Pflicht zur Aktionärsidentifizierung durch die Hintertür?

Gemäß § 67d Abs. 1 AktG können börsennotierte Gesellschaften die Identität ihrer Aktionäre und der Intermediäre in Erfahrung bringen. Die Aktionärsidentifikation dient dabei vor allem dazu, die Kommunikation der Gesellschaft mit ihren Aktionären zu verbessern und dadurch deren Mitwirkung zur nachhaltigen Unternehmensentwicklung zu fördern. Weder nach deutschem noch nach zugrundeliegendem europäischem Recht wird dabei eine Pflicht für die Gesellschaft statuiert, Aktionärsinformationen über Intermediäre einzuholen.

Am 20.1.2021 wurde der Regierungsentwurf eines Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) vorgestellt, wonach gem. § 45b Abs. 9 EStG-E börsennotierte Gesellschaften die Informationen über die Identität ihrer Aktionäre zum Zeitpunkt ihres Gewinnverteilungsbeschlusses zu verlangen haben. Begründet wird die geplante Neuregelung und damit die Pflicht der Gesellschaft zur Aktionärsidentifizierung mit einer vorbeugenden Verhinderung von Betrug insbesondere bei der Erstattung von Kapitalertragsteuer. Anders als § 67d Abs. 1 AktG vorsieht, würde das Recht der Gesellschaft auf Aktionärsidentifikation daher in eine entsprechende Pflicht umgewandelt.

Eine solche Verpflichtung zur Aktionärsidentifizierung ist jedoch abzulehnen. Es war niemals Absicht des europäischen und/oder des deutschen Gesetzgebers, das Recht auf Aktionärsidentifizierung in eine entsprechende Verpflichtung mit Gesetzesrang umzukehren. Zudem sieht der Regierungsentwurf des AbzStEntModG an keiner Stelle vor, wie sich eine etwaige Verpflichtung nach § 45b Abs. 9 EStG-E zur reinen Ermöglichungsfunktion des § 67d Abs. 1 AktG sowohl rechtsmethodisch als auch faktisch verhalten soll. Aus aktienrechtlicher Sicht wäre somit eine Rücknahme des so ausgestalteten § 45b Abs. 9 EStG-E zu befürworten.

Ausführlicher zur Pflicht zur Aktionärsidentifizierung Stiegler in AG 2021, R86.

Das Update zum „Update Frauenquote“ – das FüPoG II

Im Anschluss an das vor knapp einem Jahr veröffentlichte „Update Frauenquote“ zum FüPoG II (s. Mutter, „‘Update Frauenquote‘ – das FüPoG II“, Blog Gesellschaftsrecht v. 28.2.2020) ist über den mittlerweile vorliegenden Regierungsentwurf zu berichten (abrufbar https://www.bmfsfj.de/blob/164128/e8fc2d9afec92b9bd424f89ec28f2e5b/gesetzentwurf-aenderung-fuepog-data.pdf). Wie damals prognostiziert, findet sich ein Kern der Initiative in der Ausweitung der Quotenregelungen. Für bestimmte börsennotierte und mitbestimmte Aktiengesellschaften sowie solche mit qualifizierter Beteiligung des Bundes muss fortan der Vorstand, falls er aus mehr als drei Mitgliedern bestehen sollte, mit mindestens einer Frau und mindestens einem Mann besetzt sein. Überraschend angesichts der ausufernden Staatshilfen in der COVID-19-Pandemie ist, dass man Gesellschaften, die durch Bund „gerettet“ wurden, nicht ebenfalls den verschärften Anforderungen unterwirft.

Rechtspolitisch fällt auf, dass der Regierungsentwurf mit der Regulierung jeweils nur eines Sitzes im Vorstand deutlich hinter den laufenden europäischen Überlegungen (dazu letzthin Mutter, AG 2020, 830) zurückbleibt, die auf einen Mindestanteil von 40 % Frauen und Männern in Vorstand und Aufsichtsrat zielen. Der Regierungsentwurf verdient daher insoweit wohl eher das Prädikat einer „kleinen Einstiegsregulierung“ anstatt besonderes Lob für einen mutigen Schritt. Auch hat man sich in Berlin noch keine Gedanken dazu gemacht, ob Übererfüllungen in einen der beiden Verwaltungsorgane zu „Anrechnungen“ im anderen führen könnten, wie das auf europäischer Ebene im Richtlinienentwurf schon lange angedacht ist.  Nur für Rechtsdogmatiker interessant ist hingegen wohl, dass man mit dem Regierungsentwurf durch die neuen Quoten zugunsten zweier Geschlechter anscheinend auf eine verfassungsrechtliche Absicherung der Neuregelung durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. Mutter in FS E. Vetter, 2019, S. 489, 494) verzichtet.

Alles Weitere bewegt sich mehr oder minder im Kreis der Erwartungen: Wie bereits im ersten Update (s. Mutter, „‘Update Frauenquote‘ – das FüPoG II“, Blog Gesellschaftsrecht v. 28.2.2020) berichtet, soll nach neuem Recht die Festlegung der Zielgröße „Null“ für den Vorstand, die beiden obersten Führungsebenen unterhalb des Vorstands und den Aufsichtsrat begründet werden. Im Handelsbilanzrecht werden nach Vorstellung der Bundesregierung jeweils flankierende Berichtspflichten und Sanktionen eingeführt.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt im AG-Report 4/2021.

„Weihnachtsgeschenk“ des Gesetzgebers: Virtuelle Hauptversammlung (HV) 4.0!

Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens als „Omnibus“-Gesetz in einem Husarenritt (siehe die enge Taktfolge von Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 15.12.2020, BT-Drucks. 19/25251, dazu erläuternder Bericht der Abgeordneten Dr. Heribert Hirte, Dr. Karl-Heinz Brunner, Fabian Jacobi, Judith Skudelny, Gökay Akbulut und Dr. Manuela Rottmann, BT-Drucks. 19/25322 vom 16.12.2020, Plenardebatte des Deutschen Bundestages vom 17.12.2020, Plenarprotokoll 19/202, dort insbesondere 25377-25381 und Beschluss des Bundesrates vom 18.12.2020, BR-Drucks. 761/20) kurz vor Jahresende die Rechtsgrundlagen für die Durchführung virtueller Hauptversammlungen in 2021 geändert. 

I. Paradigmenwechsel von der Fragemöglichkeit zurück zum Fragerecht

1. Die Neuregelung und deren ratio

Zum Anliegen der gesetzlichen Neuregelung berichtet der Rechtsausschuss (BT Drucks. 19/25322, 10) kurz und knapp:

Hervorzuheben sei hier, dass der Vorstand auf der Hauptversammlung nun nicht mehr über das „Ob“ des Fragerechts von Aktionären entscheiden könne, sondern nur noch über das „Wie“ der Beantwortung.“

Gemündet hat dies in die Änderung von § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG, wo in Satz 1 die Wörter „eine Fragemöglichkeit“ durch „ein Fragerecht“ ersetzt wurden und dessen Satz 2 nun lautet:

„Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, wie er Fragen beantwortet; er kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.“

2. Ausgewählte offene Fragen und Probleme der Neuregelung

a) Das erste Problem der Neuregelung beginnt bereits mit der Frage, was „bis spätestens einen Tag vor der Versammlung“ bedeutet. Das führt nämlich unmittelbar zurück zum Streitstand, der sich an der entsprechenden Zweitagesfrist des § 1 GesRuaCOVBekG entzündet hat.

Diese Debatte hätte der Gesetzgeber durch ein klarstellendes Wort gleich miterledigen können. Die Chance hat er zwar vertan, die Praxis wird sich aber dadurch Rechtssicherheit verschaffen können, dass sie sich an der für die Aktionäre jeweils günstigsten Meinung orientiert und die Belastung der Gesellschaft hierdurch in Kauf nimmt. Dies wäre die punktgenaue Berechnung in Stunden rückgerechnet vom Beginn der virtuellen Hauptversammlung. Zwingend geboten ist dies unseres Erachtens aber nicht, weil der Gesetzeswortlaut jedenfalls bei börsennotierten Aktiengesellschaften eindeutig und unabdingbar ist, wenn man das Aktiengesetz in den Blick nimmt, wo § 121 Abs. 7 AktG schon nach seinem Wortlaut zweifelsfrei einen „Allgeltungsanspruch“ hat.

b) Das leitet über zum größten Problem der Neuregelung. In der klassischen Präsenzhauptversammlung kann es nicht zur Überforderung der Gesellschaft durch zahlreiche Fragen kommen, deren Beantwortung soviel Zeit braucht, dass die Hauptversammlung nicht mehr bis Mitternacht zu beenden ist. Denn die Möglichkeiten der Redezeitbegrenzung, der Schließung der Rednerliste und der Schließung der Debatte durch den Versammlungsleiter verhindern, dass es dazu kommen kann.

Das ist bei einer virtuellen Hauptversammlung anders. Hier können, insbesondere wenn gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren, tausende Fragen eingereicht werden, die eine Einreichungsfrist, egal wie berechnet, nicht verhindern kann. Deren Beantwortung in der virtuellen Hauptversammlung kann schnell dazu führen, dass diese mehr Stunden dauert als man bis Mitternacht hat, also „gesprengt“ wird, soweit man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt. Daher hatte der Gesetzgeber gerade nichts falsch gemacht, als er im März 2020 nur eine Fragemöglichkeit regelte. Der Sündenfall ist der „Dezember“-Beschluss. Dies wirft die Frage der Schadensbegrenzung auf:

aa) Hier bietet der Hinweis der Gesetzesmaterialien auf die „schriftliche“ Beantwortung nur eine fragile Abhilfe. Denn das kann nicht bilateral gelten, sondern jede Antwort muss – wie in der Präsenzhauptversammlung – auch allen Mitaktionären zur Verfügung stehen, was zur Beantwortung über die Webseite der Gesellschaft führt. § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 AktG verlangt für solche Antworten aber an sich, dass Antworten über die Webseite bereits 7 Tage vor der Hauptversammlung verfügbar sein sollen. Das kann bei Fragen, die man auch nach diesem Tag noch stellen kann, nicht eingehalten werden. Unseres Erachtens wird das Gesetz insoweit wohl im Sinne einer impliziten Abbedingung der 7-Tages-Frist zu lesen sein.

bb) Auch nicht zwingend zielführend ist der Hinweis in den Gesetzesmaterialien auf die Möglichkeit, gleichartige Fragen gebündelt zu beantworten. Gerade gut organisierte aktivistische Aktionäre werden die nötige Sorgfalt aufbringen, um mit ihren Anwälten hinreichend verschiedene Fragen in großer Zahl zu stellen. Dann läuft diese „Erleichterung“ für den Vorstand im Rahmen der Beantwortung leer.

cc) Interessanter ist der Hinweis der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 19/25322, 10) auf die Möglichkeit, einer „zeitlichen Obergrenze“ für Fragen. Gemeint ist wohl genauer eine zeitliche Obergrenze für die Beantwortung von Fragen in der virtuellen Hauptversammlung. Das steht zwar auf den ersten Blick in Widerspruch zur neuen Antwortpflicht, aber eben nur auf den ersten Blick. Denn natürlich ist auch in der Präsenzhauptversammlung das Auskunftsrecht des § 131 AktG durch die Leitungsbefugnisse des Versammlungsleiters zu Redezeitbegrenzung, Schluss der Rednerliste und Schluss der Debatte faktisch begrenzt. Nichts anderes gilt, wenn man also in der Einberufung der virtuellen Hauptversammlung festlegt, dass für die Beantwortung von Fragen beispielsweise höchstens acht Stunden zur Verfügung stehen.

c) Eine weitere Folgefrage der Umstellung auf ein Fragerecht ist schließlich auch, ob man das Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG wird zulassen müssen, was man bislang aufgrund der bloßen Fragemöglichkeit verneint hatte. Im Ergebnis wird man hier unseres Erachtens nicht anders urteilen müssen, denn die Gesetzbegründung stellt auch das neue Fragerecht dem Auskunftsrecht des § 131 AktG nicht vollständig gleich, wenn es dem Vorstand weiterhin erlaubt ist, dass er Fragen und deren Beantwortung zusammenfassen kann, wenn ihm dies sinnvoll erscheint. Für eine Anwendung der Vorschrift des § 132 AktG spricht allerdings zugegebenermaßen, dass der Gesetzgeber den Aktionären dezidiert ein Fragerecht geben will. Entscheiden werden (auch) das erst die Gerichte.

d) Hingegen sollte der breite Ausschluss der Anfechtungsklage aufgrund des insoweit unveränderten Gesetzeswortlauts in § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG weiter Raum greifen.

II. Nachfragemöglichkeit auch in der Hauptversammlung 

Aufgrund einer unglücklichen formulierten Erläuterung der Koalitionsfraktionen ist ein Streit entbrannt, ob in der virtuellen Hauptversammlung zudem auch die Möglichkeit zur Gewährung von Nachfragen zu eröffnen ist. Daraus leiten interessierte Kreise bereits entsprechende Rechtspflichten ab. Diese zu bejahen, würde freilich zu erheblichen (Kosten)Belastungen der virtuellen Hauptversammlung führen, weil diese dann in einer geeigneten Form interaktiv mittels Zwei-Wege-Kommunikation auszugestalten wäre.

Hier wird jedoch übersehen, dass die virtuelle Hauptversammlung nach ihren rechtlichen Grundlagen, grundsätzliche Antwortpflicht hin oder her, gerade nicht auf einen Dialog ausgerichtet ist. Unzweifelhaft besteht nach § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG keine Pflicht des Vorstands, eine elektronische Teilnahme in einer virtuellen Hauptversammlung vorzusehen. Insoweit wäre ein verpflichtender Aktionärsdialog in Form einer Zwei-Wege-Kommunikation ein offener Bruch mit dem Gesetzeswortlaut.

III.  Fiktion zur Stellung von Anträgen

Eine weitere wichtige Änderung findet sich in § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG neuer Fassung, der nun regelt:

„Anträge oder Wahlvorschläge von Aktionären, die nach § 126 oder § 127 des Aktiengesetzes zugänglich zu machen sind, gelten als in der Versammlung gestellt, wenn der den Antrag stellende oder den Wahlvorschlag unterbreitende Aktionär ordnungsgemäß legitimiert und zur Hauptversammlung angemeldet ist.“

Auch das ist eine klare Abkehr von der bisherigen Rechtslage. Kritisch daran ist, dass wiederum die Tür dazu geöffnet wird, dass gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren und zahlreiche Anträge rechtzeitig eingereicht werden, deren Behandlung (insbesondere in Kombination mit vielen Fragen) soviel Zeit benötigt, dass eine virtuelle Hauptversammlung über Mitternacht hinaus dauert, also „gesprengt“ wird, wenn man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt.

Auch wenn hier weder Gesetzeswortlaut, noch Gesetzesmaterialien den Hinweis auf eine Beschränkung der Zeitdauer für die Behandlung von Gegenanträgen enthalten, wird man eine solche Möglichkeit mit einem „erst recht“-Schluss aus der Möglichkeit in der Präsenzhauptversammlung zur Schließung der Rednerliste und damit implizit zur faktischen Beendigung der Möglichkeit zur Stellung von Anträgen ableiten können. 

IV. Zeitlicher Anwendungsbereich

Die Übergangregelung aus Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht ordnet die Geltung der neuen Bestimmungen mit einer zweimonatigen Übergangszeit an. Hier scheint der Gesetzgeber in den Dimensionen der aktienrechtlichen Einberufungsfristen des § 123 AktG gedacht zu haben. Dies verkennt freilich, dass die Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einberufung der Hauptversammlung nicht in Sondersitzungen fallen, die rückwärts gerechnet vom Tag der Hauptversammlung terminiert werden, sondern „ganz normal“ in den turnusmäßigen Sitzungen, was regelmäßig zu längeren Fenstern zwischen den Entscheidungen der Organe, der Einberufung und der Durchführung der Hauptversammlung führt. Es bedarf daher keiner großen Phantasie, um zu erahnen, dass das übereilte Vorpreschen des Gesetzgebers einzelne Gesellschaften zwingen wird, nochmals Vorstand und Aufsichtsrat einzuberufen, um auf Grundlage der am Tag der Hauptversammlung geltenden Aktionärsrechte neu zu beraten und zu entscheiden.

Eine Übergangsregelung nach dem Vorbild des § 26j Abs. 3 und Abs. 4 EGAktG hätte dies vermieden.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt in Ausgabe 3/2021 der AG.

RA Dr. Stefan Mutter und RA Dr. Carsten Kruchen, M.Jur. (Oxford),
MUTTER & KRUCHEN Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB

Entwurf für „Wirecard-Folgen“-Gesetz vorgelegt

Mitte Oktober wurde ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) veröffentlicht.

Der Referentenentwurf stellt eine Reaktion auf die Insolvenz des Zahlungsanbieters Wirecard und die hiermit verbundene öffentliche Kritik an der Abschlussprüfung des Unternehmens und der Finanzmarktaufsicht durch die BaFin dar. Der Gesetzesentwurf betont dabei ausdrücklich, dass Bilanzmanipulationen von Kapitalmarktunternehmen das Vertrauen in den deutschen Finanzmarkt erschüttern und ihm schweren Schaden zufügen.

Vor diesem Hintergrund sieht der Referentenentwurf grundlegende Reformen im Bereich der Abschlussprüfung, der Corporate Governance von (kapitalmarktorientierten) Unternehmen sowie der Finanzmarktaufsicht vor und erstreckt sich inhaltlich auf diverse Wirtschaftsgesetze. Die praxisrelevantesten Reformvorschläge des Entwurfs werden nachfolgend skizziert.

Stärker staatlich-hoheitlich geprägtes Bilanzkontrollverfahren

Reform & Regelungsort:  Das derzeitige zweistufige, auf freiwillige Mitwirkung der geprüften Unternehmen ausgerichtete Bilanzkontrollverfahren soll grundlegend reformiert werden, hin zu einem stärker staatlich-hoheitlich geprägten Bilanzkontrollverfahren. Denn bei mutmaßlichen betrügerischen Strukturen auf internationaler Ebene habe sich eine Kontrolle auf rein privatrechtlicher Ebene auf der ersten Stufe als ungeeignet erwiesen. Vor diesem Hintergrund soll das Bilanzkontrollverfahren künftig vollständig im WpHG geregelt werden (§§ 107a-107c WpHG-E, S. 54 RefE).

Mehr Befugnisse für BaFin:  Zudem sollen die Befugnisse der BaFin ausgeweitet werden, indem diese bei Verdacht von Bilanzverstößen direkt und unmittelbar mit hoheitlichen Befugnissen gegenüber Kapitalmarktunternehmen auftreten können soll. Hierzu erhält die BaFin gemäß dem Gesetzesentwurf

  • ein Prüfungsrecht gegenüber allen kapitalmarktorientierten Unternehmen (§ 264d HGB) einschließlich Auskunftsrechte gegen Dritte,
  • die Möglichkeit forensischer Prüfungen sowie
  • das Recht, die Öffentlichkeit früher als bisher über ihr Vorgehen bei der Bilanzkontrolle zu informieren.

Ziel: Durch diese Kompetenzen werde der BaFin die Kontrolle über das Prüfungsgeschehen ermöglicht und sichergestellt, dass in allen Prüfungsphasen hoheitliche Mittel zur Verfügung stehen. Bilanzkontrollen sollen auf diese Weise in Gänze schneller, transparenter und effektiver werden.

Stichproben- & Anlassprüfungen:  Zwar soll auch künftig noch eine privatrechtlich organisierte Einrichtung zur Prüfung von Verstößen gegen Rechnungsunterlagen (sog. Prüfstelle) anerkannt werden. Allerdings wird die Prüfstelle nach dem Referentenentwurf künftig lediglich für Stichprobenprüfungen zuständig sein, während Anlassprüfungen (= Prüfungen aufgrund konkreter Anhaltspunkte) allein die BaFin einleiten kann. Solche Anlassprüfungen kann die BaFin in der Folge entweder selbst durchführen oder auf die Prüfstelle oder andere Einrichtungen übertragen. Die Prüfung auf Verlangen der BaFin (sog. Verlangensprüfung) wird abgeschafft.

Stärkere Unabhängigkeit der Abschlussprüfer

Externer Prüferrotation:  Künftig soll für alle kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaften (§ 264d HGB) eine verpflichtende externe Prüferrotation nach zehn Jahren geben. Dieser Grundsatz ist in der europäischen Abschlussprüferverordnung niedergelegt, wobei bislang durch eine öffentliche Ausschreibung die Höchstbestelldauer auf bis zu 24 Jahre verlängert werden konnte. Durch die externe Prüferrotation soll der Gefahr einer zu großen Nähe der Abschlussprüfer zu dem geprüften Unternehmen entgegengewirkt und die Unabhängigkeit von Abschlussprüfern gestärkt werden. Darüber hinaus würde nach dem Referentenentwurf künftig ein Gleichlauf mit den Pflichten zur externen Rotation bei Kreditinstituten und Versicherungen erzielt, bei denen schon heute grundsätzlich eine zehnjährige Höchstlaufzeit für Abschlussprüfungsmandate gilt.

Trennung von Prüfung & Beratung:  Für Unternehmen von „öffentlichem Interesse“ (§ 316a S. 2 HGB n.F.) soll zudem die Pflicht zur Trennung von „Prüfung“ und „Beratung“ ausgeweitet werden. Unternehmen von öffentlichem Interesse werden definiert als kapitalmarktorientierte Unternehmen, bestimmte CRR-Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen. Dies kann als Reaktion auf die öffentliche Kritik verstanden werden, dass gerade die sog. „Big-4“ Prüfgesellschaften bei der Abschlussprüfung bisweilen Interessenkonflikten unterliegen können, weil sie auch in anderen Bereichen des Unternehmens beratend tätig sind bzw. sein wollen.

Schärfere Haftung der Abschlussprüfer:  Darüber hinaus ist beabsichtigt, die zivilrechtliche Haftung der Abschlussprüfer bei Pflichtverletzungen künftig gegenüber dem geprüften Unternehmen zu verschärfen, indem die Haftungshöchstgrenzen von 1 Mio. Euro allgemein für die Abschlussprüfung auf 2 Mio. Euro heraufgesetzt wird und für die Prüfung von Unternehmen von öffentlichem Interesse künftig 20 Mio. Euro beträgt (S. 55 RefE, § 323 Abs. 2 HGB-E). Darüber hinaus sollen Abschlussprüfer künftig auch in Fällen grober Fahrlässigkeit der Höhe nach unbeschränkt haften. Die Berufung auf eine Haftungshöchstgrenze soll für den Abschlussprüfer außerdem nicht mehr möglich sein, wenn er selbst zwar einfach fahrlässig handelte, sein Gehilfe aber vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, und dieses Verhalten des Gehilfen dem Prüfer nach allgemeinen haftungsrechtlichen Grundsätzen zuzurechnen ist (S. 102 RefE).

Qualitätssteigerung oder Marktkonzentration?  Ob die beabsichtige Anhebung der Haftungshöchstgrenzen zu einer Qualitätssteigerung der Abschlussprüfung beitragen kann oder nicht primär den Prozess beschleunigen würde, kleine und mittelständische Unternehmen weiter aus der Prüfung zu drängen, sollte kritisch hinterfragt werden. Schon seit einer Weile ist zu beobachten, dass immer weniger Prüfgesellschaften Unternehmen, deren Aktien zum Handel im regulierten Markt zugelassen sind, prüfen wollen wegen der damit verbundenen zusätzlichen berufsrechtlichen Anforderungen die sich nur dann rechnen, wenn ein Abschlussprüfer regelmäßig solche Prüfmandate hat. Die Neuregelungen werden zu erhöhten Versicherungskosten für die Regelprüfung führen und damit aller Wahrscheinlichkeit auch zu einer weiteren Konzentration im Prüfermarkt.

Verschärfung des Bilanzstrafrechts

Straftatbestände:  Im Bilanzstrafrecht soll durch gesetzliche Modifikationen eine erhöhte abschreckende Ahndung der Unternehmensverantwortlichen bei der Abgabe eines unrichtigen „Bilanzeids“ (künftig eigener Straftatbestand: § 331a HGB-E („unrichtige Versicherung“)) und der Abschlussprüfer bei Erteilung eines inhaltlich unrichtigen Bestätigungsvermerks zu Abschlüssen von Unternehmen von öffentlichem Interesse ermöglicht werden.

Ordnungswidrigkeiten:  Im Bilanzordnungswidrigkeitenrecht werden zudem die Bußgeldvorschriften für Abschlussprüfer, die Unternehmen von öffentlichem Interesse prüfen, inhaltlich ausgeweitet und der Bußgeldrahmen deutlich angehoben.

Angemessenes und wirksames internes Kontroll- und Risikomanagementsystem

Sorgfaltspflichten von Vorstand & Aufsichtsrat:  In § 93 AktG soll künftig in einem neuen Abs. 1a eine Präzisierung der Sorgfaltspflicht für den Vorstand bei börsennotierten Unternehmen (= regulierter Markt) erfolgen. Demnach umfasst künftig die Sorgfaltspflicht des Vorstands bei derartigen Gesellschaften „auch die Einrichtung eines im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems und Risikomanagementsystems.“ Durch die Klarstellungen „angemessenen“ und „wirksamen“ wird deutlich, dass der Vorstand künftig stärker noch als bislang, fortlaufend die Adäquanz des Kontrollsystems in Bezug auf die tatsächlichen Unternehmensumstände und die Effizienz des Compliancesystems überprüfen muss, um eine etwaige Haftung zu vermeiden. Gleiches gilt über den Verweis in § 116 AktG auch für den Aufsichtsrat des Unternehmens und dessen Kontrollpflichten. In der Begründung zum Referentenentwurf wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch bei nicht (im regulierten Markt) börsennotierten Unternehmen der Vorstand zu prüfen hat, ob die Einrichtung eines Risikomanagement- oder internen Kontrollsystems für das konkrete Unternehmen erforderlich und sinnvoll ist. Es wird auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Gleiches (unabhängig von der Börsennotierung) für die Einrichtung von Compliance-Management-Systemen gilt – dies sei bei „größeren“ Unternehmen erforderlich.

Eigener Prüfungsausschuss:  Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften, die zugleich ein Unternehmen von öffentlichem Interesse sind, müssen künftig zudem verpflichtend einen Prüfungsausschuss einrichten, der mit unmittelbaren Auskunftsrechten gegenüber dem Leiter der internen Kontrolle, dem Leiter des Risikomanagements und dem Leiter der Internen Revision ausgestattet wird (§ 107 Abs. 4 AktG-E). Durch einen gesetzlichen Verweis in § 324 Abs. 2 Satz 2 HGB-E auf § 100 Abs. 5 AktG soll zudem sichergestellt werden, dass im jeweiligen Prüfungsausschuss Sachverstand sowohl bezüglich der Rechnungslegung als auch der Abschlussprüfung vorhanden ist.

Höhere Qualität bei der Zulassung zu Börsen-Qualitätssegmenten

Ziel:  Die Stärkung der Corporate Governance durch börsennotierte Gesellschaften wird flankiert durch Änderungen des Börsengesetzes (BörsG, Art. 2 des RefE). Hierdurch soll die Qualität der Zulassung von Unternehmen zu den qualifizierten Marktsegmenten der Börsen verbessert werden und Emittenten bei Verstößen aus den Qualitätssegmenten der Börsen einfacher ausgeschlossen werden können, wie etwa durch eine Erleichterung des Ausschlusses insolventer Emittenten (S. 52 RefE).

Mechanismus:  Konkret soll durch eine Neufassung von § 42 BörsG klargestellt werden, dass ein Ausschluss aus einem Teilbereich des regulierten Marktes mit zusätzlichen Pflichten (z.B. Prime und General Standard der FWB) auch möglich ist, wenn eine Vorrausetzung für die Zulassung zu dem entsprechenden Teilbereich nicht mehr vorliegt. Wenn für den jeweiligen Teilbereich Voraussetzungen festgelegt wurden, die nicht nur im Zeitpunkt der Zulassung, sondern während der gesamten Dauer der Zulassung vorliegen müssen, ist ein Widerruf ohne weitere Fristsetzung durch die Geschäftsführung der Börse nach pflichtgemäßem Ermessen möglich (S. 83 RefE).

Fazit

Es ist zu vermuten, dass es im Rahmen des anstehenden Gesetzgebungsverfahrens noch zu Anpassungen kommen wird. Bis zum 9. November 2020 besteht die Gelegenheit zum Referentenentwurf Stellung zu nehmen.

Die vorgesehenen Neuregelungen sind im Grundsatz zu begrüßen und können einen Beitrag dazu leisten, die Überwachung der Abschlussprüfung, die Corporate Governance sowie die Effektivität der Finanzmarktaufsicht zu fördern. Gleichwohl werden sich auch hierdurch betrügerische Handlungen von Unternehmen nicht gänzlich verhindern lassen. Daher sollte bei den vorgeschlagenen Neuregelungen aus Sicht der Praxis kritisch analysiert werden, wieweit hier Aufwand und potenzielle Vorteile im Verhältnis stehen. Erste sehr weitgehende Überlegungen im Vorfeld des Referentenentwurfs (etwa zur Schaffung einer Europäischen „SEC“) hatten dies nicht immer berücksichtigt und sind dann auch nicht in den Gesetzgebungsvorschlag eingeflossen (vgl. zusammenfassend und illustrativ zur Diskussion das Positionspapier des Deutschen Aktieninstituts zu Konsequenzen aus dem Fall Wirecard vom 2. Oktober 2020).

Sowohl Abschlussprüfer als auch die Unternehmensorgane werden infolge der öffentlichen Diskussionen rund um die Wirecard-Insolvenz künftig allerdings auch unabhängig von einer gesetzlichen Neuregelung unter besonderer Beobachtung – v.a. durch Stimmrechtsberater – stehen. Vorstände und Aufsichtsräte sollten daher in besonderem Maße auf die Einrichtung, stetige Aktualisierung und laufende Überwachung adäquater interner Kontrollsysteme (Compliance) achten, um etwaige Haftungsrisiken und kritische Nachfragen auf Hauptversammlungen zu vermeiden.

 

Die Grundsätze guter Unternehmens- und aktiver Beteiligungsführung im Bereich des Bundes

Lesenswert für alle Mandatsträger und Einladung zur Selbstreflektion an die Adresse der Regierungskommission Deutsche Corporate Governance Kodex

Die Bundesregierung hat am 16.9.2020 die Neufassung der Grundsätze guter Unternehmens- und aktiver Beteiligungsführung im Bereich des Bundes 2020 beschlossen. Diese lösen mit Bekanntmachung durch das Bundesministerium der Finanzen vom selben Tag (VIIII B 1 – FB 0203/20/100002:003) die Grundsätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes vom 1. Juli 2009 (GMBl. 2011, 409 ff.) ab.

War der „alte“ Public Corporate Governance Kodex des Jahres 2009 nur ein schwacher Aufguss des damaligen Deutschen Corporate Governance haben sich nun 2020 die Vorzeichen verkehrt. Während sich die Regierungskommission bei ihrem „großen“ Neuaufschlag 2018/20 vorrangig in kleinteiligen Versuchen verzettelte, Corporate Germany eine bestimmte Vorstellung der Vorstandsvergütung aufzuzwingen und damit lediglich breitflächige Proteste auf Seiten vieler Unternehmen auslöste (unverändert nachlesbar https://www.dcgk.de/de/konsultationen/archiv/konsultation-2018/19.html), schreitet die Bundesregierung richtungsweisend nach vorn.

Während die Europäische Union noch de lege ferenda fragt, ob die Unternehmensleitung  bei ihren Entscheidungen neben den finanziellen Interessen der Gesellschafter auch Faktoren wie Menschenrechtsverletzungen, Umweltverschmutzung oder den Klimawandel berücksichtigen sollte (https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/business_economy_euro/banking_and_finance/documents/2020-sustainable-finance-strategy-consultation-document_en.pdf, question 46) und Studien über „directors duties and sustainable corporate governance“ in Auftrag gibt bzw. „Sustainablitiy, duty of care and due diligence“ auf die Agenda der ICLEG setzt (vgl. Jessica Schmidt, BB 2020, 1794, 1799), formuliert die Bundesregierung bereits eine klare Antwort und setzt erste Standards:

Der gesamte Abschnitt 5.5 des Public Corporate Governance Kodex 2020 handelt nämlich von nichts anderem als „nachhaltiger Unternehmensführung“. Das bemerkenswerte daran ist, dass es die Bundesregierung nicht bei einer Auflistung plakativer Schlagworte belässt, sondern weit über ein Dutzend Einzelempfehlungen ausspricht und konkrete Verpflichtungen für die Geschäftsführung formuliert.

Sie im Einzelnen nachzuzeichnen würde hier den Rahmen dieses Blogs sprengen; die Überlegungen der Bundesregierung sind aber (nicht nur insoweit) gewiss lesenswert für alle Mandatsträger in Vorstand und Aufsichtsrat, aber auch eine Einladung zur Selbstreflektion an die Adresse der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex.

Die Grundsätze guter Unternehmens- und aktiver Beteiligungsführung im Bereich des Bundes sind im Einzelnen nachlesbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Bundesvermoegen/Privatisierungs_und_Beteiligungspolitik/Beteiligungspolitik/grundsaetze-guter-unternehmens-und-aktiver-beteiligungsfuehrung.html.

Synopse zum Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK)

Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) wurde mit der Neufassung 2020 weitreichend überarbeitet. Auf der Homepage der Zeitschrift Die Aktiengesellschaft – AG bieten wir Ihnen eine Übersicht der Änderungen im Überarbeitungsmodus sowie eine Gegenüberstellung der Fassungen 2017/2020 zum Download an, welche von Prof. Dr. Günter Reiner und Ass. jur. Felix Arlt (Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg) erstellt wurden. Ausführlich erläutert wird der Themenkomplex von Markus Roth im Aufsatz „Deutscher Corporate Governance Kodex 2020“, AG 2020, 278. Lesen Sie den Aufsatz kostenlos im 4-Wochen-Gratistest des Beratermoduls Otto Schmidt AG – Die Aktiengesellschaft.

Die umfangreichen Änderungen im DCGK wurden natürlich auch in der gerade erschienenen 4. Auflage 2020 des AktG-Kommentars von K. Schmidt/Lutter berücksichtigt. Online ist dieser z.B. im Aktionsmodul Gesellschaftsrecht verfügbar oder Sie schnuppern einfach in die Printausgabe rein.

Vorstandsvergütung – ein heißes Eisen in der Corporate Governance Diskussion

Wie werden Vorstände angemessen bezahlt? Wie hoch soll die Vergütung sein? Wie sieht die richtige Incentivierung des Vorstands aus? Auf welche KPI‘s soll die Vergütung ausgerichtet sein? Ist sie transparent genug und nachvollziehbar und wie steht es um die gesellschaftliche Verträglichkeit? Das ist nur ein Teil der relevanten Fragestellungen. Die Diskussion ist – ganz ehrlich – praktisch nicht mehr zu überschauen. Politik, Aufsichtsräte, Vorstände, Verbände, Investoren, die Beraterindustrie – alle ringen miteinander. Keine gute Situation! Das Grundübel: Es fehlt ein allgemein anerkannter Maßstab für die Angemessenheit. Fast jeder Diskutant hat seinen eigenen Maßstab, seine eigene Wahrheit.

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Werfen wir zunächst einen Blick auf einige exemplarische Fakten. Im Zentrum der öffentlichen Diskussion steht die Vergütung der Vorstandsmitglieder im DAX 30. Hiervon gibt es etwa 200, der Verfasser gehörte etwa 8 Jahre zu diesem Kreis. Das durchschnittliche Vorstandsgehalt lag 2018 bei 3,5 Mio. Euro p.a. (vgl. Reuters, Wirtschaftsnachrichten vom 11.6.2019). Die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden lagen deutlich höher, 2018 durchschnittlich bei 7,5 Mio Euro, Spitzengehälter bei etwa 10 Mio Euro. (Statistica: Gesamtvergütung der Vorstandsvorsitzenden im DAX – Bezugsjahr 2018). Das ist viel Geld und dessen müssen sich alle Beteiligten – einschließlich der Vorstände – bewusst sein. Die Vorstandsvergütung besteht zumeist aus drei Komponenten, einem Fixum, einer kurzfristigen variablen Komponente (Betrachtungshorizont 1 Jahr) und einer langfristigen variablen Komponente (Betrachtungszeitraum 3 – 4 Jahre).

Die Festlegung der Vorstandsvergütung fällt in die Zuständigkeit und Verantwortung des (mitbestimmten) Aufsichtsrats. Die Hauptversammlung beschließt – für den Aufsichtsrat rechtlich nicht verbindlich – das System der Vorstandsvergütung und kann die vom Aufsichtsrat beschlossene Vergütung rechtsverbindlich herab – nicht aber heraufsetzen; eine durch das ARUG II neu eingeführte Regelung, die eine Merkwürdigkeit im europäischen Rechtssystem ist (Welches Aktionärsbild liegt dem eigentlich zugrunde?).

Die Vorstandsvergütung hat mehrere Ziele. So soll die Leistung des Vorstands bezahlt werden (pay for performance). Die Vorstandsvergütung soll auch Anreize zur Erreichung definierter kurzfristiger und langfristiger Unternehmensziele setzen (Incentivewirkung) und sie soll in das gesellschaftliche Umfeld passen (gesellschaftliche Akzeptanz).

Um diese Ziele zu erreichen, hat der Deutsche Corporate Governance Kodex („Kodex“) Empfehlungen zur Gestaltung einer angemessenen Vorstandsvergütung abgegeben – in allen seinen 15 Fassungen seit dem ersten Kodex in 2002. Der Kodex beinhaltet eine Selbstregulierung der deutschen Wirtschaft. Die Empfehlungen zur Vorstandsvergütung richten sich an den Aufsichtsrat. Sie sind nicht bindend, haben die Diskussion aber wesentlich mitgestaltet. Die Empfehlungen betreffen u.a. Kriterien für die Angemessenheit, die individualisierte Offenlegung der Vergütung (Transparenz), Höchstgrenzen für die variablen Vergütungskomponenten, die Begrenzung von Abfindungen bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Vorstand. Auslöser für die Fortentwicklung waren und sind vielfach Fehlentwicklungen in der Praxis durch extrem hohe Vergütungen, Boni, Aktienoptionen die u.a. mit den Fällen Deutsche Bank, Porsche und Volkswagen verbunden werden.

Nicht ganz überraschend haben Politik und Gesetzgeber immer wieder und parallel zum Kodex neue gesetzliche Regelungen erlassen. Das hat die Autorität des Kodex nicht gestärkt. Der Gesetzgeber scheint immer weniger auf die Eigenverantwortung des (mitbestimmten) Aufsichtsrats bei der Vorstandsvergütung zu vertrauen. Und zum Kodex: Er setze auf Freiwilligkeit und das sei zu wenig. Der Gesetzgeber – auch getrieben durch europäische Vorgaben (z.B. Aktionärsrechterichtlinie) – reagierte 2005 mit dem VorstOG (z.B. gesetzliche Regelung individuelle Offenlegung der Vorstandsbezüge), 2009 mit dem VorstAG ( z.B. langfristigere Ausrichtung der Vergütung in § 87 AktG als Folge der Finanzkrise) und jüngst mit dem ARUG II, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist mit dem Schwergewicht auf „say on pay“ (HV Zuständigkeit bei der Vorstandsvergütung), mit der Forderung nach einem klaren und verständlichen Vergütungssystem und weiteren Transparenzgeboten.

All das stellt Herausforderungen an den Aufsichtsrat zur richtigen Vergütung seines Vorstands. Diese Aufgabe können ihm weder Aktiengesetz noch Kodex abnehmen, sie setzen aber wichtige Leitplanken. Viel hängt jetzt von der konkreten Umsetzung der neuen Vorgaben ab. Über die Frage, was ein „klares und verständliches“ Vergütungssystem ist, scheint mir der Streit schon absehbar. Was für den Vergütungsexperten klar und verständlich ist, muss das noch lange nicht für den einfachen Aktionär sein. Und zur Gestaltung der variablen Vergütungskomponenten: Wieviele kurz- und langfristig orientierten Ziele kann man einem Vorstand eigentlich setzen, damit der Incentivierungszweck noch erreicht wird. Drei sind sicher gut, zwölf vielleicht zuviel. Und ganz aktuell, wie muss eine Vorstandsvergütung aussehen, wenn das Unternehmen infolge einer Branchenstrukturkrise oder einer Pandemie nur durch eine staatliche Intervention und Beteiligung  überleben kann? Die Diskussion um die Vorstandsvergütung wird wohl nicht abreißen.

Anmerkung der Redaktion: Frisch erschienen ist im Otto Schmidt-Verlag in 7. Auflage der Klassiker „Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats“ von Lutter/Krieger/Verse mit ARUG II und mit dem neuen DCGK. Ein Standardwerk – gut für den Praktiker, aber auch eine Bereicherung für die wissenschaftliche Diskussion. Infos und Bestellmöglichkeit hier.

Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig und Prof. Dr. Carsten Schäfer im Interview zu aktuellen Entwicklungen im Vorstandsrecht

Das Vorstandsrecht ist aktuell ordentlich in Bewegung. Berater müssen sich insbesondere mit den neuen Entwicklungen nach dem ARUG II auseinandersetzen. Eine besondere Herausforderung stellt überdies auch in diesem Rechtsbereich die Corona- bzw. Covid-19-Pandemie dar. Ich habe vor diesem Hintergrund mit den Autoren des Standardwerks „Rechte und Pflichten des Vorstands“, RA Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig [1] und Prof. Dr. Carsten Schäfer [2], über die wichtigsten Veränderungen gesprochen.

Peters: In Ihrem Standardwerk konzentrieren Sie sich auf die Rechte und Pflichten des Vorstands. Welche neuen und zusätzlichen sind insoweit nach Inkrafttreten des ARUG II am 1.1.2020 besonders zu erwähnen?

Schäfer: In der Tat haben viele neue Regelwerke auch die Vorstandspflichten zumindest indirekt verändert. Das gilt für das Kapitalmarktrecht nach der MAR ebenso wie für die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG II. Erwähnt seien nur die Regelungen zu „Related Party Transactions“ und zur Vergütungsentscheidung der Hauptversammlung („Say on Pay“), aber auch der neue Corporate Governance Kodex 2020.

Traditionsgemäß sind zudem die Themen Vergütung und Haftung, Organisation und Delegation sowie – last not least – Compliance in beständigem Fluss und müssen auf der Pflichtenseite nachgehalten werden.

Peters: Gibt es Fallstricke, auf die Vorstandsmitglieder und deren Berater besonders achten müssen?

Ihrig: Für die neuen Bestimmungen durch das ARUG II hat der Gesetzgeber leider nur in Teilbereichen Übergangsvorschriften vorgesehen. Für die neuen Regelungen zu Transaktionen mit nahestehenden Personen, deren Reichweite deutlich über Konzernsituationen hinausreichen, ist das zum Beispiel nicht der Fall. Diese Bestimmungen sind also unmittelbar in Kraft getreten und zu beachten. Soweit Gesellschaften das insoweit erforderliche Monitoring-System zur Erfassung relevanter Vorgänge noch nicht etabliert haben, ist also höchste Eile geboten. Aber auch dort, wo Übergangsvorschriften gelten, wie etwa im Bereich der Vergütungssysteme für Vorstand und Aufsichtsrat und für geänderte Publikationspflichten, wird die Zeit zur Vorbereitung langsam knapp.

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Peters: Am 20.3.2020 ist zudem der neue DCGK (2020) im BAnz. veröffentlicht worden. Auch ihn behandeln Sie ausführlich und mithin sehr aktuell in Ihrem Buch. Welche Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen sind besonders beachtenswert und bringen Änderungen gegenüber der vorherigen Fassung des Kodex?

Ihrig: Zu konstatieren ist zunächst, dass der Kodex im systematischen Aufbau völlig neu gestaltet worden ist; das erschwert den Abgleich des Status Quo mit den Kodexvorgaben bei Vorbereitung der nächsten Entsprechenserklärung. Neu ist auch die Einführung sogenannter „Grundsätze“, die an die Stelle der gesetzeswiederholenden Passagen des Kodex treten. Besondere Beachtung verdienen aus Sicht des Vorstands zum Einen die Empfehlung in B.3, dass Erstbestellungen für längstens drei Jahre erfolgen sollen, zum Anderen die Empfehlungen zur Vorstandsvergütung, namentlich die in G.10, dass langfristig variable Vergütungen überwiegend in Aktien oder aktienbasiert gewährt werden sollen und die Vorstandsverträge Claw-Back-Optionen vorsehen sollen. Wichtig sind natürlich auch die neuen Bestimmungen zum Aufsichtsrat, insbesondere diejenigen, die die Unabhängigkeit seiner Mitglieder konkretisieren.

Peters: Gibt es weitere erwähnenswerte Verschärfungen in der Pflichtensituation für den Vorstand, z.B. aufgrund einschlägiger Rechtsprechung?

Schäfer: Das Haftungsthema ist in der Tat im steten Fluss durch zahlreiche, auch instanzgerichtliche Judikate. Eine klare Tendenz ist nicht leicht erkennbar. Einerseits neigen die Gerichte nicht selten dazu, neue Pflichten zu „erfinden“, vor allem sog. Organisationspflichten, zum anderen gibt es aber auch gewisse mäßigende Tendenzen. Ich erwähne nur das Urteil des BGH zu Schloss Eller – dort hat es der II. Senat jetzt immerhin prinzipiell zugelassen, dass sich der Vorstand bei Übergehen eines Zustimmungsvorbehalts auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, also die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats beruft. Die Konsequenzen bedürfen freilich noch näherer Untersuchung.

Interessant ist auch, dass die gesamte Compliance-Debatte sich in rechtlicher Hinsicht bislang an einem vereinzelten Landgerichts-Urteil, dessen Aussagen m.E. aber teilweise nicht überzeugen können, teilweise wohl auch missverstanden werden. Hier gilt es unbedingt eher mäßigende Akzente zu setzen –

Peters: Zum Schluss würde mich natürlich noch ein aktueller Blick auf die derzeitige Covid-19-Situation aus Ihrer Sicht interessieren: Welche Fragen sind aktuell die dringendsten aus der Vorstandsetage und was raten Sie den Vorständen?

Schäfer: Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Corona-Gesetz ist zur Zeit sicherlich ein großes Thema, zumal die Regeln zwar weitgehende Eingriffe in die Aktionärsrechte zulassen, aber nicht zwingend vorgeben. Hier gilt es also, ein für die konkrete Gesellschaft passendes – und technisch durchführbares – Format zu finden. Diese Entscheidung wird durch zahlreiche Zweifelsfragen, welche die Neuregelung aufgeworfen hat, nicht unbedingt erleichtert. Allerdings ist es hoch anzurechnen, dass die Bundesregierung in einem derartigen Tempo ein Instrument geschaffen hat, das den Aktiengesellschaften ihre unabdingbare Beschlussfähigkeit erhält.

Sehr aktuell sind naturgemäß auch Vorstandspflichten in der Krise, die auch Thema unseres Buches sind. Zwar sind die insolvenzrechtlichen Antragspflichten durch die COVID-Gesetzgebung teilweise vorübergehend suspendiert, doch bleibt es bei strengen Überwachungspflichten in Krisensituation und in Teilbereichen stellen sich komplexe Abgrenzungsfragen, wie etwa bei den Bestimmungen zur sog. „Notgeschäftsführung“ zu den unverändert gebliebenen Tatbestand des Eingehungsbetrugs.. Sanierungsfälle werden wir infolge der Corona-Krise jetzt deutlich häufiger beobachten; es gibt aber auch zahlreiche staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die eventuell in Anspruch genommen werden können. So können sich etwa Vorstände vor die Wahl gestellt sehen, ob sie staatliche Rettungsbeteiligungen in Anspruch nehmen oder lieber ein insolvenzrechtliches Schutzschirmverfahren zur grundsätzlichen Bereinigung der Bilanz auf der Passivseite einleiten wollen. All‘ dies bedarf einer sorgfältigen Ermittlung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des jeweiligen Instruments.

Peters: Wird es zu diesen aktuellen Covid-19-Themen ein Update in Ihrem Buch, das auch Bestandteil in der Otto Schmidt-Datenbank und bei juris ist, geben? Denn momentan befinden sich auch viele Berater und Vorstände im Homeoffice und könnten aktuelle Online-Versionen besonders gut nutzen.

Ihrig und Schäfer: Wir hoffen und wünschen uns allen sehr, dass diese Pandemie und die mit ihr einhergehende Sondergesetzgebung ein rasch hinter uns liegendes Thema sein wird. Sofern sich hieraus aber, etwa bei einer grundlegenden Reformierung des Rechts der Hauptversammlung, Änderungen von Dauer einstellen werden, wird dies gewiss ein Thema sein, dem wir uns in der nächsten Auflage unseres Buches zu den Rechten und Pflichten des Vorstands gerne annehmen werden.

Herzlichen Dank für diese wertvollen Hinweise!

 

[1] Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor in Mannheim.

[2] Prof. Dr. Carsten Schäfer ist Universitätsprofessor, Lehr­stuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Universität Mannheim

Das Interview hat Dr. Birgitta Peters, Geschäftsbereichsleiterin Recht im Verlag Dr. Otto Schmidt, geführt.

Verlängerte HV-Einberufungsfrist nun auch für Europäische Aktiengesellschaften (SE)?

Am 29.4.2020 hat die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag publiziert, nach dem Europäische Aktiengesellschaften (SE) in diesem Jahr die Möglichkeit erhalten sollen, ihre ordentliche Hauptversammlung nicht – wie bislang – in den ersten sechs, sondern innerhalb von zwölf Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahrs abzuhalten (spätestens jedoch bis 31.12.2020).

Vergleichbare Regelung besteht bereits für AG und KGaA

Ende März hatte der deutsche Gesetzgeber bereits für Aktiengesellschaften (AG) und Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) im Zuge des „Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (COVID-19-Gesetz) die Möglichkeit eingeführt, die ordentliche HV innerhalb von 12 Monaten (statt 8 Monaten) nach Ablauf des Geschäftsjahrs stattfinden zu lassen. Eine entsprechende Erstreckung auch auf die SE war jedoch mangels Gesetzgebungskompetenz nicht möglich, da die Frist zur Abhaltung der ordentlichen SE-Hauptversammlung im europäischen Recht (Art. 54 Abs. 1 SE-VO) normiert ist.

Verschiebung der SE-HV würde zur echten Alternative

Bislang führte dies für sämtliche SE zu der misslichen Situation, dass sie faktisch nur die Option hatten, eine (virtuelle) Hauptversammlung innerhalb des ersten Halbjahres abzuhalten und nicht – wie es das nationale COVID-19-Gesetz auch für die SE vorsieht – eine Verschiebung der Hauptversammlung in Betracht zu ziehen. In noch größere „Zeitnot“ kamen SE, die ein vom Kalenderjahr abweichendes Geschäftsjahr haben. Zwar ist im Falle der Missachtung der HV-Frist (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AktG) beispielweise die Festsetzung von Zwangsgeld oder das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs gegen die Unternehmensleitung denkbar. In der Praxis hat eine Fristversäumung jedoch üblicherweise keine praktischen Auswirkungen. Dennoch ist der Vorschlag der EU-Kommission zur Fristverlängerung ausdrücklich zu begrüßen, um der Unternehmensleitung die Sorge gesetzes- und sorgfaltswidrigen Verhaltens zu nehmen und mehrere Handlungsoptionen zur (zeitlichen) HV-Durchführung zu geben.

Schnelles Inkrafttreten zu erwarten

Die EU-Verordnung soll bereits am Tag nach Bekanntmachung im EU-Amtsblatt in Kraft treten.

Eine zeitnahe Verabschiedung der Verordnung wäre wünschenswert, damit auch SE die Möglichkeit erhalten, ihre ordentliche Hauptversammlung erst im zweiten Halbjahr abzuhalten, ob als virtuelle HV oder (sofern möglich) Präsenz-HV.

Corona-Krise – Präsenzlose Online-Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften

Präsenzlose Online-Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften sollen bald in Deutschland möglich sein, sofern der „Entwurf eines Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil- Insolvenz- und Strafrecht“ tatsächlich verabschiedet wird. Gegenstand des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung sind eine Vielzahl an Reformen diverser Rechtsgebiete. Ziel der Novelle ist die flächendeckende Abmilderung der empfindlichen  Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die Behörden im März 2020 zur Eindämmung des massiven Anstiegs der Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus angeordnet hatten. Diese Schutzmaßnahmen schränken auch die Versammlungsmöglichkeiten von Personen ein, wodurch erhebliche Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit von Unternehmen sämtlicher Rechtsformen bestehen, da keine Beschlüsse auf physischen Hauptversammlungen der jeweiligen Organe gefasst werden können. Damit trotz bestehender Beschränkungen Beschluss- und Handlungsfähigkeit von Unternehmen gewährleistet werden können, plant die Bundesregierung vorübergehend substantielle Erleichterungen für die Durchführung von Hauptversammlungen der AG, KGaA und SE.

Konkret ermächtigt der Gesetzesentwurf Vorstände von Aktiengesellschaften, satzungsunabhängig präsenzlose Online-Hauptversammlungen durchzuführen; dabei muss der Vorstand die ordnungsgemäße online-Teilnahme aller Aktionäre, deren Wahlrecht sowie die Ton- und Bildübertragung sicherstellen. § 118 Abs. 1 bis 4 AktG sowie die Anfechtungsmöglichkeit wegen einer Verletzung dieser Normen werden insoweit eingeschränkt. Zudem soll die Einberufungsfrist von bisher 30 Tagen auf 21 Tage verkürzt werden. Der Vorstand soll berechtigt werden, Abschlagszahlungen nach § 59 Abs. 2 AktG auf den Bilanzgewinn ohne entsprechende Satzungsregelungen vorzunehmen. Schließlich soll die Achtmonatsfrist gem. § 175 Abs. 1 AktG auf maximal zwölf Monate verlängert werden, indem Hauptversammlungen auch innerhalb des Geschäftsjahres durchgeführt werden dürfen. In Bezug auf das GmbHG sollen Beschlüsse der Gesellschafter einer GmbH (abweichend von § 48 Abs. 2 GmbHG) in Textform oder durch schriftliche Stimmenabgabe auch ohne Einverständnis sämtlicher Gesellschafter gefasst werden. Eine Prognose über die Geltungsdauer des Gesetzesentwurfs ist bisher nicht möglich, da sich diese an der Dauer der COVID-19-Krise orientieren soll.

Der insgesamt gelungene Gesetzesentwurf entspricht im Wesentlichen den Forderungen des Deutschen Aktieninstituts. Damit könnten alle relevanten Beschlüsse „online“ gefasst werden, insbesondere Beschlüsse über die Ausschüttung von Dividenden. Unzureichend erscheint die Anpassung in Bezug auf § 59 AktG. Der Verzicht auf das Erfordernis einer Regelung in der Satzung löst nicht die eigentlichen praktischen Probleme von Abschlagszahlungen nach § 59 AktG. Vielleicht waren die damit verbundenen dogmatischen Schwierigkeiten schlicht kurzfristig nicht zu lösen. Das Gesetz ist jedoch noch nicht in Kraft, mit dem Inkrafttreten ist aber in Kürze zu rechnen …