Empirische Untersuchung und Auswertung der zweiten virtuellen Hauptversammlungssaison

Auch die Saison der Aktionärstreffen im Jahr 2021 war von der virtuellen Hauptversammlung geprägt. Die fortdauernde COVID‑19-Pandemie erforderte, das COVMG zu verlängern, um rechtssicher eine zweite Saison von Online-Hauptversammlungen durchführen zu können. Nachdem zum Jahreswechsel das im Verordnungswege zur Verlängerung ermächtigte BMJV und der Deutsche Bundestag fast zeitgleich zur Tat schritten, trat mit Wirkung zum 28.2.2021 ein leicht überarbeitetes COVMG in Kraft. Auf Grundlage des novellierten Gesetzes wurden bis Ende Juli 2021 von den Unternehmen der DAX-Indexfamilie (DAX30, MAX, SDAX und TecDAX) 134 Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Versammlung einberufen. Anknüpfend an die Beiträge in AG 2020, 418 und AG 2020, 776 wurde nunmehr die zweite virtuelle Hauptversammlungssaison empirisch untersucht und systematisch ausgewertet, um den Marktstandard herauszuarbeiten.

Die Mehrheit der 134 zwischen Februar 2021 und dem 31.7.2021 einberufenen virtuellen Hauptversammlungen von börsennotierten Unternehmen der DAX-Indexfamilie

  • nutzte das normale statt des verkürzten Fristenregimes des § 1 Abs. 3 COVMG (99 %),
  • sah vor, dass die Versammlung über das Internet in Bild und Ton nur für die Aktionäre übertragen würde (58 %),
  • gab einen „Ort der Hauptversammlung im Sinne des Aktiengesetzes“ in Form einer Postadresse als Ort der Hauptversammlung i.S.d. § 121 Abs. 3 AktG an (57 %),
  • gab Aktionären vor, Fragen gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 COVMG bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen (100 %),
  • beschrieb das Fragerecht gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 COVMG im Zusammenhang mit Angaben nach § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 AktG (80 %),
  • eröffnete den Aktionären die Möglichkeit, Fragen gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 COVMG bis zum Ablauf des zweiten Tages vor der Hauptversammlung zu übermitteln (96 %), so dass ein voller Tag zwischen der letzten Fragemöglichkeit und dem Tag der virtuellen Versammlung lag,
  • nutzte das Portal zur Übermittlung der Fragen an die Gesellschaft (98 %),
  • machte keine Angaben zur Namensnennung der Fragensteller in der virtuellen Versammlung (46 %),
  • bot ihren Aktionären weder eine Nachfragemöglichkeit (92,5 %) noch eine Stellungnahmemöglichkeit (81 %) während der virtuellen Hauptversammlung an,
  • ermöglichte keine elektronische Teilnahme gem. § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG (99 %) und stellte dies auch explizit in der Einberufung der virtuellen Versammlung klar (60 %),
  • bot den Aktionären die Briefwahl über das Portal (100 %) und daneben auch auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail an (63 %),
  • ermöglichte den Aktionären, die elektronische Briefwahl über das Portal bis zum „Beginn der Abstimmungen“ (67 %) und die Briefwahl auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail bis zum Ablauf des Tages vor der virtuellen Hauptversammlung (62 %),
  • benannte einen Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft (100 %),
  • sah vor, den von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter über das Portal (99 %) und daneben auch auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail bevollmächtigen und anweisen zu können (69 %),
  • ermöglichte die Bevollmächtigung und Anweisung des Stimmrechtsvertreters der Gesellschaft über das Portal bis zum „Beginn der Abstimmungen“ (68 %) und beendete die Möglichkeit der Bevollmächtigung und Anweisung des Stimmrechtsvertreters der Gesellschaft auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail mit Ablauf des Tages vor der virtuellen Hauptversammlung (60 %),
  • gab an, Widersprüche gegen Beschlüsse der Hauptversammlung während der virtuellen Hauptversammlung über das Portal erklären zu können (95 %), und
  • wählte Computershare (40 %), Link Market Services (18 %) oder Better Orange (17 %) als Hauptversammlungs-Dienstleister für die Vorbereitung und Durchführung der virtuellen Hauptversammlung (Marktanteil von zusammen 75 %).

In der AG 2021, 613 werden die Durchdringung der virtuellen Hauptversammlung gegenüber der Präsenz-Versammlung, der Umgang mit dem Fristenregime der Einberufung, dem (neuen) Fragerecht, der Ermöglichung von Nachfragen bzw. Stellungnahmen, den Modalitäten der Stimmrechtsausübung der Aktionäre sowie der Widerspruchsmöglichkeit ausführlich dargestellt und ausgewertet. Auch werden weitere Besonderheiten der virtuellen Hauptversammlung und die von den untersuchten Börsenunternehmen gewählten Hauptversammlungs-Dienstleister beleuchtet.

Squeeze Out: BGH zur Relevanz des Barwerts der Ausgleichszahlung – ist damit alles geklärt?

Bei einem Squeeze Out sowie bei Vorliegen eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrags (kurz: „Unternehmensvertrag“) stellt sich die Frage der Relevanz der in der Regel festen Ausgleichszahlung (auch „Garantiedividende“) für die Bemessung der Barabfindung. Der BGH (v. 12.1.2016 – II ZB 25/14, AG 2016, 359) hatte in der „Nestlé“-Entscheidung 2016 die Frage, ob der Barwert der Ausgleichszahlungen (kurz: „BdA“) neben dem Börsenkurs als (weitere) Untergrenze zu berücksichtigen ist, explizit noch offengelassen. In der Folge hatte das OLG Düsseldorf (v. 15.11.2016 – 26 W 2/16, AG 2017, 672) unter Bezugnahme auf rechtliche Argumente die Auffassung bekräftigt, der BdA sei prinzipiell nicht zu berücksichtigen. Dagegen hatte das OLG Frankfurt in seinem Beschluss vom 20.11.2019 (21 W 77/14, AG 2020, 298) ausgeführt, der BdA sei als Mindestwert zu berücksichtigen, und die Rechtsfrage dem BGH vorgelegt.

In seinem Beschluss vom 15.9.2020 (II ZB 6/20, AG 2020, 949 – „Wella III“) hält der BGH nunmehr zunächst allgemein fest, die angemessene Barabfindung könne nach dem BdA bestimmt werden, wenn dieser höher als der anteilige Unternehmenswert ist, der Unternehmensvertrag zum nach § 327b Abs. 1 Satz 1 AktG maßgeblichen Zeitpunkt bestand und von seinem Fortbestand auszugehen war. Die Diskontierung der festen Ausgleichszahlungen sei eine Methode zur Errechnung des Barwerts des Fruchtziehungsrechts. Ob der BdA, der quotale Unternehmenswert nach dem Ertragswertverfahren oder eine Kombination aus beiden den Wert der Unternehmensbeteiligung zutreffend abbilde, sei eine Frage des Einzelfalls.

Im Hinblick auf die Relevanz des BdA als Untergrenze argumentiert der BGH mit dem OLG Frankfurt über die Vermögensposition des außenstehenden Aktionärs. Infolge der Übertragung der Aktie verliere der Minderheitsaktionär seine Stellung als außenstehender Aktionär und damit den Anspruch auf die Garantiedividende. Für den Minderheitsaktionär bestimme sich der Wert der Unternehmensbeteiligung primär durch die Erträge, die er ohne Übertragung der Aktien auf den Hauptaktionär zukünftig erhalten hätte. Während der Laufzeit des Unternehmensvertrags seien das die Ausgleichszahlungen nach § 304 AktG. Der Ausgleichsanspruch ersetze (allerdings) nur die Aussicht auf Dividende, nicht aber den Anteil an der Vermögenssubstanz, auf den bei Auflösung und Liquidation ein Anspruch bestehe. Daher stelle der BdA regelmäßig nur den Mindestwert der Abfindung dar.

Im Ergebnis hat der BGH mit der „Wella III“-Entscheidung die vorgelegte Rechtsfrage nunmehr im Sinne einer notwendigen Berücksichtigung der Ausgleichszahlungen entschieden. Allerdings ergeben sich für die Bewertungs- und Rechtspraxis weiterhin interessante Auslegungs- und Umsetzungsfragen, die in diesem Blog-Beitrag nur angerissen werden können. Für eine ausführlichere Diskussion der BGH-Entscheidung sowie für eine Diskussion weiterer Entscheidungen und Entwicklungen in Spruchverfahren aus dem Jahr 2020 verweisen wir auf unseren Beitrag   „Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2020“ in AG 2021, 296.

In methodischer Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, ob eine zeitlich erst nach dem Squeeze Out im Spruchverfahren zum Unternehmensvertrag rechtskräftig erhöhte Ausgleichszahlung (nachträglich) heranzuziehen ist. Darüber hinaus ist der für die Diskontierung der Ausgleichszahlungen (risiko-)adäquate Zinssatz zu ermitteln. Daneben eröffnen die Entscheidungen des BGH in Sachen „Nestlé“ und „Wella III“ Interpretationsspielräume, ob der Börsenkurs ggf. keine Untergrenze im Sinne des BGH darstellt.

Ob der BdA, der anteilige Ertragswert oder eine Kombination aus beiden den Wert der Unternehmensbeteiligung zutreffend abbildet, ist nach der Auffassung des BGHs eine Frage des Einzelfalls. Sofern aus der Sicht des Bewertungsstichtags (vereinfachend) von einer unendlichen Laufzeit des Unternehmensvertrags ausgegangen wird und der BdA (berechnet über die Formel der ewigen Rente) über dem anteiligen Ertragswert und dem Börsenkurs liegt, greift entsprechend dem BGH – im Sinne einer Meistbegünstigung – der BdA als Untergrenze der Abfindung. Wird dagegen eine begrenzte Laufzeit prognostiziert, dürfte der Kombinationswert greifen. Dabei wird für die prognostizierte Laufzeit des Unternehmensvertrags der Barwert der festen Ausgleichszahlungen angesetzt und der auf den Bewertungsstichtag bezogene Barwert des anteiligen Ertragswerts nach der erwarteten Beendigung des Unternehmensvertrages addiert. Der Prognose einer realistischen Laufzeit des Unternehmensvertrags unter Abstraktion von dem Squeeze Out kommt somit eine maßgebliche Bedeutung zu. Wirtschaftlich entscheidend sind dabei die planerischen Überlegungen der herrschenden Gesellschaft. Von gewichtiger Bedeutung ist daher der vom BGH bei den Ausführungen zum Verhältnis zwischen BdA und Börsenkurs gegebene Hinweis auf die wirtschaftliche Interessenlage der betroffenen Parteien. Dazu wird vom BGH darauf hingewiesen, dass ein Unternehmensvertrag, der erheblich über dem Ertragswert liegende Ausgleichszahlungen gewährt, nicht dauerhaft von Bestand sein werde. Dahinter steht die wirtschaftliche Überlegung, dass für ein vertraglich herrschendes Unternehmen in einem solchen Fall die festen Ausgleichszahlungen „teurer“ sind als der entsprechende Anspruch der außenstehenden Aktionäre an der beherrschten Gesellschaft ohne Unternehmensvertrag. Für das herrschende Unternehmen bzw. den Mehrheitsaktionär wäre in einem solchen Fall grundsätzlich die Beendigung des Unternehmensvertrags ökonomisch rational.

Aus einer entscheidungstheoretischen Sicht ist die somit vom BGH angeregte Vornahme von wirtschaftlichen Rationalitätsüberlegungen zu begrüßen. Genauso wie der Ertragswert über den Börsenkurs und/oder Multiplikatoren und der Börsenkurs über den Ertragswert zu plausibilisieren ist, besteht die Notwendigkeit den (rein technisch) ermittelten BdA ökonomisch zu plausibilisieren. Bei dieser Plausibilisierung ist der BdA dem quotalen Ertragswert gegenüberzustellen. Dabei sollten nicht nur die Plausibilität der unterstellten Laufzeit, sondern auch die weiteren im Rahmen der Ermittlung des BdA angesetzten Parameter (im Wesentlichen der Diskontierungszins) gewürdigt werden.

Liegt der BdA im konkreten Fall erheblich über dem anteiligen Ertragswert und wird von einer adäquaten Festlegung der weiteren Bewertungsparameter ausgegangen, dürfte dies entsprechend ein starkes Indiz für die sachgerechte Annahme einer begrenzten Laufzeit sein. Dies wäre grundsätzlich selbst dann der Fall, wenn noch keine konkretisierten Überlegungen des herrschenden Unternehmens bekannt oder dokumentiert sind. Vereinfachend könnte in diesen Fällen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände sowie rechtlichen Beendigungsmöglichkeiten bspw. eine frühestmögliche Beendigung des Unternehmensvertrags nach der Detailplanungsphase oder eine alternative typisierende Laufzeitannahme sachgerecht sein.

Bei Wella lag der vom OLG Frankfurt herangezogene BdA bei rund 94 € je Aktie und der anteilige Ertragswert bei rund 65 € je Aktie. Der BdA lag somit um rund 46 % über dem anteiligen Ertragswert. Ob demnach bereits eine „erhebliche“ Diskrepanz vorlag, die letztendlich aufgrund wirtschaftlicher Plausibilisierungsüberlegungen für die Prognose einer begrenzten Laufzeit des Unternehmensvertrags oder eine Diskussion der weiteren bei der Ermittlung des BdA angesetzten Bewertungsparameter sprechen könnte, wird vom BGH nicht weiter ausgeführt.

Hinweis: Für eine ausführliche Darstellung der Entscheidung des BGH in Sachen „Wella III“ sowie  zu weiteren Entwicklungen in Spruchverfahren aus dem Jahr 2020 verweisen wir auf Ruthardt/Popp, Unternehmensbewertung im Spiegel der Rechtsprechung – Entwicklungen im Jahr 2020, AG 2021, 296. Zu Bewertungsmethoden in der Rechtsprechung verweisen wir umfassend auf Popp/Ruthardt in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2. Aufl. 2019, § 12.

Pflicht zur Aktionärsidentifizierung durch die Hintertür?

Gemäß § 67d Abs. 1 AktG können börsennotierte Gesellschaften die Identität ihrer Aktionäre und der Intermediäre in Erfahrung bringen. Die Aktionärsidentifikation dient dabei vor allem dazu, die Kommunikation der Gesellschaft mit ihren Aktionären zu verbessern und dadurch deren Mitwirkung zur nachhaltigen Unternehmensentwicklung zu fördern. Weder nach deutschem noch nach zugrundeliegendem europäischem Recht wird dabei eine Pflicht für die Gesellschaft statuiert, Aktionärsinformationen über Intermediäre einzuholen.

Am 20.1.2021 wurde der Regierungsentwurf eines Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) vorgestellt, wonach gem. § 45b Abs. 9 EStG-E börsennotierte Gesellschaften die Informationen über die Identität ihrer Aktionäre zum Zeitpunkt ihres Gewinnverteilungsbeschlusses zu verlangen haben. Begründet wird die geplante Neuregelung und damit die Pflicht der Gesellschaft zur Aktionärsidentifizierung mit einer vorbeugenden Verhinderung von Betrug insbesondere bei der Erstattung von Kapitalertragsteuer. Anders als § 67d Abs. 1 AktG vorsieht, würde das Recht der Gesellschaft auf Aktionärsidentifikation daher in eine entsprechende Pflicht umgewandelt.

Eine solche Verpflichtung zur Aktionärsidentifizierung ist jedoch abzulehnen. Es war niemals Absicht des europäischen und/oder des deutschen Gesetzgebers, das Recht auf Aktionärsidentifizierung in eine entsprechende Verpflichtung mit Gesetzesrang umzukehren. Zudem sieht der Regierungsentwurf des AbzStEntModG an keiner Stelle vor, wie sich eine etwaige Verpflichtung nach § 45b Abs. 9 EStG-E zur reinen Ermöglichungsfunktion des § 67d Abs. 1 AktG sowohl rechtsmethodisch als auch faktisch verhalten soll. Aus aktienrechtlicher Sicht wäre somit eine Rücknahme des so ausgestalteten § 45b Abs. 9 EStG-E zu befürworten.

Ausführlicher zur Pflicht zur Aktionärsidentifizierung Stiegler in AG 2021, R86.

„Weihnachtsgeschenk“ des Gesetzgebers: Virtuelle Hauptversammlung (HV) 4.0!

Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens als „Omnibus“-Gesetz in einem Husarenritt (siehe die enge Taktfolge von Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 15.12.2020, BT-Drucks. 19/25251, dazu erläuternder Bericht der Abgeordneten Dr. Heribert Hirte, Dr. Karl-Heinz Brunner, Fabian Jacobi, Judith Skudelny, Gökay Akbulut und Dr. Manuela Rottmann, BT-Drucks. 19/25322 vom 16.12.2020, Plenardebatte des Deutschen Bundestages vom 17.12.2020, Plenarprotokoll 19/202, dort insbesondere 25377-25381 und Beschluss des Bundesrates vom 18.12.2020, BR-Drucks. 761/20) kurz vor Jahresende die Rechtsgrundlagen für die Durchführung virtueller Hauptversammlungen in 2021 geändert. 

I. Paradigmenwechsel von der Fragemöglichkeit zurück zum Fragerecht

1. Die Neuregelung und deren ratio

Zum Anliegen der gesetzlichen Neuregelung berichtet der Rechtsausschuss (BT Drucks. 19/25322, 10) kurz und knapp:

Hervorzuheben sei hier, dass der Vorstand auf der Hauptversammlung nun nicht mehr über das „Ob“ des Fragerechts von Aktionären entscheiden könne, sondern nur noch über das „Wie“ der Beantwortung.“

Gemündet hat dies in die Änderung von § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG, wo in Satz 1 die Wörter „eine Fragemöglichkeit“ durch „ein Fragerecht“ ersetzt wurden und dessen Satz 2 nun lautet:

„Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, wie er Fragen beantwortet; er kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.“

2. Ausgewählte offene Fragen und Probleme der Neuregelung

a) Das erste Problem der Neuregelung beginnt bereits mit der Frage, was „bis spätestens einen Tag vor der Versammlung“ bedeutet. Das führt nämlich unmittelbar zurück zum Streitstand, der sich an der entsprechenden Zweitagesfrist des § 1 GesRuaCOVBekG entzündet hat.

Diese Debatte hätte der Gesetzgeber durch ein klarstellendes Wort gleich miterledigen können. Die Chance hat er zwar vertan, die Praxis wird sich aber dadurch Rechtssicherheit verschaffen können, dass sie sich an der für die Aktionäre jeweils günstigsten Meinung orientiert und die Belastung der Gesellschaft hierdurch in Kauf nimmt. Dies wäre die punktgenaue Berechnung in Stunden rückgerechnet vom Beginn der virtuellen Hauptversammlung. Zwingend geboten ist dies unseres Erachtens aber nicht, weil der Gesetzeswortlaut jedenfalls bei börsennotierten Aktiengesellschaften eindeutig und unabdingbar ist, wenn man das Aktiengesetz in den Blick nimmt, wo § 121 Abs. 7 AktG schon nach seinem Wortlaut zweifelsfrei einen „Allgeltungsanspruch“ hat.

b) Das leitet über zum größten Problem der Neuregelung. In der klassischen Präsenzhauptversammlung kann es nicht zur Überforderung der Gesellschaft durch zahlreiche Fragen kommen, deren Beantwortung soviel Zeit braucht, dass die Hauptversammlung nicht mehr bis Mitternacht zu beenden ist. Denn die Möglichkeiten der Redezeitbegrenzung, der Schließung der Rednerliste und der Schließung der Debatte durch den Versammlungsleiter verhindern, dass es dazu kommen kann.

Das ist bei einer virtuellen Hauptversammlung anders. Hier können, insbesondere wenn gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren, tausende Fragen eingereicht werden, die eine Einreichungsfrist, egal wie berechnet, nicht verhindern kann. Deren Beantwortung in der virtuellen Hauptversammlung kann schnell dazu führen, dass diese mehr Stunden dauert als man bis Mitternacht hat, also „gesprengt“ wird, soweit man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt. Daher hatte der Gesetzgeber gerade nichts falsch gemacht, als er im März 2020 nur eine Fragemöglichkeit regelte. Der Sündenfall ist der „Dezember“-Beschluss. Dies wirft die Frage der Schadensbegrenzung auf:

aa) Hier bietet der Hinweis der Gesetzesmaterialien auf die „schriftliche“ Beantwortung nur eine fragile Abhilfe. Denn das kann nicht bilateral gelten, sondern jede Antwort muss – wie in der Präsenzhauptversammlung – auch allen Mitaktionären zur Verfügung stehen, was zur Beantwortung über die Webseite der Gesellschaft führt. § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 AktG verlangt für solche Antworten aber an sich, dass Antworten über die Webseite bereits 7 Tage vor der Hauptversammlung verfügbar sein sollen. Das kann bei Fragen, die man auch nach diesem Tag noch stellen kann, nicht eingehalten werden. Unseres Erachtens wird das Gesetz insoweit wohl im Sinne einer impliziten Abbedingung der 7-Tages-Frist zu lesen sein.

bb) Auch nicht zwingend zielführend ist der Hinweis in den Gesetzesmaterialien auf die Möglichkeit, gleichartige Fragen gebündelt zu beantworten. Gerade gut organisierte aktivistische Aktionäre werden die nötige Sorgfalt aufbringen, um mit ihren Anwälten hinreichend verschiedene Fragen in großer Zahl zu stellen. Dann läuft diese „Erleichterung“ für den Vorstand im Rahmen der Beantwortung leer.

cc) Interessanter ist der Hinweis der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 19/25322, 10) auf die Möglichkeit, einer „zeitlichen Obergrenze“ für Fragen. Gemeint ist wohl genauer eine zeitliche Obergrenze für die Beantwortung von Fragen in der virtuellen Hauptversammlung. Das steht zwar auf den ersten Blick in Widerspruch zur neuen Antwortpflicht, aber eben nur auf den ersten Blick. Denn natürlich ist auch in der Präsenzhauptversammlung das Auskunftsrecht des § 131 AktG durch die Leitungsbefugnisse des Versammlungsleiters zu Redezeitbegrenzung, Schluss der Rednerliste und Schluss der Debatte faktisch begrenzt. Nichts anderes gilt, wenn man also in der Einberufung der virtuellen Hauptversammlung festlegt, dass für die Beantwortung von Fragen beispielsweise höchstens acht Stunden zur Verfügung stehen.

c) Eine weitere Folgefrage der Umstellung auf ein Fragerecht ist schließlich auch, ob man das Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG wird zulassen müssen, was man bislang aufgrund der bloßen Fragemöglichkeit verneint hatte. Im Ergebnis wird man hier unseres Erachtens nicht anders urteilen müssen, denn die Gesetzbegründung stellt auch das neue Fragerecht dem Auskunftsrecht des § 131 AktG nicht vollständig gleich, wenn es dem Vorstand weiterhin erlaubt ist, dass er Fragen und deren Beantwortung zusammenfassen kann, wenn ihm dies sinnvoll erscheint. Für eine Anwendung der Vorschrift des § 132 AktG spricht allerdings zugegebenermaßen, dass der Gesetzgeber den Aktionären dezidiert ein Fragerecht geben will. Entscheiden werden (auch) das erst die Gerichte.

d) Hingegen sollte der breite Ausschluss der Anfechtungsklage aufgrund des insoweit unveränderten Gesetzeswortlauts in § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG weiter Raum greifen.

II. Nachfragemöglichkeit auch in der Hauptversammlung 

Aufgrund einer unglücklichen formulierten Erläuterung der Koalitionsfraktionen ist ein Streit entbrannt, ob in der virtuellen Hauptversammlung zudem auch die Möglichkeit zur Gewährung von Nachfragen zu eröffnen ist. Daraus leiten interessierte Kreise bereits entsprechende Rechtspflichten ab. Diese zu bejahen, würde freilich zu erheblichen (Kosten)Belastungen der virtuellen Hauptversammlung führen, weil diese dann in einer geeigneten Form interaktiv mittels Zwei-Wege-Kommunikation auszugestalten wäre.

Hier wird jedoch übersehen, dass die virtuelle Hauptversammlung nach ihren rechtlichen Grundlagen, grundsätzliche Antwortpflicht hin oder her, gerade nicht auf einen Dialog ausgerichtet ist. Unzweifelhaft besteht nach § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG keine Pflicht des Vorstands, eine elektronische Teilnahme in einer virtuellen Hauptversammlung vorzusehen. Insoweit wäre ein verpflichtender Aktionärsdialog in Form einer Zwei-Wege-Kommunikation ein offener Bruch mit dem Gesetzeswortlaut.

III.  Fiktion zur Stellung von Anträgen

Eine weitere wichtige Änderung findet sich in § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG neuer Fassung, der nun regelt:

„Anträge oder Wahlvorschläge von Aktionären, die nach § 126 oder § 127 des Aktiengesetzes zugänglich zu machen sind, gelten als in der Versammlung gestellt, wenn der den Antrag stellende oder den Wahlvorschlag unterbreitende Aktionär ordnungsgemäß legitimiert und zur Hauptversammlung angemeldet ist.“

Auch das ist eine klare Abkehr von der bisherigen Rechtslage. Kritisch daran ist, dass wiederum die Tür dazu geöffnet wird, dass gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren und zahlreiche Anträge rechtzeitig eingereicht werden, deren Behandlung (insbesondere in Kombination mit vielen Fragen) soviel Zeit benötigt, dass eine virtuelle Hauptversammlung über Mitternacht hinaus dauert, also „gesprengt“ wird, wenn man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt.

Auch wenn hier weder Gesetzeswortlaut, noch Gesetzesmaterialien den Hinweis auf eine Beschränkung der Zeitdauer für die Behandlung von Gegenanträgen enthalten, wird man eine solche Möglichkeit mit einem „erst recht“-Schluss aus der Möglichkeit in der Präsenzhauptversammlung zur Schließung der Rednerliste und damit implizit zur faktischen Beendigung der Möglichkeit zur Stellung von Anträgen ableiten können. 

IV. Zeitlicher Anwendungsbereich

Die Übergangregelung aus Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht ordnet die Geltung der neuen Bestimmungen mit einer zweimonatigen Übergangszeit an. Hier scheint der Gesetzgeber in den Dimensionen der aktienrechtlichen Einberufungsfristen des § 123 AktG gedacht zu haben. Dies verkennt freilich, dass die Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einberufung der Hauptversammlung nicht in Sondersitzungen fallen, die rückwärts gerechnet vom Tag der Hauptversammlung terminiert werden, sondern „ganz normal“ in den turnusmäßigen Sitzungen, was regelmäßig zu längeren Fenstern zwischen den Entscheidungen der Organe, der Einberufung und der Durchführung der Hauptversammlung führt. Es bedarf daher keiner großen Phantasie, um zu erahnen, dass das übereilte Vorpreschen des Gesetzgebers einzelne Gesellschaften zwingen wird, nochmals Vorstand und Aufsichtsrat einzuberufen, um auf Grundlage der am Tag der Hauptversammlung geltenden Aktionärsrechte neu zu beraten und zu entscheiden.

Eine Übergangsregelung nach dem Vorbild des § 26j Abs. 3 und Abs. 4 EGAktG hätte dies vermieden.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt in Ausgabe 3/2021 der AG.

RA Dr. Stefan Mutter und RA Dr. Carsten Kruchen, M.Jur. (Oxford),
MUTTER & KRUCHEN Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB

Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig und Prof. Dr. Carsten Schäfer im Interview zu aktuellen Entwicklungen im Vorstandsrecht

Das Vorstandsrecht ist aktuell ordentlich in Bewegung. Berater müssen sich insbesondere mit den neuen Entwicklungen nach dem ARUG II auseinandersetzen. Eine besondere Herausforderung stellt überdies auch in diesem Rechtsbereich die Corona- bzw. Covid-19-Pandemie dar. Ich habe vor diesem Hintergrund mit den Autoren des Standardwerks „Rechte und Pflichten des Vorstands“, RA Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig [1] und Prof. Dr. Carsten Schäfer [2], über die wichtigsten Veränderungen gesprochen.

Peters: In Ihrem Standardwerk konzentrieren Sie sich auf die Rechte und Pflichten des Vorstands. Welche neuen und zusätzlichen sind insoweit nach Inkrafttreten des ARUG II am 1.1.2020 besonders zu erwähnen?

Schäfer: In der Tat haben viele neue Regelwerke auch die Vorstandspflichten zumindest indirekt verändert. Das gilt für das Kapitalmarktrecht nach der MAR ebenso wie für die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG II. Erwähnt seien nur die Regelungen zu „Related Party Transactions“ und zur Vergütungsentscheidung der Hauptversammlung („Say on Pay“), aber auch der neue Corporate Governance Kodex 2020.

Traditionsgemäß sind zudem die Themen Vergütung und Haftung, Organisation und Delegation sowie – last not least – Compliance in beständigem Fluss und müssen auf der Pflichtenseite nachgehalten werden.

Peters: Gibt es Fallstricke, auf die Vorstandsmitglieder und deren Berater besonders achten müssen?

Ihrig: Für die neuen Bestimmungen durch das ARUG II hat der Gesetzgeber leider nur in Teilbereichen Übergangsvorschriften vorgesehen. Für die neuen Regelungen zu Transaktionen mit nahestehenden Personen, deren Reichweite deutlich über Konzernsituationen hinausreichen, ist das zum Beispiel nicht der Fall. Diese Bestimmungen sind also unmittelbar in Kraft getreten und zu beachten. Soweit Gesellschaften das insoweit erforderliche Monitoring-System zur Erfassung relevanter Vorgänge noch nicht etabliert haben, ist also höchste Eile geboten. Aber auch dort, wo Übergangsvorschriften gelten, wie etwa im Bereich der Vergütungssysteme für Vorstand und Aufsichtsrat und für geänderte Publikationspflichten, wird die Zeit zur Vorbereitung langsam knapp.

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Entlastet den Vorstand: 

Die zweite Auflage des umfassenden Handbuchs befasst sich in systematischer Darstellung mit allen Rechten und Pflichten des Vorstands. Dabei stehen das aktuelle Aktienrecht und die Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex besonders im Vordergrund. Hier informieren und bestellen!

 

 

Peters: Am 20.3.2020 ist zudem der neue DCGK (2020) im BAnz. veröffentlicht worden. Auch ihn behandeln Sie ausführlich und mithin sehr aktuell in Ihrem Buch. Welche Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen sind besonders beachtenswert und bringen Änderungen gegenüber der vorherigen Fassung des Kodex?

Ihrig: Zu konstatieren ist zunächst, dass der Kodex im systematischen Aufbau völlig neu gestaltet worden ist; das erschwert den Abgleich des Status Quo mit den Kodexvorgaben bei Vorbereitung der nächsten Entsprechenserklärung. Neu ist auch die Einführung sogenannter „Grundsätze“, die an die Stelle der gesetzeswiederholenden Passagen des Kodex treten. Besondere Beachtung verdienen aus Sicht des Vorstands zum Einen die Empfehlung in B.3, dass Erstbestellungen für längstens drei Jahre erfolgen sollen, zum Anderen die Empfehlungen zur Vorstandsvergütung, namentlich die in G.10, dass langfristig variable Vergütungen überwiegend in Aktien oder aktienbasiert gewährt werden sollen und die Vorstandsverträge Claw-Back-Optionen vorsehen sollen. Wichtig sind natürlich auch die neuen Bestimmungen zum Aufsichtsrat, insbesondere diejenigen, die die Unabhängigkeit seiner Mitglieder konkretisieren.

Peters: Gibt es weitere erwähnenswerte Verschärfungen in der Pflichtensituation für den Vorstand, z.B. aufgrund einschlägiger Rechtsprechung?

Schäfer: Das Haftungsthema ist in der Tat im steten Fluss durch zahlreiche, auch instanzgerichtliche Judikate. Eine klare Tendenz ist nicht leicht erkennbar. Einerseits neigen die Gerichte nicht selten dazu, neue Pflichten zu „erfinden“, vor allem sog. Organisationspflichten, zum anderen gibt es aber auch gewisse mäßigende Tendenzen. Ich erwähne nur das Urteil des BGH zu Schloss Eller – dort hat es der II. Senat jetzt immerhin prinzipiell zugelassen, dass sich der Vorstand bei Übergehen eines Zustimmungsvorbehalts auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, also die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats beruft. Die Konsequenzen bedürfen freilich noch näherer Untersuchung.

Interessant ist auch, dass die gesamte Compliance-Debatte sich in rechtlicher Hinsicht bislang an einem vereinzelten Landgerichts-Urteil, dessen Aussagen m.E. aber teilweise nicht überzeugen können, teilweise wohl auch missverstanden werden. Hier gilt es unbedingt eher mäßigende Akzente zu setzen –

Peters: Zum Schluss würde mich natürlich noch ein aktueller Blick auf die derzeitige Covid-19-Situation aus Ihrer Sicht interessieren: Welche Fragen sind aktuell die dringendsten aus der Vorstandsetage und was raten Sie den Vorständen?

Schäfer: Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Corona-Gesetz ist zur Zeit sicherlich ein großes Thema, zumal die Regeln zwar weitgehende Eingriffe in die Aktionärsrechte zulassen, aber nicht zwingend vorgeben. Hier gilt es also, ein für die konkrete Gesellschaft passendes – und technisch durchführbares – Format zu finden. Diese Entscheidung wird durch zahlreiche Zweifelsfragen, welche die Neuregelung aufgeworfen hat, nicht unbedingt erleichtert. Allerdings ist es hoch anzurechnen, dass die Bundesregierung in einem derartigen Tempo ein Instrument geschaffen hat, das den Aktiengesellschaften ihre unabdingbare Beschlussfähigkeit erhält.

Sehr aktuell sind naturgemäß auch Vorstandspflichten in der Krise, die auch Thema unseres Buches sind. Zwar sind die insolvenzrechtlichen Antragspflichten durch die COVID-Gesetzgebung teilweise vorübergehend suspendiert, doch bleibt es bei strengen Überwachungspflichten in Krisensituation und in Teilbereichen stellen sich komplexe Abgrenzungsfragen, wie etwa bei den Bestimmungen zur sog. „Notgeschäftsführung“ zu den unverändert gebliebenen Tatbestand des Eingehungsbetrugs.. Sanierungsfälle werden wir infolge der Corona-Krise jetzt deutlich häufiger beobachten; es gibt aber auch zahlreiche staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die eventuell in Anspruch genommen werden können. So können sich etwa Vorstände vor die Wahl gestellt sehen, ob sie staatliche Rettungsbeteiligungen in Anspruch nehmen oder lieber ein insolvenzrechtliches Schutzschirmverfahren zur grundsätzlichen Bereinigung der Bilanz auf der Passivseite einleiten wollen. All‘ dies bedarf einer sorgfältigen Ermittlung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des jeweiligen Instruments.

Peters: Wird es zu diesen aktuellen Covid-19-Themen ein Update in Ihrem Buch, das auch Bestandteil in der Otto Schmidt-Datenbank und bei juris ist, geben? Denn momentan befinden sich auch viele Berater und Vorstände im Homeoffice und könnten aktuelle Online-Versionen besonders gut nutzen.

Ihrig und Schäfer: Wir hoffen und wünschen uns allen sehr, dass diese Pandemie und die mit ihr einhergehende Sondergesetzgebung ein rasch hinter uns liegendes Thema sein wird. Sofern sich hieraus aber, etwa bei einer grundlegenden Reformierung des Rechts der Hauptversammlung, Änderungen von Dauer einstellen werden, wird dies gewiss ein Thema sein, dem wir uns in der nächsten Auflage unseres Buches zu den Rechten und Pflichten des Vorstands gerne annehmen werden.

Herzlichen Dank für diese wertvollen Hinweise!

 

[1] Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor in Mannheim.

[2] Prof. Dr. Carsten Schäfer ist Universitätsprofessor, Lehr­stuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Universität Mannheim

Das Interview hat Dr. Birgitta Peters, Geschäftsbereichsleiterin Recht im Verlag Dr. Otto Schmidt, geführt.

Verlängerte HV-Einberufungsfrist nun auch für Europäische Aktiengesellschaften (SE)?

Am 29.4.2020 hat die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag publiziert, nach dem Europäische Aktiengesellschaften (SE) in diesem Jahr die Möglichkeit erhalten sollen, ihre ordentliche Hauptversammlung nicht – wie bislang – in den ersten sechs, sondern innerhalb von zwölf Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahrs abzuhalten (spätestens jedoch bis 31.12.2020).

Vergleichbare Regelung besteht bereits für AG und KGaA

Ende März hatte der deutsche Gesetzgeber bereits für Aktiengesellschaften (AG) und Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) im Zuge des „Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVID-19-Gesetz) die Möglichkeit eingeführt, die ordentliche HV innerhalb von 12 Monaten (statt 8 Monaten) nach Ablauf des Geschäftsjahrs stattfinden zu lassen. Eine entsprechende Erstreckung auch auf die SE war jedoch mangels Gesetzgebungskompetenz nicht möglich, da die Frist zur Abhaltung der ordentlichen SE-Hauptversammlung im europäischen Recht (Art. 54 Abs. 1 SE-VO) normiert ist.

Verschiebung der SE-HV würde zur echten Alternative

Bislang führte dies für sämtliche SE zu der misslichen Situation, dass sie faktisch nur die Option hatten, eine (virtuelle) Hauptversammlung innerhalb des ersten Halbjahres abzuhalten und nicht – wie es das nationale COVID-19-Gesetz auch für die SE vorsieht – eine Verschiebung der Hauptversammlung in Betracht zu ziehen. In noch größere „Zeitnot“ kamen SE, die ein vom Kalenderjahr abweichendes Geschäftsjahr haben. Zwar ist im Falle der Missachtung der HV-Frist (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AktG) beispielweise die Festsetzung von Zwangsgeld oder das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs gegen die Unternehmensleitung denkbar. In der Praxis hat eine Fristversäumung jedoch üblicherweise keine praktischen Auswirkungen. Dennoch ist der Vorschlag der EU-Kommission zur Fristverlängerung ausdrücklich zu begrüßen, um der Unternehmensleitung die Sorge gesetzes- und sorgfaltswidrigen Verhaltens zu nehmen und mehrere Handlungsoptionen zur (zeitlichen) HV-Durchführung zu geben.

Schnelles Inkrafttreten zu erwarten

Die EU-Verordnung soll bereits am Tag nach Bekanntmachung im EU-Amtsblatt in Kraft treten.

Eine zeitnahe Verabschiedung der Verordnung wäre wünschenswert, damit auch SE die Möglichkeit erhalten, ihre ordentliche Hauptversammlung erst im zweiten Halbjahr abzuhalten, ob als virtuelle HV oder (sofern möglich) Präsenz-HV.