Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Übergehen eines Beweisangebots.

Erheblichkeit eines Beweisangebots
BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Der VI. Zivilsenat hebt ein OLG-Urteil wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auf. 

Der im Jahr 2007 geborene Kläger verlangt von den Beklagten – einem Klinikum und einer dort tätigen Hebamme – Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro zugesprochen und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller weiteren Schäden festgestellt.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das OLG zurück. 

Das OLG hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es von der Vernehmung von drei behandelnden Ärzten abgesehen hat. Die Beklagten haben die Zeugen zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Mutter des Klägers erst beim Hinzutreten der Ärzte von einer zu Hause aufgetretenen vaginalen Blutung berichtet habe, nicht hingegen schon bei der Aufnahme durch die beklagte Hebamme. Wenn die unter Beweis gestellte Behauptung zutrifft, kann der Hebamme nicht vorgeworden werden, die Ärzte zu spät hinzugezogen zu haben. 

Praxistipp: Lässt das Berufungsgericht schon in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erkennen, dass es bestimmte Beweisangebote nicht berücksichtigen wird, muss dies noch in der Berufungsinstanz gerügt werden, und zwar innerhalb der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine auf diesen Gesichtspunkt gestützte Nichtzulassungsbeschwerde schon aus Gründen der Subsidiarität erfolglos bleibt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

BGH: Ablehnung einer Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit

Der BGH (Beschl. v. 12.5.2021 – XII ZR 152/19, MDR 2021, 958 = MDR 2021, 1050 [Laumen]) hat sich näher mit der Frage befasst, wann ein Beweisantritt auf Vernehmung eines Zeugen als ungeeignet zurückgewiesen werden kann.

Die Parteien waren im Streit über Ansprüche anlässlich der Auflösung einer langjährigen nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Im Rahmen einer Aufrechnungsforderung hatte der Beklagte behauptet, 3.111 Stunden für Aus- und Umbauarbeiten an dem Haus der Klägerin gearbeitet zu haben. Er hatte auch eine nachvollziehbare Aufstellung sowie Lichtbilder vorgelegt. Außerdem hatte er Zeugenbeweis angeboten. Das OLG hatte die benannten Zeugen (Nachbarn und Reinigungskräfte der Parteien) nicht vernommen und dies damit begründet, es könne ausgeschlossen werden, dass die Zeugen derartige Behauptungen nachvollziehbar bestätigen könnten.

Dies akzeptiert der BGH nicht. Wird ein erheblicher Beweisantritt nicht berücksichtigt, verstößt dies gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Bei der Zurückweisung eines Zeugenbeweises als ungeeignet, ist größte Zurückhaltung geboten (ständige Rechtsprechung: siehe zuletzt BGH v. 12.12.2018 – XII ZR 99/17, MDR 2019, 302 = MDR 2019, 467 [Laumen]). Eine Zurückweisung kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass die Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse bringen kann. Eine Unwahrscheinlichkeit alleine rechtfertigt keine Ablehnung wegen Ungeeignetheit. Es muss auch bei dem Antritt des Zeugenbeweises nicht ausgeführt werden, wie der Zeuge die zu bekundende Tatsache erfahren haben soll.

Deshalb durfte das OLG nicht davon absehen, den Zeugenbeweis zu erheben. Das Urteil wurde daher aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, damit die Beweisaufnahme nachgeholt werden kann.

BGH: Konkludenter Verzicht auf einen Beweisantritt

In einer kürzeren Entscheidung (Beschl. v. 4.2.2015 – IX ZR 133/15) hat der BGH folgendes ausgeführt: „Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht darin erblickt werden, dass das Berufungsgericht den von dem Kläger zum Nachweis der geltend gemachten Mängel benannten Zeugen F. M. nicht gehört hat. Der Kläger hat auf die Vernehmung des Zeugen konkludent verzichtet. Ein Verzicht auf einen Zeugen kann darin gesehen werden, dass die Partei, welche noch nicht vernommene Zeugen benannt hat, nach durchgeführter Beweisaufnahme ihren Beweisantrag nicht wiederholt. Die Schlussfolgerung eines Verzichts ist jedenfalls dann berechtigt, wenn die Partei aus dem Prozessverlauf erkennen konnte, dass das Gericht – wie hier das Berufungsgericht nach der Vernehmung der Zeugin H. und dem anschließenden Hinweis auf die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Berufung – mit der bisher durchgeführten Beweisaufnahme seine Aufklärungstätigkeit als erschöpft angesehen hat…“

Es wird häufiger versucht, Revisionsgründe zu schaffen, indem der gesamte Verfahrensstoff mehrerer Instanzen auf eine Passage in irgendeinem Schriftsatz durchsucht wird, worin relevantes Vorbringen enthalten war, was mit einem Zeugenbeweisantritt untermauert worden ist, dem jedoch – aus welchen Gründen auch immer – nicht nachgegangen wurde. Das vom IX. Zivilsenat aufgezeigte Argumentationsmuster ermöglicht, in ausgewählten Fällen, derartige Versuche nicht zum Erfolg werden zu lassen. Für einen Antrag auf Parteivernehmung gilt dasselbe (vgl. BGH, Urt. v. 20.6.1996 – III ZR 219/95 aE). Es liegt aber auf der Hand, dass an den konkludenten Verzicht auf einen Zeugen strenge Anforderungen zu stellen sind, keinesfalls darf der Ausnahmefall zum Normalfall werden. Die Partei muss aus der Verfahrensweise des Gerichts bzw. dem Prozessverlauf erkennen können, dass das Gericht mit den bisher durchgeführten Maßnahmen seine Aufklärungspflicht als erschöpft angesehen hat.

Aus den vorliegenden Entscheidungen des BGH ergibt sich, dass ein solcher Fall etwa vorliegt, wenn das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten eingeholt hat, anschließend einen Termin bestimmt und zu erkennen gibt, dass es weitere Sachaufklärungen nicht mehr durchführen möchte, sondern vielmehr der Rechtsstreit nunmehr entschieden werden soll.

All dies – wie wohl praktisch durchaus sehr wichtig – ist dem BGH eine Aufnahme in den Leitsatz der Entscheidung allerdings nicht wert gewesen! Der Leitsatz befasst sich vielmehr nur mit einer bürgerlich-rechtlichen Fragestellung: Bei der Bewertung, ob eine Pflichtverletzung erheblich oder unerheblich ist, sind vor Abgabe der Rücktrittserklärung behobene Mängel im Allgemeinen außer Betracht zu lassen.