verantwortung für dessen Inhalt und ist daher verantwortende Person iSv. § 130a Abs. 3 Fall 1 ZPO.

Dem steht nicht entgegen, dass das elektronische Dokument am Schluss seiner Ausführungen den Namen eines anderen Rechtsanwalts als Verfasser nennt. Für einen unterzeichnenden Rechtsanwalt versteht es sich im Zweifel von selbst, mit seiner Unterschrift zugleich auch eine entsprechende Verantwortung für den bestimmenden Schriftsatz zu übernehmen. Bei Unterzeichnung eines mit dem maschinenschriftlichen Namen seines Verfassers abschließenden Schriftsatzes durch einen anderen von der Partei bevollmächtigten Rechtsanwalt bedarf es auch keines klarstellenden Zusatzes, wie etwa der Verwendung des Worts „für“. Denn bereits dem Umstand der Unterzeichnung des Schriftsatzes durch einen anderen Rechtsanwalt an sich lässt sich entnehmen, dass er an Stelle des Verfassers die Unterschrift leisten und damit als weiterer Hauptbevollmächtigter oder Unterbevollmächtigter der Partei auftreten wollte. Die qualifizierte elektronische Signatur entspricht der Unterschrift des Rechtsanwalts. Der Rechtsanwalt, der das zuvor von einem anderen verfasste elektronische Dokument, das auch mit dessen Namen und Berufsbezeichnung abschließt, qualifiziert elektronisch signiert, bringt wie mit seiner eigenhändigen Unterschrift ohne weitere Voraussetzungen im Zweifel seinen unbedingten Willen zum Ausdruck, mit seiner qualifizierten elektronischen Signatur auch eine entsprechende Verantwortung für einen bestimmenden Schriftsatz zu übernehmen und dessen Inhalt zu verantworten und den Mandanten als weiterer Hauptbevollmächtigter oder zumindest als Unterbevollmächtigter in Wahrnehmung des Mandats zu vertreten. Auch insoweit bedarf es daher keines klarstellenden Zusatzes eines Vertretungsverhältnisses, insbesondere nicht der Verwendung des Worts „für“.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Rechtsanwalt J. als sozietätsangehöriger und somit von dem Beklagten bevollmächtigter Rechtsanwalt diesen mit Anbringung seiner qualifizierten elektronischen Signatur hat vertreten wollen. Damit hat Rechtsanwalt J. zugleich iSv. § 130a Abs. 3 Satz 1 Fall 1 ZPO die Verantwortung für den Inhalt des von seinem Kollegen verfassten und von diesem nur einfach signierten Berufungsbegründungsschriftsatz übernommen.

 

Fazit: Signiert ein Mitglied einer Anwaltssozietät einen Schriftsatz, den ein anderes Mitglied der Anwaltssozietät verfasst und einfach elektronisch signiert hat, in qualifiziert elektronischer Form und reicht diesen Schriftsatz über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach bei Gericht ein, ist dies wirksam. Eines klarstellenden Zusatzes („für“) bei der einfachen Signatur des Schriftsatzverfassers bedarf es nicht.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Präklusion von Vorbringen in der Berufungsinstanz.

Zustellung eines Versäumnisurteils
BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 65/23

Der XII. Zivilsenat befasst sich mit dem Anwendungsbereich von § 531 Abs. 2 ZPO.

Die Kläger nehmen den Beklagten nach dem Scheitern der Übernahme einer Gaststätte auf Rückzahlung von 60.000 Euro in Anspruch. Das LG hat gegen den Beklagten antragsgemäß ein Versäumnisurteil erlassen. Dieses wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde am 14.5.2022 zugestellt. Das LG hat den am 1.6.2022 eingelegten Einspruch des Beklagten wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Das OLG hat die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Das OLG durfte den zweitinstanzlichen Vortrag des Beklagten, wonach das Versäumnisurteil entgegen den Angaben in der Zustellungsurkunde nicht in seinen Briefkasten eingeworfen wurde, sondern in den Briefkasten einer in demselben Haus wohnenden Person gleichen Nachnamens, nicht gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unberücksichtigt lassen.

Die ordnungsgemäße Zustellung eines Versäumnisurteils ist von Amts wegen zu prüfen. Diesbezügliches Vorbringen darf nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückgewiesen werden.

Das OLG wird nach Zurückverweisung zu klären haben, ob das Versäumnisurteil an dem in der Zustellungsurkunde angegebenen Tag in den Briefkasten des Beklagten eingeworfen wurde. Hierbei wird es sich mit der Frage zu befassen haben, ob die Beweiskraft der Zustellungsurkunde dadurch beeinträchtigt ist, dass der Vorname des Beklagten darin nicht vollständig angegeben ist.

Praxistipp: Eine Postzustellungsurkunde erbringt nach § 415 ZPO vollen Beweis für die darin angegebenen Zustellungshandlungen. Die Beweiskraft einer solchen Urkunde kann aber gemindert sein, wenn die darin enthaltenen Angaben unvollständig, unklar oder unstimmig sind.

BGH: Erforderlicher Vortrag bei unverschuldeter Säumnis

Der BGH (Beschl. v. 24.1.2024 – XII ZB 171/23, MDR 2024, 517) hatte in einer Familiensache, in der ein zweiter Versäumnisbeschluss ergangen, da die Rechtsanwältin der Antragsgegnerin (erneut) nicht zum Termin erschienen war, zu entscheiden. Gegen diesen Versäumnisbeschluss wurde mit der Begründung Beschwerde eingelegt, die Säumnis sei unverschuldet gewesen. Insoweit behauptete die Rechtsanwältin Folgendes: Um 7.15 Uhr sei sie von Berlin nach Frankfurt (Oder) gefahren, um dort den auf 10:00 Uhr bestimmten Termin wahrzunehmen. Während der Fahrt habe sie unvermittelt „schubweise schwere krampfhafte Zustände“ mit Brechreiz und Durchfall bekommen und deshalb die Fahrt unterbrechen müssen. Mehrfach Versuche, das Gericht vor 10:00 Uhr telefonisch zu erreichen, wären nicht erfolgreich gewesen. Auch die Kanzleimitarbeiterin habe „zwischenzeitlich“ mehrfach vergeblich versucht, das Gericht anzurufen. Die Rechtsanwältin habe dann einen Arzt aufgesucht. Der Versäumnisbeschluss erging um 10:55 Uhr. Danach erreichte die Kanzleimitarbeiterin die Richterin.

Das OLG sah keine unverschuldete Säumnis und wies die Beschwerde zurück. Der BGH folgt dem und ließ die Rechtsbeschwerde deshalb nicht zu, sondern verwarf sie. Die Beurteilung der Verschuldensfrage im hiesigen Zusammenhang entspricht derjenigen bei der Wiedereinsetzung. Es muss daher die unverschuldete Säumnis schlüssig dargelegt werden, und zwar innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist. In Fällen wie diesem gilt, dass der Rechtsanwalt alles Mögliche und Zumutbare tun muss, um dem Gericht seine Verhinderung mitzuteilen. Insoweit ist der Vortrag der Rechtsanwältin nicht hinreichend substantiiert. Es fehlen die konkreten Angaben zum Ablauf der Fahrt. Außerdem wurde nicht genau mitgeteilt, wie oft und wann genau die Rechtsanwältin unter welcher Rufnummer versucht haben will, das Gericht zu erreichen. Die bloße Behauptung mehrerer Kontaktversuche mit Geschäftsstelle und Telefonzentrale ist zu pauschal. Da die Rechtsanwältin die Fahrt schon um 9.00 Uhr unterbrochen hatte, wäre eine Kontaktaufnahme kurz vor 10:00 Uhr z. B. schon sorgfaltswidrig zu spät gewesen.

Der BGH ist bezüglich des normalen Prozessstoffs bei der Frage nach der ausreichenden Substanziierung von Behauptungen oftmals sehr großzügig. Letztlich reicht es oft, einfach eine Behauptung aufzustellen, weitere Erläuterungen dazu werden für entbehrlich gehalten. Im Rahmen von Verschuldensprüfungen und bei Wiedereinsetzungsproblemen ist dies jedoch – wie gesehen – nicht der Fall. Hier muss klar Farbe bekannt und ausführlich und nachvollziehbar dargelegt werden. Und: Wenn die für die Begründung eines Rechtsmittels eingeräumten Fristen abgelaufen sind, kann im Regelfall nichts mehr nachgeschoben werden. Derartigen Anträgen muss daher immer besondere Sorgfalt gewidmet werden! Befindet man sich selbst in einer solchen Situation, sollte man vorsichtshalber stets sogleich dokumentieren, welche Versuche man unternommen hat, um das Gericht zu erreichen.

Anwaltsblog 12/2024: Nur eingeschränktes Rechtsmittel gegen zweites Versäumnisurteil!

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur statthaft, wenn sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Mit den Voraussetzungen einer unverschuldeten Säumnis musste sich der BGH befassen (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2024 – VIII ZB 47/23):

 

Auf den Einspruch des Klägers gegen ein Versäumnisurteil hatte das Landgericht Aachen Termin auf den 9. Dezember 2022, 13.00 Uhr bestimmt. Zu diesem Termin ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers bis um 13.20 Uhr nicht erschienen, sondern hat über seine Kanzlei mitteilen lassen, er befinde sich derzeit noch „im Gerichtsgebäude in Essen“ und werde nicht vor 14.30 Uhr zu dem Einspruchstermin erscheinen. Daraufhin hat das LG den Einspruch des Klägers durch zweites Versäumnisurteil als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Einer der Rechtsanwälte der aus drei Mitgliedern bestehenden Sozietät habe an dem Sitzungstag einen unaufschiebbaren Termin gegen 12.00 Uhr vor dem Amtsgericht Marl wahrgenommen. Aufgrund der unerwarteten Erkrankung eines weiteren Mitglieds der Sozietät habe der dritte Sozietätskollege vertretungsweise zwei auf 11.00 Uhr und 11.15 Uhr anberaumte Termine in Essen vor dem dortigen LG und dem AG wahrnehmen müssen. Nachdem der erste vorgenannte Termin, in dem lediglich Anträge hätten gestellt werden sollen, aus unvorhergesehenen Gründen bis 11.30 Uhr gedauert habe, habe der vorgenannte, in Essen befindliche Rechtsanwalt sein Büro gebeten, das LG Aachen über seine voraussichtliche Verspätung zu informieren und gegebenenfalls um eine Verlegung des dortigen Termins zu ersuchen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Prozessbevollmächtigte davon ausgegangen, dass der zweite Termin in Essen nicht länger als 20 Minuten dauern und er bei einer Fahrtzeit von Essen nach Aachen von circa eineinviertel Stunden allenfalls mit einer Verspätung von 15 Minuten nach Terminsaufruf vor dem LG Aachen erscheinen werde. Vollkommen überraschend und unvorhersehbar sei die zweite Sitzung in Essen jedoch erst um circa 13.00 Uhr beendet worden.

Das OLG hat die Berufung als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zu einer unverschuldeten Säumnis im Einspruchstermin nicht schlüssig vorgetragen, so dass die Berufung unzulässig sei. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe nicht ausreichend dargelegt, aus seiner Sicht alles Erforderliche und Zumutbare unternommen zu haben, um den Termin vor dem Landgericht wahrnehmen zu können.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen hat (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Kläger hat nicht schlüssig dargetan, dass sein Prozessbevollmächtigter den Einspruchstermin am 9. Dezember 2022 ohne ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden versäumt hat. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers war nicht ohne Verschulden gehindert war, an der Sitzung vor dem Landgericht in Aachen am 9. Dezember 2022 teilzunehmen. Die Säumnis war nicht aufgrund der Wahrnehmung von Gerichtsterminen in Essen für den erkrankten Sozietätskollegen unverschuldet. Der Kläger hat in der Berufungsbegründung weder schlüssig dargelegt, dass sein Prozessbevollmächtigter „überraschend und unvorhersehbar“ aufgrund der Dauer des erst um 11.30 Uhr beginnenden Termins vor dem AG Essen bis um 13.00 Uhr an der Wahrnehmung des Einspruchstermins in Aachen gehindert gewesen sei, noch, dass wegen einer (absehbaren) Kollision des zweiten in Essen anberaumten Verhandlungstermins mit dem Einspruchstermin der zuletzt genannte Termin hätte verlegt werden müssen. Eine Terminsverlegung oder -vertagung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird.

Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon zu Beginn der zweiten Verhandlung in Essen um 11.30 Uhr nicht mehr von einer rechtzeitigen Ankunft beim LG Aachen ausgehen durfte. Denn der Prozessbevollmächtigte konnte weder von einem pünktlichen Beginn der Sitzung vor dem AG Essen um 11.15 Uhr noch von einer maximal 20minütigen Dauer der dortigen Verhandlung sicher ausgehen. Denn der zeitliche Verlauf einer Sitzung lässt sich – wie der tatsächliche Beginn der Sitzung um 11.30 Uhr und deren Dauer von anderthalb Stunden zeigen – erfahrungsgemäß grundsätzlich nicht zuverlässig voraussagen. Ein Prozessbevollmächtigter muss daher bei seiner Zeitplanung einkalkulieren, dass ein Sitzungstermin eine gewisse, im Voraus nicht sicher absehbare Zeit in Anspruch nehmen wird. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers musste deshalb nicht nur einen späteren Beginn der zweiten Sitzung in Essen – von hier lediglich einer Viertelstunde -, sondern auch eine längere Verhandlungsdauer vorsorglich einplanen. Für ihn war deshalb spätestens um 11.30 Uhr absehbar, dass er schon bei einer (einzukalkulierenden) geringfügigen Überschreitung der von ihm angesetzten Verhandlungsdauer selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Wartezeit von etwa 15 Minuten nach Aufruf der Sache vor dem LG Aachen nicht mehr rechtzeitig in dem Einspruchstermin würde erscheinen können. Allein mit dem späteren Beginn und der tatsächlichen Dauer der Verhandlung vor dem AG Essen konnte der Prozessbevollmächtigte deshalb sein Fernbleiben in dem Einspruchstermin nicht entschuldigen.

Das Landgericht war auch nicht gehalten, den Einspruchstermin wegen der (absehbaren) Kollision mit dem Verhandlungstermin in Essen auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu verlegen. Die Verhinderung des Prozessbevollmächtigten einer Partei aufgrund eines bereits zuvor anberaumten kollidierenden Verhandlungstermins kann einen erheblichen Grund für eine Terminsverlegung darstellen. Eine Kollision setzt voraus, dass die Wahrnehmung beider Termine zeitlich nicht möglich ist. In die Entscheidung über die Terminsverlegung sind alle Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls einzubeziehen, beispielsweise die Art des kollidierenden Gerichtstermins und des Zeitpunkts seiner Bestimmung, die Besonderheiten der Mandatsbeziehung, die Möglichkeit, den kollidierenden Termin zu verlegen oder einen der Termine durch einen Vertreter wahrnehmen zu lassen. Ausnahmsweise kann auch ein später anberaumter Termin Vorrang vor einem früher bestimmten Termin genießen, etwa wenn ein Verhandlungstermin bereits verlegt worden ist, prozessuale Gründe die Durchführung dieses Termins gebieten, es sich um einen Termin zur Durchführung einer aufwendigen Beweisaufnahme oder ein besonders eilbedürftiges Verfahren handelt. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger bereits einen erheblichen Grund iSv. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO für die Verlegung des Einspruchstermins in Aachen nicht schlüssig dargelegt. Das Berufungsgericht hat deshalb jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, dass eine Verlegung des Einspruchstermins aufgrund des von dem Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalts nicht in Betracht kam.

Es kommt vor diesem Hintergrund auch nicht darauf an, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers schon um 11.30 Uhr seine Mitarbeiter gebeten hat, das Landgericht in Aachen über seine voraussichtliche Verspätung aufgrund des Gerichtstermins in Essen zu informieren und um eine Terminsverlegung zu ersuchen. Das Berufungsgericht hat diesen Vortrag zu Recht als unerheblich angesehen. Es hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte nicht darauf vertrauen durfte, seinem (behaupteten) Verlegungsantrag werde entsprochen. Denn (allein) der von einer Partei gestellte Antrag auf Verlegung eines Verhandlungstermins – ohne Darlegung eines erheblichen Grunds – entschuldigt eine Versäumnis nach § 337 ZPO nicht, weil die Termine zur mündlichen Verhandlung der Parteidisposition entzogen sind.

 

Fazit: Eine Terminsverlegung setzt voraus, dass ein erheblicher Grund vorliegt und dieser glaubhaft gemacht wird. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob es bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Verhandlung verlegt, nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch beider Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen. Erhebliche Gründe iSv. § 227 Abs. 1 ZPO sind regelmäßig solche, die zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebots erfordern. Liegen solche Gründe vor, verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Rechtspflicht, den Termin zu verlegen, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Einem Antrag auf Terminsverlegung oder -vertagung ist daher regelmäßig aufgrund Vorliegens eines erheblichen Grunds stattzugeben.

Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen?

Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Wann das Berufungsgericht ausnahmsweise unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen darf, weil das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Februar 2024 – VII ZR 42/22):

 

Die Klägerin hatte für die Beklagte 1.600 Haushalte mit Glasfaserkabeln erschlossen. Ihre Schlussrechnung von rund sechs Mio. € hat die Beklagte bis auf einen Betrag von 284.013,78 € ausgeglichen, den sie als Vertragsstrafe geltend macht. Diesen Betrag klagt die Klägerin ein. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Eine Vertragsstrafe sei nicht vereinbart, weil das ursprüngliche Angebot der Klägerin, das die AGB der Beklagten mit der Vertragsstrafenklausel einbeschloss, durch anschließende Verhandlungen der Parteien erloschen sei. Der dann geschlossene Vertrag enthalte keine Bezugnahme auf die AGB. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das  Landgericht sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten zu der Annahme gelangt, dass die Vertragsstrafe nicht vereinbart worden sei. Soweit es angenommen habe, das ursprüngliche Angebot der Klägerin sei erloschen, habe das Landgericht Vortrag der Beklagten übergangen, wonach die Klägerin bis zum Ablauf der Zuschlagsfrist (= Bindefrist) an ihr Angebot gebunden gewesen sei. Das Landgericht habe zudem Vortrag der Beklagten zu den Vertragsverhandlungen nicht berücksichtigt.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen. Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung sein kann. Ob ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn dieser verfehlt ist oder das Berufungsgericht ihn für verfehlt erachtet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Verfahrensfehler des Landgerichts nicht bejaht werden. Das Berufungsgericht hat die Frage, ob dem Landgericht ein wesentlicher Verfahrensfehler in Form eines Gehörsverstoßes unterlaufen ist, rechtsfehlerhaft nicht aufgrund des allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Standpunkts des Landgerichts beantwortet, sondern seinen eigenen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt zugrunde gelegt.

Zwar kann es einen schweren Verfahrensfehler iSd. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO darstellen, wenn das erstinstanzliche Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es den Kern ihres Vorbringens verkennt und daher eine entscheidungserhebliche Frage verfehlt. Das ist hingegen nicht der Fall, wenn es die sachlich-rechtliche Relevanz eines Parteivorbringens verkennt und ihm deshalb keine Bedeutung beimisst. Ein Verfahrensfehler liegt daher nicht vor, wenn das erstinstanzliche Gericht das Parteivorbringen lediglich unter einem sachlich-rechtlich fehlerhaften Gesichtspunkt gewürdigt oder deshalb nicht weiter erörtert hat, weil es hierauf nach seinem materiell-rechtlichen (möglicherweise unrichtigen) Standpunkt nicht ankommt. Bei einer Vertragsauslegung kann ein Verfahrensfehler nur angenommen werden, wenn das Gericht die Vertragsbestimmungen nicht lediglich inhaltlich unzutreffend würdigt, sondern erkennbar vertragliche Regelungen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder sprachlich falsch versteht. Das Landgericht hat bei der Vertragsauslegung keinen wesentlichen Vortrag der Beklagten übergangen oder den Kern ihres Vorbringens verkannt. Es hat festgestellt, dass die AGB der Beklagten Gegenstand der Ausschreibung waren und das Angebot der Klägerin vom 23. März 2016 auf diese Vertragsbestimmungen Bezug genommen hat. Ob und in welchem Umfang dieses Angebot Bestandteil des Vertrags geworden ist, ist nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, wobei allerdings die tatsächlichen Umstände der Vertragsverhandlungen der Parteien zu berücksichtigen sind. Soweit das Berufungsgericht einen Gehörsverstoß in der fehlenden Berücksichtigung der Annahmefrist (Bindefrist) sieht, war dieser Gesichtspunkt für die Entscheidung des Landgerichts nicht erheblich. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hat die Beklagte durch das Schreiben vom 1. Juni 2016 nur das Angebot vom 20. April 2016 angenommen und damit konkludent das Angebot vom 23. März 2016 abgelehnt. Deshalb kam es nach der Rechtsansicht des Landgerichts auf die in Ziffer 4 enthaltene Bindefrist wegen Erlöschen des Antrags gemäß § 146 BGB nicht an. Es bedurfte nach der Rechtsansicht des Landgerichts auch deshalb keiner Beweisaufnahme zu den Ursachen der verzögerten Erbringung der Werkleistungen, weil das Landgericht in seiner Hilfsbegründung die Vertragsklausel über die Vereinbarung der Vertragsstrafe gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB für unwirksam erachtet hat. Soweit das Berufungsgericht hierzu eine andere Rechtsansicht vertritt, kann dies keinen Verfahrensfehler des Landgerichts begründen.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen unabhängig davon nicht erkennen, dass es das ihm in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO eingeräumte Ermessen, eine eigene Sachentscheidung zu treffen oder ausnahmsweise den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen, pflichtgemäß ausgeübt hat. Das Berufungsgericht hat weder in Erwägung gezogen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits führt, was den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann, noch hat es nachprüfbar dargelegt, dass die aus seiner Sicht durchzuführende Beweisaufnahme so aufwändig und umfangreich ist, dass eine Zurückverweisung an das Landgericht ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint. Das angefochtene Urteil hat daher keinen Bestand und ist aufzuheben.

 

Fazit: § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist eine Ausnahmeregelung, die den Grundsatz der Prozessbeschleunigung durchbricht, wenn die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers erfolgt und noch eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist. Das Berufungsgericht ist gehalten, nachprüfbar darzulegen, inwieweit eine noch ausstehende Beweisaufnahme so aufwendig oder umfangreich ist, dass es gerechtfertigt ist, die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen. Dabei hat es in Erwägung zu ziehen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer weiteren Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits und zu weiteren Nachteilen führt und dies den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann. Die Aufhebung und Zurückverweisung wegen einer noch durchzuführenden Beweisaufnahme wird deshalb auf wenige Ausnahmefälle beschränkt sein, in denen die Durchführung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu noch größeren Nachteilen führen würde als die Zurückverweisung der Sache an das erstinstanzliche Gericht (BGH, Versäumnisurteil vom 16. Dezember 2004 – VII ZR 270/03 –, MDR 2005, 645).

Blog powered by Zöller: Ein geplanter § 102 ZPO und neue Fragen

Der Referentenentwurf des Gesetzes zur Änderung des Zuständigkeitswerts der Amtsgerichte, zum Ausbau der Spezialisierung der Justiz in Zivilsachen sowie zur Änderung weiterer prozessualer Regelungen füllt unter anderem eine Leerstelle in der ZPO. § 102 ZPO soll einen Text bekommen.

Hintergrund ist eine seit langem bekannte Frage: die Abstimmung von Streitwert und Kostenentscheidung (siehe Zöller, ZPO, 35. Auflage, § 91 ZPO Rn. 13.20; § 319 ZPO Rn. 31): Wenn beide Parteien teils obsiegen/teils unterliegen, werden die Kosten des Rechtsstreits nämlich in aller Regel am Streitwert orientiert gequotelt (§ 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ZPO). Wird dann nachträglich der Streitwert geändert, wird die ursprüngliche Quotelung zwangsläufig falsch.

Das kann man mit gutem Grund als ungerecht und korrekturbedürftig ansehen. Der BGH hat aber entschieden, nach geltendem Recht sei das Ergebnis hinzunehmen, indem er eine planwidrige Regelungslücke verneint und deshalb eine Berichtigung analog § 319 ZPO ablehnt (BGH v. 30.7.2008 – II ZB 40/07, MDR 2008, 1292; BGH v. 17.11.2015 – II ZB 20/14, NJW 2016, 1021). Hier schafft § 102 ZPO-E Abhilfe. Wird die Wertfestsetzung geändert, kann das Gericht seine getroffene Kostenentscheidung von Amts wegen ändern (§ 102 Abs. 1 Satz 1 ZPO-E), also dem neuen Wert anpassen. Und ist die Rechtslage dann wieder in sich stimmig?

1. Diese neue Kostenentscheidung ist unanfechtbar (§ 102 Abs. 3 Satz 1 ZPO-E). Das wird im Entwurf (dort Seite 22) damit erklärt, dass die zu ändernde Kostenentscheidung im Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung des Gerichts ihrerseits nicht isoliert angefochten werden konnte; auf § 99 Abs. 1 ZPO wird dabei hingewiesen. Nun hat § 99 ZPO aber auch einen Absatz 2, der mit seinem Satz 1 den Beschwerdeweg eröffnet.

Beispiel: Der Kläger verlangt zwei Gegenstände heraus; Wert der Sache 1: 2.500 Euro, der Sache 2: 7.500 Euro. Er obsiegt voll; von den Kosten muss der Beklagte 25 % tragen (§ 91 ZPO, betr. Sache 1), der Kläger wegen eines sofortigen Anerkenntnisses des Beklagten 75 % (§ 93 ZPO, betr. Sache 2). Der Kläger kann (die übrigen Voraussetzungen unterstellt) Beschwerde einlegen. – Nun wird der Wert der Sache 2 auf 10.000 Euro erhöht. Die Kostenentscheidung wird angepasst. Der Kläger muss 80 % tragen und eine Beschwerde dagegen ist jetzt nicht mehr möglich. Warum?

2. Die Änderung der Kostenentscheidung hat keine Änderung der übrigen Teile des Urteils oder des Beschlusses zur Folge (§ 102 Abs. 2 Satz 4 ZPO-E). Im Entwurf (dort Seite 22) wird dies als klarstellend bezeichnet.

Auch hier ein Beispiel: Bei einem Streitwert X werden dem Kläger 75 % der Kosten auferlegt. Dem Beklagten sind Kosten in Höhe von 1.600 Euro entstanden, von denen er also 1.200 Euro in die vorläufige Vollstreckung geben kann ohne Sicherheit leisten zu müssen. Der Ausspruch im Urteil folgt aus § 708 Nr. 11 Alt. 2 ZPO, § 711 Satz 1 ZPO. – Nun wird der Streitwert auf X-Plus erhöht und die Kostenlast des Klägers anschließend auf 80 %. Jetzt sind dem Beklagte wegen des höheren Streitwerts Anwaltskosten in Höhe von 2.000 Euro entstanden; vollstrecken kann er davon 1.600 Euro. Für den Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit wäre jetzt § 709 ZPO zuständig, der Beklagte müsste vor der Vollstreckung Sicherheit leisten. Die jetzt nicht mehr einschlägigen §§ 708, 711 ZPO sollen aber weiter gelten. Warum?

Ergebnis: § 102 ZPO-E beantwortet eine Frage, stellt aber (mindestens) zwei neue.

Mehr – auch zum Kostenrecht – im neuen Zöller, 35. Auflage.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es erneut um Fallstricke des elektronischen Rechtsverkehrs.

Beweiskraft eines elektronischen Empfangsbekenntnisses
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit den Wirkungen eines elektronischen Empfangsbekenntnisses in der Form eines strukturierten Datensatzes im Sinne von § 173 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

Der Kläger macht Gewährleistungsrechte wegen mangelhaften Einbaus einer Fußbodenheizung geltend. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat zwei Anträge auf Wiedereinsetzung nach Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung zurückgewiesen und die Berufung des Klägers mangels rechtzeitiger Begründung als unzulässig verworfen.

Der BGH verwirft die Rechtsbeschwerde des Klägers wegen nicht rechtzeitiger Einlegung als unzulässig.

Ausweislich des vom zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers übermittelten Empfangsbekenntnisses ist die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts am 12.6.2023 zugestellt worden. Die am 13.7.2023 eingelegte Rechtsbeschwerde ist deshalb verspätet.

Dass der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis erst am 13.6.2023 an das OLG übermittelt hat, ist unerheblich. Maßgeblich für das Datum der Zustellung ist nicht der Tag, an dem das Empfangsbekenntnis versandt wird, sondern der im Empfangsbekenntnis angegebene Tag der Entgegennahme des zuzustellenden Dokuments. Dies gilt auch bei einem Empfangsbekenntnis in Form eines strukturierten Datensatzes im Sinne von § 173 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

Wie ein Empfangsbekenntnis, das auf Papier oder als elektronisches (PDF‑)Dokument im Sinne von § 130a ZPO abgegeben wird, erbringt auch ein Empfangsbekenntnis in der Form eines strukturierten Datensatzes vollen Beweis für die Zustellung des Dokuments am darin angegebenen Tag. Der Kläger hat diesen Beweis nicht entkräftet, sondern lediglich eine abweichende Rechtsauffassung vertreten.

Praxistipp: Um die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung offenzuhalten, sollten die schriftlichen Organisationsanweisungen einer Anwaltskanzlei vorsehen, dass Rechtsmittelfristen auch bei einem elektronischen Empfangsbekenntnis stets anhand des im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums berechnet werden und nicht anhand des Tags der Rücksendung.