OLG Zweibrücken: Reisekosten bei digitalen Verhandlungen

Eine immer wichtiger werdende Frage zur Erstattung von Reisekosten bei digitalen Verhandlungen hat das OLG Zweibrücken mit Beschl. v. 9.10.2023 – 6 W 47/23 entschieden.

Der Kläger beauftragte einen Rechtsanwalt an seinem Wohnsitz für einen Prozess vor dem LG Frankenthal. Das LG bestimmte einen Termin und ließ den Parteien nach, an der mündlichen Verhandlung per Video teilzunehmen. Der Klägervertreter entschloss sich gleichwohl dazu, den Termin persönlich wahrzunehmen und erschien zur mündlichen Verhandlung. Nach gewonnenem Prozess meldete er die Reisekosten zur Erstattung an. Die Beklagte widersprach.

Das LG Frankenthal (Beschl. v. 8.9.2023 – 3 O 103/21) entschied, dass die Reisekosten festzusetzen sind. § 128a ZPO spricht davon, dass den Parteien und ihren Bevollmächtigten gestattet werden kann, sich an einem anderen Ort aufzuhalten. Hieraus kann eine Pflicht zur Teilnahme an einer Videokonferenz nicht abgeleitet werden. Es ist vielmehr die freie Entscheidung der Partei und/oder des Anwalts, an dem Termin gleichwohl in Präsenz teilzunehmen. Die Teilnahme an einem Termin kann vor diesem Hintergrund auch nicht als mutwillig angesehen werden. Vielmehr ist die Wahrnehmung eines Termins stets zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder -verteidigung notwendig. In diesem Sinne hatte auch bereits das LG Aachen  (Beschl. v. 20.7.2023 – 8 O 545/21) entschieden. Das OLG Zweibrücken teilt diese Auffassung und wies die sofortige Beschwerde ohne eigene Begründung, sondern nur durch die Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung des LG Frankenthal zurück.

Es kann daher festgehalten werden: Reisekosten zu einem Termin sind auch dann erstattungsfähig nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO, wenn das Gericht die Teilnahme an einer digitalen Verhandlung gestattet hatte.

 

 

Anwaltsblog 1/2024: Wann darf ein Gericht unter Berufung auf eigene Sachkunde auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten?

Dass es nach wie vor – trotz vieler einschlägiger Urteile des BGH – zur gängigen Praxis mancher Instanzgerichte gehört, Beweisaufnahmen zu verweigern, zeigt eine aktuelle Entscheidung des BGH:

 

Der Kläger verlangt von der Beklagten Architektenhonorar. Die Beklagte hatte ein Grundstück erworben, auf dem sich ein als Bürogebäude genutztes Hochhaus und eine Tiefgarage befanden. Der Kläger erbrachte im Einzelnen streitige Planungsleistungen für den auf dem Grundstück vorgesehenen Neu- und Umbau des Gebäudes. Streitig war zwischen den Parteien, ob dem Kläger mündlich auch die Ausführungsplanung für zwei Teilprojekte (Neubau eines Wohngebäudes für studentisches Wohnen und Errichtung einer Tiefgarage) übertragen worden ist. Das Berufungsgericht (OLG Dresden) hat dem Kläger Honorar für die Ausführungsplanung nicht zugesprochen. Ihm sei es nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass er von der Beklagten in diesem Umfang konkludent beauftragt worden sei. Er habe zwar vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Dokumente unter Beweis gestellt, dass er die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht und hierüber die Beklagte fortlaufend unterrichtet habe. Damit habe der Kläger eine Entgegennahme der Architektenleistung durch die Beklagte behauptet. Allerdings werde aus den von ihm vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele. Es fehle der Nachweis, dass die von dem Kläger erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können. Diese Beurteilung sei dem Berufungsgericht aufgrund eigener Sachkunde möglich, weshalb es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht bedürfe.

Der BGH hebt das Berufungsurteil insoweit auf. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen konkludenten Vertragsschluss über die Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung nicht nachgewiesen, beruht auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Zwar handelt es sich bei der Frage, in welchem Umfang der Kläger mit der Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung beauftragt wurde, um eine vom Berufungsgericht vorzunehmende Rechtsprüfung. Für die Würdigung der Gesamtumstände war für das Berufungsgericht allerdings von Bedeutung, ob der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat. Diese Beurteilung betrifft eine Fachwissen voraussetzende Frage, deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist. Dies folgt aus den verwendeten fachsprachlichen Begriffen, aus dem Erfordernis der „notwendigen zeichnerischen und textlichen Einzelangaben“, aus der vorgeschriebenen Gestaltung der Zeichnungen nach „Art und Größe des Objekts im erforderlichen Umfang und dem Detaillierungsgrad unter Berücksichtigung aller fachspezifischen Anforderungen“, sowie aus der Koordinations- und Integrationspflicht, deren Erfüllung Kenntnisse der beteiligten Gewerke voraussetzt. Das Berufungsgericht hat sich gehörswidrig über den Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob er die Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag. Das Berufungsgericht durfte den Beweisantrag auf Einholung eines Gutachtens nicht unter Hinweis auf eine eigene Sachkunde ablehnen. Es hat keine Sachkunde aufzuweisen vermocht, die es zur Beurteilung befähigen könnte, ob die für das Bauobjekt vorgelegten Pläne den technischen Anforderungen genügen, die an die zu erbringende Ausführungsplanung zu stellen sind. Allein eine längere Tätigkeit in einem Bausenat kann nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über das – für die Prüfung der vorgelegten Ausführungsplanung auf Vollständigkeit – erforderliche bautechnische Fachwissen verschaffen.

(BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – VII ZR 17/23)

 

Fazit: Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf das Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn es entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.  Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anwendbarkeit nicht abdingbarer Vorschriften des deutschen Wohnungsmietrechts trotz vertraglicher Rechtswahl zugunsten einer anderen Rechtsordnung.

Rechtswahl bei Vermietung einer im Inland belegenen Wohnung
BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 7/23

Der VIII. Zivilsenat befasst sich mit den Voraussetzungen eines Binnensachverhalts im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO.

Die klagende Republik B. vermietet in einem ihr gehörenden, neben ihrer Botschaft in Berlin belegenen Haus Wohnungen an Botschaftsangehörige und Dritte. Die nicht in der Botschaft beschäftigte Beklagten sind seit 2003 Mieter einer dieser Wohnungen. In der maßgeblichen Fassung des Mietvertrags ist vorgesehen, dass der Vertrag dem Recht der Republik B. unterliegt und nach einem Jahr endet. Die Botschaft der Klägerin teilte den Beklagten vor Ablauf der vereinbarten Mietzeit mit, dass eine Verlängerung des Mietverhältnisses nicht in Betracht kommt.

Die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg.

Nach § 575 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB ist eine Befristung des Mietverhältnisses nur dann wirksam, wenn der Vermieter bei Vertragsschluss schriftlich einen Grund für die Befristung mitteilt. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt.

Der BGH lässt offen, ob § 575 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB eine zwingende Formvorschrift im Sinne von Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO darstellt. Die Regelung ist im Streitfall schon deshalb maßgeblich, weil ein Binnensachverhalt im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO vorliegt.

Nach Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO bleiben nicht abdingbare Bestimmungen eines Staates trotz einer abweichenden Rechtswahl anwendbar, wenn alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt in diesem Staat belegen sind. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hängt von den Umständen des jeweiligen Falles ab und ist in erster Linie vom Tatrichter zu beurteilen.

Im Streitfall ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen, dass ein Binnensachverhalt im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO vorliegt.

Ausschlaggebend dafür sind folgende Umstände:

–   die vermietete Wohnung ist in Deutschland belegen;

–   die Beklagten haben seit 2003 in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt;

–   Abschluss und Abwicklung des Mietvertrags einschließlich des Einzugs der Miete erfolgten durch die Botschaft der Klägerin in Deutschland (diese ist als Zweigniederlassung im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Rom I-VO anzusehen).

Nicht ausschlaggebend sind vor diesem Hintergrund folgende Umstände:

die Staatsangehörigkeit der Vertragsparteien;

–   gesetzliche Regelungen der Klägerin über die Verwendung von Staatseigentum;

–   die Erfüllung diplomatischer Aufgaben (weil die die in Streit stehende Wohnung nicht zu diesem Zweck vermietet worden ist);

–   die Abfassung des Mietvertrags in der Amtssprache der Klägerin;

–   die Frage, ob die Rechtswahl mit dem Ziel der Gesetzesumgehung erfolgt ist.

Praxistipp: Ohne Rechtswahl unterliegen Miet- und Pachtverträge über unbewegliche Sachen gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Rom I-VO dem Recht des Staats, in dem die Sache belegen ist. Eine Ausnahme gilt gemäß Buchst. d für kurzfristige Verträge zwischen Parteien mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Staat.

Anwaltsblog: Kann in der Berufungsinstanz Gegenvortrag auf zulässigen neuen Vortrag der anderen Partei als verspätet zurückgewiesen werden?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob in der Berufungsinstanz Vortrag einer Partei als verspätet zurückgewiesen werden kann, den diese in Erwiderung zu neuem Vortrag gehalten hat, den die in I. Instanz siegreiche Partei nach einem Hinweis des Gerichts vorgebracht hatte:

 

Die Klägerin hatte sich verpflichtet, als „Expertin für Performance Marketing“ (Optimierung von Webseiten) die Beklagte, ein „Legal Tech – Start-Up“, im „Umfang von in Summe 96 Arbeitstagen“ auf dem Themenfeld „Marketing“ unterstützen. Die zum jeweiligen Monatsende fällige Vergütung betrug 1.500 € pro Tag. Nach Unstimmigkeiten kündigte die Klägerin den Vertrag und klagte Restvergütung ein. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 66.187,50 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat die Vergütung mit pro Tag 1.500 € und nicht, wie von der Klägerin abgerechnet, mit pro Tag 1.500 € zuzüglich Umsatzsteuer als vereinbart angesehen. Des Weiteren hat es einige Positionen vom geltend gemachten Anspruch abgesetzt. Das Bestreiten der anderen von der Klägerin angeführten Rechnungspositionen durch die Beklagte mit Nichtwissen hat es als unzulässig und insoweit das Vorbringen der Klägerin als zugestanden angesehen. Das Berufungsgericht hat die Parteien auf Folgendes hingewiesen: „Die Beklagte hat die Leistungen bestritten; zu einzelnen Tagen hat sie konkrete Beanstandungen vorgebracht (Anlage B 1), im Übrigen die Leistungserbringung mit Nichtwissen bestritten. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob die Klägerin hinreichend vorgetragen hat. Sie hat kein einziges Detail dargelegt, weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die ‚Beratung‘ erfolgt sein soll. Andererseits ist aber auch fraglich, ob die Beklagte die Leistungen mit Nichtwissen bestreiten darf nach § 138 Abs. 4 ZPO. Denn es könnte ihr zumutbar sein zu prüfen, ob sie oder in ihrem Verantwortungsbereich tätige Personen an den abgerechneten Tagen eine ‚Beratung‘ der Klägerin erhalten haben. Um Stellungnahme binnen drei Wochen wird gebeten. “ Mit Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Klägerin „zur Detaillierung der Klageforderung“ erstmals die Anlage K 6 vorgelegt, mit der die ihrem Vortrag zufolge erbrachten Leistungen konkretisiert wurden; mit Schriftsatz vom 19. August 2022 hat die Beklagte erstmals die abgerechneten Leistungen der Klägerin detailliert bestritten. Die Berufung der Beklagten hat nur in geringfügigem Umfang Erfolg gehabt; in der Hauptsache hat das Berufungsgericht den Verurteilungsbetrag auf 63.468,75 € herabgesetzt. Die Klägerin habe die Entstehung der abgerechneten Vergütung für Beratungsleistungen hinreichend dargelegt. Hingegen sei das Bestreiten der Leistungserbringung durch die Beklagte prozessual ungenügend. Eine Erklärung mit Nichtwissen sei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen seien. Die Klägerin habe bereits in der Klageschrift unerwidert vorgetragen, sie habe der Beklagten mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 die im Berufungsverfahren als Anlage K 6 eingereichte Übersicht mit weiteren Details über die erbrachten Leistungen übersandt. Dies habe die Beklagte erstinstanzlich nicht bestritten, im Berufungsverfahren habe ihr Geschäftsführer erklärt, er wisse nicht mehr, wann er diese Übersicht erstmals gesehen habe. Sofern hierin ein Bestreiten der vorgerichtlichen Kenntnis von der Übersicht liegen sollte, wäre es im Berufungsverfahren jedenfalls nicht zuzulassen, da kein Grund für die Zulassung dieses neuen Verteidigungsmittels gemäß § 531 Abs. 2 ZPO vorgetragen oder sonst ersichtlich wäre. Wenn der Beklagten aber die Übersicht mit den weiteren Details insbesondere hinsichtlich der Rechnung vom 20. November 2018 vorgerichtlich bekannt gewesen sei, wäre ein Vortrag, der über ein Bestreiten mit Nichtwissen hinausgehe, tatsächlich unschwer möglich und prozessual auch gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erforderlich gewesen. Das erstmals im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 19. August 2022 erfolgte detaillierte Bestreiten der abgerechneten Leistungen seitens der Beklagten sei als neues Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unbeachtlich.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es ihr erstmals im Berufungsverfahren erfolgtes detailliertes Bestreiten der von der Klägerin abgerechneten Leistungen zu Unrecht nach § 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO nicht zugelassen hat, obgleich deren entsprechender (Gegen-)Vortrag seinerseits – nach einem Hinweis des Gerichts – erst in der Berufungsinstanz weiter konkretisiert worden war. Eine in erster Instanz siegreiche Partei – hier die Klägerin – darf darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis erteilt, wenn es in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Außer zur Hinweiserteilung ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall auch verpflichtet, der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen sowie gegebenenfalls auch Beweis anzutreten. Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Das Gericht darf allerdings nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Ist in einem nach Erteilung eines richterlichen Hinweises eingegangenen Schriftsatz des Berufungsbeklagten neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff enthalten, ist der Schriftsatz dem Berufungskläger mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Tritt dieser dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel des Berufungsbeklagten entgegen, ist sein Vorbringen gleichfalls zu berücksichtigen.    Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt es, dass das Berufungsgericht das mit Schriftsatz vom 19. August 2022 „erfolgte detaillierte Bestreiten“ des Inhalts dieser Liste für prozessual unbeachtlich erklärt hat. Zwar ist dieser Sachvortrag erstmals im Berufungsrechtszug gehalten worden. Konkret veranlasst worden ist der neue Vortrag jedoch durch den Hinweis des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2022 und die sich daran anschließende erstmalige Vorlage der Liste im Prozess mit Schriftsatz der Klägerin vom 17. August 2022. Aus besonderen in der Verfahrensordnung angelegten Gründen – § 531 ZPO – durfte der neue Vortrag daher nicht unberücksichtigt bleiben.

(BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – III ZR 184/22)

 

Fazit: Bringt eine Partei auf einen richterlichen Hinweis ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel vor, ist dies der anderen Partei mitzuteilen und das Vorbringen, mit dem diese dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel entgegentritt, gleichfalls zu berücksichtigen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Innenausgleich zwischen den Haftpflichtversicherern eines an einem Verkehrsunfall beteiligten Gespanns.

Rückwärtsfahren mit Anhänger
BGH, Urteil vom 14. November 2023 – VI ZR 98/23

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit der Haftungsverteilung gemäß § 78 Abs. 3 VVG und § 19 Abs. 4 StVG.

Bei einem Rangiervorgang mit einem Gespann wurde ein anderes Fahrzeug beschädigt. Die Klägerin, bei der das Zugfahrzeug haftpflichtversichert ist, regulierte den Schaden in Höhe von 930 Euro. Sie nimmt die Beklagte, bei der der Anhänger haftpflichtversichert ist, auf Erstattung der Hälfe dieses Betrages in Anspruch. Das AG gab der Klage statt, das LG wies sie ab.

Die Revision der Klägerin bleibt ohne Erfolg.

Gemäß § 78 Abs. 3 VVG bestimmt sich das Innenverhältnis zwischen den beiden Haftpflichtversicherern eines Gespanns nach der Regelung in § 19 Abs. 4 StVG. Danach hat der Versicherer des Zugfahrzeugs grundsätzlich den gesamten Schaden zu tragen. Etwas anderes gilt nur, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein. Gemäß § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG verwirklicht das Ziehen des Anhängers allein im Regelfall keine höhere Gefahr.

Der BGH tritt dem LG darin bei, dass der in § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG normierte Grundsatz auch dann greift, wenn der Anhänger beim Rückwärtsfahren geschoben wird. Dass das Gespann länger und weniger übersichtlich ist als das Zugfahrzeug allein, reicht nach dem Gesetz nicht aus, um einen Anspruch gegen den Versicherer des Anhängers zu begründen.

Praxistipp: Die beiderseitige Ersatzpflicht für Schäden am versicherten Zugfahrzeug oder am versicherten Anhänger richtet sich gemäß § 19 Abs. 4 Satz 5 StVG nach den allgemeinen Regeln, also §§ 823 ff. BGB und ggf. vertraglichen Vereinbarungen.

Anwaltsblog: Keine Vorfrist für Rechtsmittelbegründung notiert – keine Wiedereinsetzung!

Wieder einmal musste der BGH feststellen, dass zu den notwendigen organisatorischen Vorkehrungen eines Anwaltsbüros die allgemeine Anordnung gehört, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren:

Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. Februar 2022 zugestellte Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 hat ihr Prozessbevollmächtigter die Berufung begründet und zugleich Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Die Säumnis beruhe auf einem Versehen seiner Angestellten. Diese habe gemäß erteilter Weisung zwar die Berufungsfrist in den Fristenkalender eingetragen, allerdings aus im Nachhinein nicht mehr eruierbaren Gründen nicht auch die Berufungsbegründungsfrist, obwohl beide Fristen als „notiert“ und damit als im Fristenkalender eingetragen vermerkt worden seien. Der Posteingang sei über das beA erfolgt und somit von ihm direkt bearbeitet worden. Nach Kenntnisnahme des erstinstanzlichen Urteils seien durch ihn die Fristen für die Berufung und die Berufungsbegründung notiert worden. Die Angestellte habe dann beide Fristen in den Fristenkalender eintragen sollen. Bei Einlegung der Berufung habe er sich noch einmal vergewissert, dass hinter beiden notierten Fristen ein Eintragungsvermerk aufgebracht worden sei. Er sei deshalb davon ausgegangen, dass auch die Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß eingetragen worden sei. Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Hat eine Partei die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin beruht. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter die Notierung von Vorfristen angeordnet hatte. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass ihr Prozessbevollmächtigter diese Vorgaben bei der Organisation seiner Kanzlei eingehalten hatte.

(BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 – VI ZB 53/22)

Fazit: Eine wirksame Fristenkontrolle erfordert die Notierung von Vorfristen. In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein einer Prozesspartei nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das arglistige Verschweigen eines Gebäudemangels.

Undichtes Terrassendach als Sachmangel
BGH, Urteil vom 27. Oktober 2023 – V ZR 43/23

Der V. Zivilsenat befasst sich mit § 434 und § 444 BGB. 

Die Kläger erwarben im Jahr 2016 von den Beklagten ein Einfamilienhaus. Im Jahr 2017 beanstandeten die Kläger Wassereintritte im Bereich des Terrassendachs. Ein in einem selbständigen Beweisverfahren beauftragter Sachverständiger kam zu dem Ergebnis, die Abdichtung des Terrassendachs zur Hauswand hin sei mangelhaft ausgeführt und die Dichtungsfolie des angrenzenden Hausdachs weise im Anschluss zum Traufbereich Risse auf. 

Die Kläger begehren Zahlung der vom Sachverständigen mit rund 32.000 Euro bezifferten Kosten für die Beseitigung der Schäden am Terrassendach und am Hausdach. Das LG sprach ihnen nur rund 10.000 Euro für die Reparatur des Terrassendachs zu und wies die Klage wegen der Kosten für die Reparatur des Hausdachs ab. Die Berufung der Kläger blieb im Wesentlichen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache auf die Revision der Kläger an das OLG zurück.

Wie das OLG zutreffend angenommen hat, stehen den Klägern aufgrund eines im Kaufvertrag vereinbarten Gewährleistungsverzichts gemäß § 444 BGB Ansprüche nur wegen solcher Sachmängel zu, die die Beklagten vor dem Abschluss des Kaufvertrags arglistig verschwiegen haben. 

Entgegen der Auffassung des OLG ist im Streitfall unerheblich, ob den Beklagten bei Abschluss des Kaufvertrags bekannt war, dass die Dichtungsfolie des Hausdachs Risse aufweist. 

Ein Sachmangel besteht im Streitfall schon darin, dass es im Bereich des Terrassendachs wiederholt zu Wassereintritten kommt. Angesichts dessen haben die Beklagten schon deshalb arglistig gehandelt, weil es bereits zuvor zu Wassereintritten gekommen war (deren Ursache sie vergeblich zu ermitteln versucht hatten) und sie diese gegenüber den Klägern nicht offengelegt haben. Zu einer Offenlegung waren die Beklagten jedenfalls deshalb verpflichtet, wie die Terrassenüberdachung während der Kaufverhandlungen thematisiert worden war.

Nach der Zurückverweisung wird das OLG noch Feststellungen zur Schadenshöhe zu treffen haben.

Praxistipp: Ob das Auftreten von Wasser in einem Gebäude einen Mangel oder nur ein auf einen möglichen Mangel hindeutendes Symptom darstellt, hängt vom Einzelfall ab.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen für die Qualifikation als Verbraucherbauvertrag.

Kein Verbraucherbauvertrag bei sukzessiver Beauftragung
BGH, Urteil vom 26. Oktober 2023 – VII ZR 25/23

Der VII. Zivilsenat befasst sich mit den Tatbestandsvoraussetzungen von § 650i Abs. 1 BGB.

Die Beklagte ließ ein neues Bürogebäude errichten. Im Jahr 2017 beauftragte sie die Klägerin mit den Rohbauarbeiten. Im Laufe des Jahres 2018 erteilte sie der Klägerin sukzessive Aufträge für weitere Gewerke, unter anderem für Estrich-, Trockenbau- und Zimmererarbeiten.

Die Klägerin klagt auf Zahlung der Vergütung für die im Jahr 2018 beauftragten Leistungen und auf Stellung einer Sicherheit für diese Forderungen in Höhe von rund 140.000 Euro. Die Beklagte verlangt widerklagend die Erstattung bereits geleisteter Vergütung für die Rohbauarbeiten in Höhe von rund 70.000 Euro. Das LG hat der Klägerin durch Teilurteil eine Sicherheit von rund 14.000 Euro zugesprochen. Das OLG hat diesen Betrag auf rund 90.000 Euro erhöht.

Die Revision der Beklagten bleibt erfolglos.

Der auf § 650f BGB gestützte Anspruch auf Sicherheitsleistung ist nicht gemäß § 650f Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BGB ausgeschlossen. Die zwischen den Parteien geschlossenen Verträge sind nicht als Verbraucherbauvertrag im Sinne von § 650i BGB zu qualifizieren.

Ein Verbraucherbauvertrag liegt nach § 650i Abs. 1 Fall 1 BGB vor, wenn sich der Unternehmer zum Bau eines neuen Gebäudes verpflichtet. Ein Auftrag für ein einzelnes Gewerk reicht hierfür nicht aus. Ebenfalls nicht ausreichend ist eine sukzessive Beauftragung mit mehreren Gewerken. Deshalb ist unerheblich, ob die von der Klägerin übernommenen Leistungen insgesamt den Bau eines neuen Gebäudes im Sinne des Gesetzes umfassen.

Praxistipp: Die Höhe der Sicherheitsleistung bestimmt sich nach der schlüssig vorgetragenen Höhe des Vergütungsanspruchs zuzüglich eines Aufschlags von 10 Prozent. Gegenansprüche des Bestellers sind nur zu berücksichtigen, soweit sie unstreitig oder rechtskräftig festgestellt sind.

BGH: Wirksamkeit einer Zustellung sowie zur Terminsverlegung wegen Krankheit

Im Rahmen eines Verfahrens wegen des Widerrufes ihrer Zulassung als Rechtsanwältin hatte die Klägerin in der Berufungsinstanz vor dem BGH versucht, die Wirksamkeit einer Zustellung in Frage zu stellen. Bei der Beurteilung dieser Frage führt der BGH (Beschl. v. 22.8.2023 – AnwZ (Brfg) 14/23) einiges zur Wirksamkeit einer Zustellung sowie zum Inhalt der Zustellungsurkunde aus, was über das konkrete Verfahren hinaus von allgemeinem Interesse ist:

In der Zustellungsurkunde selbst war beurkundet worden, dass der später angefochtene Bescheid der Klägerin persönlich unter ihrer Privatanschrift übergeben wurde. Allerdings war auf dem der Klägerin übergebenen Umschlag das Datum der Zustellung nicht vermerkt worden. Letztlich ist dies aber unschädlich. Der BGH hat zwar erst vor Kurzem entschieden, dass bei einer Ersatzzustellung durch Einwurf gemäß § 180 S. 3 ZPO das Datum der Zustellung zwingend zu vermerken ist. Wenn es fehlt, gilt das Schriftstück erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt. Dies ergibt sich aus § 180 S. 3 ZPO. Demgegenüber macht jedoch ein Verstoß gegen § 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO die dort geregelte Zustellung gerade nicht unwirksam.

Das Fehlen des erwähnten Umstandes lässt darüber hinaus sogar die Beweiskraft der Zustellungsurkunde selbst unberührt! Die Klägerin musste daher hier gemäß § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis für die Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsache antreten und führen. Dies hatte die Klägerin versucht, der BGH hat jedoch alle insoweit aufgestellten Behauptungen zurückgewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vortrag, Postzustellungen seien bei ihr stets sehr unzuverlässig erfolgt, zur Widerlegung der Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht ausreicht, da sich aus dieser allgemeinen Behauptung keine Falschbeurkundung in einem konkreten Fall herleiten lassen kann. Auch mit der pauschalen Behauptung, ihr während des gesamten Tages anwesender Ehemann habe von der Zustellung nichts bemerkt, kann die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht widerlegt werden. Eine Zustellung nimmt nur wenige Augenblicke in Anspruch und muss nicht zwangsläufig von jedem in der Wohnung Anwesenden bemerkt werden, zumal dieser während der Zustellung z. B. das Badezimmer benutzt haben könnte. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Klägerin zum Zustellungszeitpunkt zwar krank, jedoch nicht bettlägerig war, mithin grundsätzlich dazu in der Lage war, eine Zustellung entgegenzunehmen.

Die Klägerin hatte darüber hinaus noch einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör gerügt, weil ihrem Terminsverlegungsantrag in der Vorinstanz nicht nachgekommen war. Insoweit weist der BGH darauf hin, dass bei einem Verlegungsantrag wegen Erkrankung die Gründe so anzugeben und durch Vorlage eines ärztlichen Attestes zu untermauern sind, dass das Gericht selbst beurteilen kann, ob eine Verhandlungsunfähigkeit vorliegt. Dies hatte die Klägerin hier versäumt.

Fazit: Wird bei der Zustellung durch Übergabe das Datum derselben nicht auf dem Umschlag vermerkt, lässt dies die Wirksamkeit der Zustellung unberührt.

Blog powered by Zöller: Bundesrat zieht Notbremse bei der Video-Novelle

Wie zu erwarten war, hat der Bundesrat das am 17. November 2023 vom Bundestag beschlossene „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ gestoppt und den Vermittlungsausschuss mit dem Auftrag zu einer grundlegenden Überarbeitung angerufen. Dadurch konnte verhindert werden, dass ein Gesetz – noch dazu schon am Tag nach seiner Verkündung – in Kraft tritt, welches gravierende Belastungen für die Ziviljustiz hervorgerufen hätte. Die Entscheidung darüber, ob in Präsenz oder per Video verhandelt wird, hätte nicht mehr im richterlichen Verfahrensermessen gestanden, sondern wäre zum Gegenstand von Anordnungen, Einsprüchen, Anträgen und Ablehnungsbeschlüssen geworden. Da die meisten Gerichte nicht über eine Videoausstattung verfügen, die den jüngst vom BFH aufgestellten Anforderungen genügt (s. MDR 2023, 1366; MDR 2023, 1570; auch bereits in der Online-Version des Zöller enthalten: Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 128a ZPO Rn 6.1) und die ordnungsgemäße Beteiligung der Öffentlichkeit sicherstellt, wären Rechtsmittel und Urteilsaufhebungen vorprogrammiert gewesen.

Zu Recht bekennt sich der Bundesrat in seinem Einberufungsbeschluss zu dem Ziel, die Durchführung mündlicher Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung zu erleichtern. Das vom Bundestag hier praktizierte, alle Stellungnahmen aus der Praxis übergehende Hauruck-Verfahren hätte allerdings das Gegenteil erreicht.

Das nunmehr noch offene Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens wird in der soeben erschienenen 35. Auflage des ZÖLLER unverzüglich nach Verabschiedung und Inkrafttreten kommentiert – per Online-Aktualisierung, die jedem Bezieher des Kommentars zugänglich ist. Weitere Infos hier.