Blog powered by Zöller: Erstes Leitentscheidungsverfahren schon wieder beendet

Am 31. Oktober 2024 ist das Gesetz in Kraft getreten, welches dem BGH die Möglichkeit gibt, ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren zu erklären – mit der Wirkung, dass er eine in dieser Sache zu erwartende, für eine Vielzahl anderer Verfahren bedeutsame Entscheidung auch dann erlassen kann, wenn die Revision zurückgenommen werden sollte. Noch am selben Tag hat der VI. Senat des BGH von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und einen Rechtsstreit, in dem es um die Entschädigung für eine von Facebook verursachte Verbreitung persönlicher Daten (Daten-Scraping) geht, durch Beschluss nach § 552b ZPO zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24; s. Blog v. 7.11.2024).

Nicht einmal drei Wochen später ist dieses Verfahren schon wieder beendet, denn am 18. November hat der Senat bereits durch Urteil über die Revision entschieden. Was auf den ersten Blick als wenig planvolle Verfahrensleitung erscheinen mag, ergibt durchaus Sinn, denn die Erklärung zum Leitentscheidungsverfahren verhinderte, dass die Revision bis zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen und dadurch eine Grundsatzentscheidung verhindert werden konnte (wie in Parallelverfahren bereits praktiziert). Die Bedeutung des neuen § 552b ZPO könnte demnach vor allem in dieser Präventivwirkung, gar nicht so sehr in seiner Durchführung liegen.

Infolge des schnellen Endes des Leitentscheidungsverfahrens konnte auch die neue Vorschrift des § 148 IV ZPO keine Wirkung entfalten. Sie hätte es den vielen mit solchen Fällen befassten Instanzgerichten ermöglicht, ihre Verfahren bis zur Entscheidung des BGH auszusetzen (s. hierzu und zu den neuen §§ 552b und 565 ZPO die aktuelle Kommentierung in der Online-Version des Zöller sowie den Aufsatz von Feskorn in MDR 2024, 1413 ff.).

Dafür können sich die Gerichte aber jetzt schon an dem im streitigen Verfahren ergangenen Urteil orientieren. Diesem zufolge kann schon der kurzzeitige Verlust der Kontrolle über eigene personenbezogene Daten einen immateriellen Schaden im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung begründen und auch Ansprüche auf Unterlassung, Ersatz künftiger Schäden sowie Erstattung von Anwaltskosten rechtfertigen. Des Weiteren gibt der BGH Hinweise zur Bemessung des immateriellen Schadens, den er unter den gegebenen Umständen bei 100 Euro verortet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach einer Entscheidung des EuGH v. 4.10.2024 – C‑507/23, ZIP 2024, 2692, sogar eine Entschuldigung als ausreichenden Schadensersatz nach Art. 82 I DSGVO angesehen werden kann, falls das nationale Recht (hier: Lettlands) diese Form der Wiedergutmachung vorsieht (anders als der deutsche § 253 BGB).

Anwaltsblog 45/2024: Gehen Verzögerungen im Zustellverfahren immer zu Lasten des Klägers?

Soll durch eine Klage die Verjährung des geltend gemachten Anspruchs gehemmt werden, tritt diese Wirkung bereits mit Erhebung der Klage ein, wenn deren Zustellung „demnächst erfolgt“ (§ 167 ZPO). Ob eine Zustellung „demnächst“ auch dann vorliegt, wenn infolge einer nicht mehr zutreffenden Beklagtenanschrift durch das Zustellorgan Verzögerungen verursacht werden, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2024 – VII ZR 240/23):

 

Die Werklohnforderung der Klägerin in Höhe von 197.946,46 € verjährte mit Ablauf des 31. Dezember 2018. Die am 29. November 2018 beim Landgericht eingegangene Klage weist als Zustelladresse die frühere Anschrift der Beklagten aus. Das Gericht hat mit Kostenrechnung vom 27. Dezember 2018 den Vorschuss für die Gerichtskosten angefordert. Der von der Klägerin am 10. Januar 2019 angewiesene Vorschuss ist am Folgetag bei Gericht eingegangen. Die Klage ist am 23. Januar 2019 von dem Zusteller an der früheren Anschrift der Beklagten in den Briefkasten eines Dritten eingelegt worden. Dieser hat mit einem am 4. Februar 2019 bei Gericht eingegangen Schreiben die Klage mit dem Vermerk zurückgesandt, eine Firma mit dem Namen der Beklagten sei dort nicht ansässig. Das Landgericht hat am 5. Februar 2019 anhand des Handelsregisterauszugs die aktuelle Anschrift der Beklagten ermittelt und die Zustellung der Klage verfügt. Die Klage ist der Beklagten am 12. Februar 2019 zugestellt worden. Das Kammergericht hat die Klage auf die Verjährungseinrede der Beklagten abgewiesen. Die Zustellung der Klage am 12. Februar 2019 wirke nicht auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit am 29. November 2018 zurück. Gemäß § 167 ZPO trete die Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bereits mit Eingang der Klage bei Gericht ein, wenn die Zustellung demnächst erfolge. Eine der Partei zuzurechnende Zustellungsverzögerung von bis zu 14 Tagen werde regelmäßig hingenommen. Die der Klägerin zuzurechnenden Verzögerungen überschritten die Grenze von 14 Tagen.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Die Zustellung der am 29. November 2018 beim Landgericht eingegangenen Klageschrift am 12. Februar 2019 ist noch demnächst iSv. § 167 ZPO erfolgt. Gemäß § 167 ZPO tritt die verjährungshemmende Wirkung der Klageerhebung mit Eingang der Klage bei Gericht ein, wenn ihre Zustellung demnächst erfolgt. Die Zustellung einer Klage ist jedenfalls dann noch demnächst erfolgt, wenn die durch den Kläger zu vertretende Verzögerung der Zustellung den Zeitraum von 14 Tagen nicht überschreitet. Bei der Berechnung der Zeitdauer der Verzögerung ist auf die Zeitspanne abzustellen, um die sich der ohnehin erforderliche Zeitraum für die Zustellung der Klage als Folge der Nachlässigkeit des Klägers verzögert. Dabei wird der auf vermeidbare Verzögerungen im Geschäftsablauf des Gerichts oder der Post zurückzuführende Zeitraum nicht angerechnet. Solche Verzögerungen im Zustellungsverfahren sind der klagenden Partei auch dann nicht zuzurechnen, wenn der fehlerhaften Sachbehandlung des Gerichts eine der Partei zuzurechnende Verzögerung vorausgegangen ist. Nach diesen Maßstäben überschreitet die der Klägerin infolge einer etwaigen Nachlässigkeit zuzurechnende Zustellungsverzögerung den hinnehmbaren Rahmen von bis zu 14 Tagen nicht. Eine der Klägerin zuzurechnende erhebliche Verzögerung der Klagezustellung ist nicht dadurch eingetreten, dass die Klägerin den Gerichtskostenvorschuss am 10. Januar 2019 angewiesen hat und dieser am 11. Januar 2019 bei Gericht eingegangen ist. Dabei ist zugunsten der Klägerin ihre Behauptung als richtig zu unterstellen, dass ihr die Gerichtskostenrechnung – wie sich auch aus dem Datum des Eingangsstempels ergibt – erst am 7. Januar 2019 zugegangen ist. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Auffassung vertreten, dass die Verzögerung von 20 Tagen, die den Zeitraum vom gescheiterten Zustellungsversuch am 23. Januar 2019 bis zur erfolgreichen Zustellung am 12. Februar 2019 betrifft, der Klägerin in vollem Umfang zuzurechnen sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Verzögerung, die dadurch entstanden ist, dass der Zusteller die Klage in den Briefkasten eines Dritten eingelegt hat, anstatt sie an das Gericht zurückzusenden, nicht der Klägerin zuzurechnen, weil es sich um eine Verzögerung im Geschäftsablauf des Gerichts handelt. Zu solchen Verzögerungen gehören auch Versäumnisse, die bei der Ausführung der Zustellung von dem Zustellorgan verursacht worden sind. Denn die von der Geschäftsstelle des Gerichts veranlasste Beauftragung des Zustellorgans mit der Ausführung der Zustellung (§ 168 Abs. 1 Satz 2 ZPO) gehört zum Geschäftsbetrieb des Gerichts, das die Klage von Amts wegen zuzustellen hat. Bei ordnungsgemäßer Zustellung hätte das Zustellorgan die Klage mit einem Vermerk über den Grund der Unzustellbarkeit unverzüglich an das Gericht zurückleiten müssen. Infolge der Angabe der falschen Anschrift der Beklagten ist die Zustellung der Klage allenfalls in der Zeit vom 23. Januar 2019 bis zum 4. Februar 2019 und damit für einen Zeitraum von lediglich zwölf Tagen verzögert worden. Die der Klägerin wegen der Angabe einer falschen Zustellanschrift zuzurechnende Verzögerung ist nach dem hypothetischen Verlauf der Zustellung ab dem Zeitpunkt der fehlgeschlagenen Erstzustellung zu ermitteln. Dabei ist darauf abzustellen, wie die Zustellung ohne die dem Gericht zuzurechnende Verzögerung verlaufen wäre. Für die Ermittlung des hypothetischen Verlaufs der Zustellung ist auf die unerlässlichen Gerichts- und Postlaufzeiten abzustellen, die für den Zeitraum vom ersten Zustellungsversuch bis zum Zeitpunkt der erfolgten Zustellung angefallen wären. Ausgehend hiervon beträgt die auf der Angabe der falschen Zustellanschrift der Beklagten beruhende Verzögerung weniger als 14 Tage. Die Zustellung der Klage ist daher noch demnächst iSd. § 167 ZPO erfolgt. Denn der Zusteller hätte bei ordnungsgemäßem Vorgehen die zuzustellende Klageschrift mit dem Vermerk „Unzustellbar“ unverzüglich zurückgesandt, so dass sie spätestens am übernächsten Tag, Freitag, den 25. Januar 2019, dem Landgericht wieder vorgelegen hätte. Die erneute Zustellung wäre am Montag, den 28. Januar 2019, veranlasst worden. Unter Zugrundelegung der tatsächlich – zwischen der Veranlassung der Zustellung am 5. Februar 2019 und der Zustellung am 12. Februar 2019 – angefallenen Postlaufzeit von 7 Tagen wäre die Klage der Beklagten spätestens am 4. Februar 2019, also 12 Tage nach dem gescheiterten Zustellungsversuch am 23. Januar 2019, zugestellt worden.

 

Fazit: Verzögerungen im Zustellungsverfahren, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung des Gerichts verursacht sind, sind dem Zustellungsbetreiber nicht zuzurechnen. Zu solchen Verzögerungen gehören auch Versäumnisse, die bei der Ausführung der Zustellung von dem Zustellorgan verursacht worden sind (BGH, Urteil vom 21. Juli 2023 – V ZR 215/21 –, MDR 2023, 1372).

Anwaltsblog 44/2024: Bauvertrag – Wann liegt eine Anordnung nach § 2 Abs. 5 VOB/B vor?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob bei einer Verzögerung der Bauausführung die Mitteilung des Auftraggebers an den Auftragnehmer von der dadurch bedingten Störung des Vertrags als Anordnung im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B mit der Rechtsfolge der Vereinbarung eines neuen Preises unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten gewertet werden kann (BGH, Urteil vom 19. September 2024 – VII ZR 10/24):

 

Der Beklagte hatte die Klägerin nach öffentlicher Ausschreibung unter Einbeziehung der VOB/B mit Leistungen des Gewerks „Starkstromanlagen an dem Bauvorhaben Umsetzung museale Neukonzeption“ beauftragt. In den Besonderen Vertragsbedingungen des Beklagten waren ein Ausführungsbeginn am 19. Juni 2018 und eine abnahmereife Fertigstellung der Arbeiten der Klägerin am 10. Januar 2019 vorgesehen. Am 23. August 2018 übergab der Beklagte der Klägerin einen Bauablaufplan, der den Bauablauf ab dem 28. August 2018 abbilden und Grundlage für die weitere Bauausführung der beteiligten Gewerke sein sollte. Wesentliche Leistungen der Klägerin waren danach erst im Jahr 2019 zu erbringen, wobei die Abnahme für den 17. September 2019 geplant war. Am 31. Januar 2019 übermittelte der Beklagte der Klägerin einen korrigierten Bauablaufplan für die weitere Bauausführung; dieser sah nunmehr eine Verschiebung der Abnahme auf den 29. Oktober 2019 vor. Nach Abnahme ihrer Arbeiten im November 2019 machte die Klägerin Mehrkosten von insgesamt 56.729,59 € für Personal und Baucontainer wegen Verlängerung der Bauzeit und wegen gestiegener Tariflöhne ab dem Jahr 2019 geltend. Der Beklagte beglich diesen Betrag nicht. LG wie OLG haben die Zahlungsklage abgewiesen.

Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat einen Mehrvergütungsanspruch der Klägerin gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B wegen Verlängerung der Bauzeit zu Recht verneint. Es hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Übermittlung der Bauablaufpläne am 23. August 2018 und am 31. Januar 2019 an die Klägerin keine Anordnung des Beklagten im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B darstellt. Gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B ist für den Fall, dass durch Änderung des Bauentwurfs oder andere Anordnungen des Auftraggebers die Grundlagen des Preises für eine im Vertrag vorgesehene Leistung geändert werden, ein neuer Preis unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten zu vereinbaren. Kommt eine solche Vereinbarung nicht zustande, kann der Auftragnehmer den sich aus § 2 Abs. 5 VOB/B ergebenden Vergütungsanspruch im Wege der Klage geltend machen. Voraussetzung für einen Mehrvergütungsanspruch gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B ist danach eine Anordnung des Auftraggebers zur Änderung des Bauentwurfs oder eine andere Anordnung. § 2 Abs. 5 VOB/B ist dahin auszulegen, dass eine solche Anordnung eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Auftraggebers erfordert, mit der einseitig eine Änderung der Vertragspflichten des Auftragnehmers herbeigeführt werden soll. Für die Änderung des Bauentwurfs, die der Auftraggeber gemäß § 1 Abs. 3 VOB/B anordnen darf, liegt dies auf der Hand. Mit ihr sollen im Vertrag vereinbarte Leistungspflichten des Auftragnehmers betreffend den „Bauentwurf“ geändert werden. Diese Befugnis des Auftraggebers begründet im Gegenzug den Mehrvergütungsanspruch des Auftragnehmers gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B, wenn hierdurch die Grundlagen des Preises geändert werden. Für die „andere Anordnung“ im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B kann insoweit nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung nichts anderes gelten. Von der Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B sind nach der Systematik der VOB/B Störungen des Vertrags aufgrund von Behinderungen abzugrenzen, die faktisch zu Bauzeitverzögerungen führen. Derartige Störungen können nicht als Anordnung im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B gewertet werden. Störungen aufgrund von Behinderungen führen nach der Systematik der VOB/B daher nicht zu einem Mehrvergütungsanspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B, sondern zu Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen, wenn der Auftraggeber vertragliche Verpflichtungen oder ihm obliegende Mitwirkungshandlungen nicht erfüllt.

 

Fazit: Eine Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B erfordert eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Auftraggebers, mit der einseitig eine Änderung der Vertragspflichten des Auftragnehmers herbeigeführt werden soll. Liegt eine Störung des Vertrags aufgrund einer Behinderung vor, die faktisch zu einer Bauzeitverzögerung führt, und teilt der Auftraggeber dem Auftragnehmer den Behinderungstatbestand und die hieraus resultierende Konsequenz mit, dass die Leistungen derzeit nicht erbracht werden können, liegt keine Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B vor.

Blog powered by Zöller: BGH nutzt neues Leitentscheidungsverfahren gleich am ersten Tag

Am 31.10.2024 ist das Gesetz über das sog. Leitentscheidungsverfahren in Kraft getreten (BGBl. 2024 I Nr. 328). Dieses gibt dem BGH die Möglichkeit, über Rechtsfragen, die in einer Vielzahl von Verfahren relevant sind, auch dann zu entscheiden, wenn es nicht zu einem Revisionsurteil kommt, z.B., weil das Rechtsmittel zurückgenommen wird. Von dieser Möglichkeit hat der BGH bereits am ersten Tag Gebrauch gemacht, und zwar in einem Fall, in dem es um die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung im sog. Scraping-Komplex geht (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24, Pressemitteilung), und in dem die Revision in zwei Parallelverfahren kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen worden war. Einer auf die Verhinderung höchstrichterlicher Entscheidung gerichteten Prozesstaktik ist damit der Boden entzogen. Und Instanzgerichte können jetzt Verfahren aussetzen, deren Entscheidung von den Rechtsfragen abhängt, die der BGH dem Leitentscheidungsverfahren zugeführt hat.

Die neuen Vorschriften (§§ 148 IV, 552b, 555, 565 ZPO) sind in der Online-Aktualisierung des ZÖLLER, die jeder Bezieher des gedruckten Kommentars kostenfrei nutzen kann, bereits kommentiert.


In der nächsten Ausgabe der MDR (Ausgabe 22) finden Sie zudem von Herrn Christian Feskorn einen Aufsatz zum neuen Leitentscheidungsverfahren beim BGH. Sie finden den Aufsatz online bereits vorab in unserer Datenbank.

Anwaltsblog 43/2024: Darf das Gericht dem Sachverständigen das Diktat des Protokolls überlassen?

Dass es verfahrensrechtlich unbedenklich ist, wenn der Richter einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät übergibt, hat das OLG Nürnberg entschieden (OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Oktober 2024 – 8 U 2323/23 –, juris):

 

Es ist üblich und wird als praktikabel empfunden, dass bei mündlichen Anhörungen von Sachverständigen der Vorsitzende Richter dem Sachverständigen das Diktat seiner Ausführungen für das Protokoll überlässt (Jäckel, MDR 2024, 688 Rn. 21). Das hat im vergangenen Jahr das OLG Hamm für verfahrensrechtlich unzulässig erklärt. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst sei in § 159 ZPO nicht vorgesehen, daher verfahrensfehlerhaft, und könne keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein, so dass entweder die Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu wiederholen oder das erstinstanzliche Urteil auf Antrag aufzuheben und das Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen sei (OLG Hamm, Urteil vom 19. Dezember 2023 – I-7 U 73/23 –, juris).

Dem ist jetzt das OLG Nürnberg entgegengetreten: Die vom OLG Hamm formulierten Bedenken gegen die „Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst“ überzeugen weder in der Begründung noch im Ergebnis. Soweit für den erkennenden Senat derzeit ersichtlich, ist dies eine vereinzelt gebliebene obergerichtliche Meinung zu einem konkreten Einzelfall. Der Inhalt der Aussagen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen kann auf zwei Wegen vorläufig aufgezeichnet werden:

a) Bei Tonaufnahme durch Diktat oder Eingabe in ein Textverarbeitungssystem sollte tunlichst der Vorsitzende den Inhalt bestimmen und dies nicht dem Urkundsbeamten übertragen. Überlässt der Vorsitzende einem Sachverständigen das Diktat seiner Aussage, ändert dies nichts an seiner Verantwortlichkeit für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Protokollierung; gegebenenfalls muss er eingreifen.

b) Zulässig ist auch eine vollständige Aufzeichnung durch ununterbrochene Ton- oder Videoaufnahme des Vernommenen und der Fragenden. Sie bedarf keiner Zustimmung der Beteiligten und bietet einige Vorteile, ist aber nicht zwingend.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass – entgegen der vom OLG Hamm vertretenen Auffassung – auch dann ein richterliches Protokoll im Sinne der §§ 159, 160 ZPO vorliegt, wenn der Sachverständige den Wortlaut seiner Aussagen – zu Zwecken der vorläufigen Aufzeichnung – unmittelbar dem Tonträger zuführt und der dabei anwesende Richter dann später das gemäß § 160a Abs. 2 ZPO „unverzüglich“ hergestellte Protokoll ordnungsgemäß unterschreibt (vgl. § 163 Abs. 1 ZPO). Damit übernimmt der Richter die uneingeschränkte Verantwortung für den Inhalt der „Reinschrift“ des gesamten Protokolls und dies rechtfertigt dann auch dessen weitreichende Beweiskraft gemäß § 165 ZPO. Schon diese Differenzierung zwischen „vorläufiger Aufzeichnung“ und abschließender „Erstellung“ des Protokolls lässt die angeführte Entscheidung des OLG Hamm vermissen.

Es kann keinen prozessrechtlich relevanten Unterschied machen, ob der Richter Teile der vorläufigen Aufzeichnung des Sitzungsprotokolls (hier: mündliche Angaben des Sachverständigen) unmittelbar selbst in das Mikrofon des Aufzeichnungsgeräts spricht, ob er das Gerät dem Aussagenden entgegenhält und dessen Sprache unmittelbar ganz oder teilweise aufzeichnet oder ob der Richter dem Sachverständigen das Gerät übergibt mit der Bitte, selbst direkt in das Mikrofon zu sprechen. Denn in all diesen Fällen ist der Aufzeichnungsgegenstand für die im Sitzungssaal anwesenden Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar und damit kontrollierbar. Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut oder Inhalt des Aufgezeichneten können an Ort und Stelle direkt kommuniziert und geklärt werden. Die Gefahr von – entscheidungserheblichen – Unklarheiten oder Lückenhaftigkeiten wird durch diese Handhabung weder geschaffen noch vergrößert.

 

Fazit: Es ist verfahrensrechtlich unbedenklich, einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät zu übergeben, wenn gewährleistet ist, dass Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut und Inhalt der Aufzeichnung unmittelbar geklärt werden können.

Anwaltsblog 42/2024: Anforderungen an elektronischen Fristenkalender

Wie die anwaltliche Fristenkontrolle bei elektronischer Kalenderführung organisiert sein muss, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 26. September 2024 – III ZB 82/23):

 

Die Klägerin hat gegen das am 18. April 2023 zugestellte Urteil am 25. April 2023 Berufung eingelegt. Nach Hinweis des Gerichts vom 23. Juni 2023, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine Berufungsbegründung eingegangen war, hat die Klägerin ihre Berufung begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat ihr Prozessbevollmächtigter ausgeführt, die Fristversäumung beruhe allein auf einem leichten Versehen zweier sehr zuverlässiger und ansonsten beanstandungsfrei arbeitender Kanzleimitarbeiter. Die Berufungsbegründungsfrist und die zugehörige Vorfrist seien aufgrund eines Datenverarbeitungsfehlers im Fristenkalender einer nicht mehr in der Kanzlei tätigen nichtanwaltlichen Mitarbeiterin eingetragen worden und nicht, wie alle anderen Fristen, im Kalender des damals sachbearbeitenden Rechtsanwalts K. Bei der Bearbeitung der Posteingänge seien durch die damalige Auszubildende die Fristen in der Fristerfassung der in der Kanzlei verwendeten Software (RA-Micro) eingetragen worden. Dabei werde durch die Eingabe der Aktennummer automatisch der zuständige Rechtsanwalt ausgewählt, der als Sachbearbeiter hinterlegt sei. Nach einer erneuten Überprüfung der Eintragung der Fristen habe sie in der E-Akte an dem Urteil einen elektronischen Aktenvermerk mit den jeweiligen Fristabläufen angebracht. Eine Überprüfung des Sachbearbeiterkürzels und der Fristeneintragung im Hauptkalender, in dem die für alle Anwälte laufenden Fristen eingetragen seien, sei ihrerseits nicht erfolgt. Anschließend habe ein weiterer Mitarbeiter eine erneute Kontrolle im System vorgenommen. Eine Kontrolle der Fristeneintragung im Hauptkalender habe er nicht vorgenommen. Er habe dies nicht für notwendig erachtet, weil es nach logischen Grundsätzen technisch ausgeschlossen sei, dass das System einen falschen Sachbearbeiter vorschlage. Zu einem Datenverarbeitungsfehler der vorliegenden Art sei es in der sechsjährigen anwaltlichen Tätigkeit von Rechtsanwalt K. nicht gekommen. Am 24. April 2023 habe dieser die Deckungsanfrage bei der Rechtsschutzversicherung gestellt und anhand der Notiz überprüft, dass die Fristen eingetragen seien. Er habe nicht davon ausgehen müssen, dass die Berufungsbegründungs- und die zugehörige Vorfrist nicht in seinem Termin- und Fristenkalender erscheinen würden.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin verworfen. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Verwendung einer elektronischen Kalenderführung darf keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten. Bei der Eingabe von Fristen in den elektronischen Fristenkalender bestehen spezifische Fehlermöglichkeiten, insbesondere auch bei der Datenverarbeitung. Es bedarf daher auch bei einer elektronischen Kalenderführung einer Kontrolle des Fristenkalenders, um Datenverarbeitungsfehler des eingesetzten Programms sowie Eingabefehler oder -versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig erkennen und beseitigen zu können. Danach ist die von der Rechtsbeschwerde als grundsätzlich angesehene Frage, ob eine hinreichende Fristenkontrolle durch den Rechtsanwalt bereits dadurch sichergestellt ist, dass eine auf dem Markt als erprobt und zuverlässig angesehene Kanzleisoftware verwendet und die Eingabe der fristrelevanten Daten in die Fristerfassungsmaske (sowie deren abschließende Bestätigung) geschultem und zuverlässigem Personal überlassen wird, das sie nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ vorzunehmen hat, zum Nachteil der Klägerin bereits geklärt. Die Rechtsbeschwerde sieht selbst, dass hierdurch der in Rede stehende Verarbeitungsfehler nicht erkannt werden kann. Ihre Auffassung, ein Rechtsanwalt dürfe die Korrektheit der Datenverarbeitung ohne weiteren Kontrollschritt voraussetzen, ist mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zu vereinbaren. Dabei bedarf es weiterhin keiner Entscheidung, wie diese Kontrolle im Einzelnen zu erfolgen hat, insbesondere ob es eines Kontrollausdrucks in Papierform bedarf. Denn die Klägerin hat vorgetragen, es sei überhaupt keine Kontrolle des Ergebnisses der Datenverarbeitung in Bezug auf die richtige Zuordnung zu dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt vorgenommen worden.

 

Fazit: Auch bei elektronischer Aktenführung ist der Rechtsanwalt verpflichtet, die ordnungsgemäße Notierung von Fristen in eigener Verantwortung zu überprüfen. Von der Anfertigung von Kontrollausdrucken darf deshalb allenfalls dann abgesehen werden, wenn andere Vorkehrungen getroffen werden, die ein vergleichbares Maß an Sicherheit ermöglichen (BGH, Beschluss vom 2. Februar 2021 – X ZB 2/20 –, AnwBl 2021, 301).

Anwaltsblog 41/2024: Rechtsbeschwerdeverfahren – Unzulässigkeit von Einwendungen nach versäumten Vortrag im Berufungsverfahren

Dass Berufungsführer, die auf Hinweise des Berufungsgerichts nicht angemessen reagieren, dies nicht im Rechtsbeschwerdeverfahren nach Verwerfung der Berufung nachholen können, hat der BGH erneut entschieden (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2024 – VI ZB 30/22):

 

Der Kläger, der an einer pharmakologischen Erstanwendungsstudie des beklagten Forschungsinstitutes an gesunden Probanden teilgenommen hat, nimmt die Beklagte wegen Aufklärungsfehlern in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld und Ersatz des Haushaltsführungsschadens abgewiesen. Ob der Kläger ordnungsgemäß aufgeklärt worden sei, bedürfe keiner Entscheidung, weil er nicht bewiesen habe, dass die Beschwerden durch das Prüfpräparat verursacht worden seien. Die Berufung hat das OLG nach vorherigem Hinweis als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zwar die von dem Landgericht fehlerhaft verneinte Kausalität und damit auch die tragende Erwägung für den Aspekt des Aufklärungsmangels mit Erfolg angegriffen, denn der Kausalitätsnachweis zwischen der Gabe des Prüfpräparates und dem im zeitlichen Zusammenhang aufgetretenen Polyneuropathiesyndrom sei nach dem geringeren Beweismaßstab des § 287 ZPO als geführt anzusehen. Er habe aber in der Berufungsbegründung keine Ausführungen dazu gemacht, inwiefern die Rechtsverletzung des Landgerichts entscheidungserheblich gewesen sei. Hierzu habe es zumindest Ausführungen dazu bedurft, dass tatsächlich auch ein Aufklärungsmangel vorgelegen habe. Der Verweis in der Berufungsbegründung auf den erstinstanzlichen Vortrag sei nicht ausreichend, da der Kläger dort die detaillierten Ausführungen der Beklagten zur ordnungsgemäßen Aufklärung nicht erheblich bestritten habe und die Aufklärung nach dem deshalb zugestandenen Vortrag der Beklagten ordnungsgemäß erfolgt sei. Unabhängig davon könne sich die Beklagte auf eine hypothetische Einwilligung des Klägers berufen. Aus den genannten Gründen wäre die Berufung auch unbegründet. In der Stellungnahme des Klägers auf den Hinweisbeschluss fehle es an einer Auseinandersetzung mit der Auffassung des Senates, dass die Berufungsbegründung nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO entspreche.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung entgegen der Auffassung des OLG gerecht. Sie lässt hinreichend erkennen, welche Gründe der Kläger den Erwägungen des Landgerichts entgegensetzt. Der Kläger hat in seiner Berufungsbegründung gerügt, dass das Landgericht rechtsirrig einen Aufklärungsfehler sowie die Kausalität zwischen der Behandlung und dem Schaden verneint habe. Er hat den für die Klageabweisung maßgeblichen Gesichtspunkt angegriffen, dass es ihm nicht gelungen sei, die Kausalität zwischen der Behandlung und den Schäden zu beweisen. Davon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Aus der Berufungsbegründung ergibt sich, dass der Kläger Schmerzensgeld und Schadensersatzansprüche aufgrund der vermeintlich fehlerhaft durch die Beklagte durchgeführten pharmakologischen Studie geltend macht. Weiter hat er als Aufklärungsfehler geltend gemacht, dass es nur eine Gruppenaufklärung gegeben habe, bei der die Risiken bagatellisiert und die speziellen Risiken, die sich bei ihm realisiert hätten, gar nicht angesprochen worden seien. Damit wird in einer für die Zulässigkeit der Berufung hinreichend verständlichen Weise deutlich, dass der Kläger vom Berufungsgericht die Überprüfung der Auffassung des Landgerichts vom Fehlen der Kausalität und – bei deren Bejahung – die Prüfung der geltend gemachten Aufklärungsmängel durch das Berufungsgericht selbst begehrt. Es war nicht geboten, ausdrücklich noch einmal das gesamte erstinstanzliche Vorbringen zu den Voraussetzungen des verfolgten Klageanspruchs – auf das der Kläger in der Berufungsbegründung pauschal verwiesen hat – zu wiederholen und auf diese Weise die Entscheidungserheblichkeit des Berufungsangriffs darzutun. Die Entscheidungserheblichkeit ergibt sich bereits daraus, dass eine inhaltliche Prüfung der geltend gemachten Aufklärungsversäumnisse nicht erfolgt und die Klage allein mangels vermeintlich nicht feststellbarer Kausalität abgewiesen worden ist. Für die Zulässigkeit der Berufung ist ohne Bedeutung, ob diese Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Ob der Vortrag des Klägers gem. § 138 Abs. 2, 3 ZPO genügt, das Vorbringen der Beklagten zu Umfang und Inhalt der Aufklärung substantiiert zu bestreiten, ist eine Frage der Begründetheit der Berufung.

Der Kläger kann sich jedoch wegen des Grundsatzes der materiellen Subsidiarität auf die fehlerhafte Abweisung seiner Berufung als unzulässig nicht mit Erfolg berufen. Der Subsidiaritätsgrundsatz fordert, dass ein Beteiligter über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern. Dieser Grundsatz ist nicht auf das Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit beschränkt, sondern gilt auch im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren. Denn einer Revision kommt bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten auch die Funktion zu, präsumtiv erfolgreiche Verfassungsbeschwerden vermeidbar zu machen. Daher sind für ihre Beurteilung die gleichen Voraussetzungen maßgebend, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfolg einer Verfassungsbeschwerde führten. Nichts Anderes gilt für das Rechtsbeschwerdeverfahren. Gemessen daran hat es der Kläger versäumt, zu den Ausführungen des Berufungsgerichts im Hinweisbeschluss vom 21. Februar 2022, dass und weshalb die Berufungsbegründung den Vorgaben aus § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO nicht gerecht werde, Stellung zu nehmen. In der kursorischen Stellungnahme zum Hinweisbeschluss finden sich keine Ausführungen dazu, weshalb die Berufung entgegen der im Hinweisbeschluss geäußerten Ansicht des Berufungsgerichts dennoch zulässig sei. Indem der Kläger zu der angedrohten Verwerfung der Berufung nicht Stellung genommen hat, hat er die ihm eingeräumte prozessuale Möglichkeit zur Verhinderung der nunmehr mit der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Verfahrensgrundrechtsverletzung nicht genutzt.

 

Fazit: Eine auf die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gestützte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, wenn es der Beschwerdeführer im Rahmen des vorinstanzlichen Rechtsmittels versäumt hat, eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (BGH, Beschluss vom 14. September 2021 – VI ZB 30/19 –, MDR 2022, 57).

Anwaltsblog 40/2024: Rechtsanwälte müssen die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen!

Ob es einen – zur Wiedereinsetzung führenden – unvermeidbaren Rechtsirrtum darstellt, wenn ein Rechtsanwalt die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Ersatzeinreichung von Rechtsmittelschriften (§ 130d Satz 2 ZPO) nicht kennt, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 4. September 2024 – IV ZB 31/23):

 

Die Klägerin beansprucht über ihre nicht in Rede stehende mindestens hälftige Erbenstellung hinaus, Alleinerbin eines Nachlasses in Höhe von 5.000.000 € zu sein. Gegen das die Klage abweisende und der Widerklage stattgebende Urteil des Landgerichts – zugestellt am 3. Juli 2023 – hat ihre Prozessbevollmächtigte durch einen Originalschriftsatz Berufung eingelegt, der am 1. August 2023 in den Nachtbriefkasten des OLG eingeworfen wurde. Am 2. August 2023 wurde die Prozessbevollmächtigte durch das Berufungsgericht auf § 130d ZPO hingewiesen. Am 3. August 2023 übermittelte sie die Berufungsschrift über das beA ihres Ehemannes und teilte mit am 4. August 2023 eingegangenen Schriftsatz mit, sie habe „seit einigen Tagen bis einschließlich heute, den 04.08.2023, ca. 12 Uhr aufgrund von technischen Schwierigkeiten keinen Zugang“ zu ihrem beA-Postfach gehabt. Nachdem das Berufungsgericht angekündigt hatte, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Das OLG hat den Antrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Bis zum Ablauf der am 3. August 2023 endenden Frist ist keine ordnungsgemäße Berufungsschrift beim Berufungsgericht eingegangen. Die Einlegung der Berufung mittels des am 1. August 2023 eingegangenen Originalschriftsatzes ist unwirksam, weil die Klägerin bei Einreichung der Berufung in Schriftform nicht gemäß § 130d Satz 3 Halbsatz 1 ZPO zu den Voraussetzungen des § 130d Satz 2 ZPO vorgetragen und diese glaubhaft gemacht hat, obwohl ihr zu diesem Zeitpunkt die Hinderungsgründe für eine Einreichung auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg bekannt waren und ihr zugleich eine sofortige Glaubhaftmachung dieser Gründe möglich war. Zum Zeitpunkt der Einlegung der Berufung in Schriftform war der Ausfall ihres beA der Prozessbevollmächtigen seit einigen Tagen bekannt. In einem solchen Fall ist es ohne rechtliche Wirkung, wenn erst nachträglich die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Die Voraussetzungen der anerkannten Ausnahmen von dem Grundsatz, dass die Einlegung der Berufung ohne eine gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgte Glaubhaftmachung unwirksam ist, liegen hier nicht vor. Weder hat die Klägerin die Darlegung der Hinderungsgründe am Tag der Ersatzeinreichung nachgeholt, noch hatte ihre Prozessbevollmächtigte das technische Defizit erst kurz vor Fristablauf bemerkt, so dass ihr keine Zeit blieb, die Hinderungsgründe glaubhaft zu machen. Letzteres ergibt sich daraus, dass die Frist zur Einlegung der Berufung erst mit Ablauf des übernächsten Tages endete.

Auch die Übermittlung der Berufungsschrift am 3. August 2023 in der Form eines von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin einfach signierten Schriftsatzes über das beA ihres Ehemannes stellt keine wirksame Einlegung des Rechtsmittels dar. Die Einreichung eines elektronischen Dokuments bei Gericht ist nur dann formgerecht, wenn es entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist oder von der verantwortenden Person selbst auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wird (§ 130a Abs. 3 und 4 ZPO). Entgegen der Auffassung der Klägerin stellt die Übersendung mit lediglich einer einfachen Signatur ihrer Prozessbevollmächtigen über das beA eines anderen Rechtsanwalts keine wirksame Einlegung des Rechtsmittels dar. Zwar ist das beA grundsätzlich ein sicherer Übermittlungsweg (§ 130a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Allerdings soll durch die Regelungen des § 130a Abs. 3 und 4 ZPO sichergestellt werden, dass die Identität des Signierenden von einem Dritten geprüft und bestätigt wurde. Bei der Übermittlung mittels des beA erfolgt die Überprüfung der Identität des Absenders bei der Prüfung des Zulassungsantrags durch die Rechtsanwaltskammern und der nachfolgenden Zuteilung eines beA an den Rechtsanwalt. Der sichere Übermittlungsweg über das beA gewährleistet die Identität des Absenders deshalb nur dann, wenn die verantwortende Person – also der Rechtsanwalt als Inhaber des beA (hier der Ehemann der Prozessbevollmächtigten der Klägerin) – den Versand selbst vornimmt. Diese Voraussetzungen waren hier aber nicht erfüllt. Vielmehr hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin dargelegt, sie habe das Versenden der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen, nachdem ihr Ehemann – unter Verstoß gegen § 23 Abs. 3 Satz 5 RAVPV – den Zugang zu seinem beA zur Verfügung gestellt hatte. In diesem Zusammenhang kommt es gerade nicht auf die Identität zwischen demjenigen, der das elektronische Dokument einfach signiert, und demjenigen, der die Absendung tatsächlich vornimmt, an.

Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht auch das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes verneint. Die Klägerin war nicht ohne Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten; sie muss sich insoweit das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Ohne Erfolg macht sie geltend, der ihrer Prozessbevollmächtigten unterlaufene Fehler bei der Einreichung der Berufung durch einen Originalschriftsatz ohne gleichzeitige Glaubhaftmachung der Hinderungsgründe sei ein unvermeidbarer Rechtsirrtum gewesen. Der Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über gesetzliche Erfordernisse ist regelmäßig nicht unverschuldet. Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Verfahrensbevollmächtigte die volle von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn der Beteiligte, der dem Anwalt die Verfahrensführung überträgt, darf darauf vertrauen, dass er dieser als Fachmann gewachsen ist. Selbst wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor kurzem geänderte Gesetzeslage handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Ein Rechtsirrtum ist nur ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen, wenn er auch unter Anwendung der erforderlichen Sorgfaltsanforderungen nicht vermeidbar war. Hieran gemessen erweist sich der Rechtsirrtum der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht als unvermeidbar. Die Rechtsfrage, ob im Falle einer Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes nach § 130d Satz 2 ZPO die Glaubhaftmachung der Hinderungsgründe im Regelfall gleichzeitig zu erfolgen hat, ist höchstrichterlich geklärt, so dass sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hieran hätte orientieren müssen. Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hinsichtlich der unwirksamen Übermittlung der Berufung als elektronisches Dokument über das beA ihres Ehemannes ein unvermeidbarer Rechtsirrtum der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorliegt. Auch insoweit war die Rechtslage geraume Zeit vor der hier in Rede stehenden Nutzung eines fremden beA mit einfacher Signatur am 3. August 2023 geklärt; an dieser Rechtsprechung hätte sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin orientieren müssen.

 

Fazit: Von einem Rechtsanwalt kann erwartet werden, dass er (selbst) die Voraussetzungen für die wirksame Einlegung eines Rechtsmittels kennt (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2023 – VIII ZB 41/22 –, MDR 2023, 383).

Online-Dossier: Digitalisierung im Prozessrecht – Videokonferenztechnik, Elektronischer Rechtsverkehr, Online-Verfahren

Neue Gesetze im deutschen Prozessrecht – das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeiten, aber auch das Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz – befördern den modernen und überfälligen Digitalisierungsprozess in den Gerichten. Einen noch größeren Schritt in die Zukunft unternimmt das BMJ mit der Entwicklung und Erprobung eines vereinfachten, digital unterstützten Verfahren für Zahlungsklagen bis zu 5.000 € an bestimmten Amtsgerichten. Alle Neuregelungen sorgen einerseits für zeitgemäße Verfahrensweisen; andererseits stellen sich neue Fragen bzw. bleiben Probleme ungeklärt. Die Gerichte stehen vor erheblichen Veränderungen und die Anwaltschaft vor neuen Herausforderungen. In unserem stetig anwachsenden Online-Dossier finden Sie zahlreiche Aufsätze und wertvolle Kommentierungen zu den neuen Vorschriften sowie praxisnahe Hilfestellungen und bleiben bei allen Entwicklungen auf den neuesten Stand.

 

1. Aufsätze

  • Greger, Neue Regeln für elektronische Schriftsätze – Wie persönliche und rechtsgeschäftliche Erklärungen zu übermitteln sind, MDR 2024, 1013
  • Bacher, Gerichtsverhandlung per Videokonferenz — Neuregelungen durch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik, MDR 2024, 945
  • Beck, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit, MDR 2024, R161
  • Odrig, Der zivilprozessuale Öffentlichkeitsgrundsatz im Zeitalter digitaler Kommunikation, MDR 2024, 877
  • Dötsch, Das digitale Präsidium, MDR 2024, 11
  • Bayreuther, Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz (§ 46h ArbGG, § 130e ZPO): Renaissance der Schriftsatzkündigung?, DB 2024, 1820
  • Beck, Die virtuelle Verhandlung, GVRZ 2023, 6

 

2. Literatur

 

Zöller, Zivilprozessordnung ZPO
Kommentar

— Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und in den Fachgerichtsbarkeiten —

Komplettaustausch der Kommentierung:

Zu den anderen zahlreichen geänderten Normen finden Sie den neuen Gesetzestext unter dem bisherigen Normtext und Annotationen an Ort und Stelle in den Kommentierungen selbst:

 

— Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz —

Komplettaustausch der Kommentierung:

Annotationen:

 

Hinzu kommt eine Reihe von regelmäßigen Annotationen, vor allem zu wichtiger neuer Rechtsprechung, u.a. auch zum elektronischen Rechtsverkehr:

 

3. Aktuelle Rechtsprechung

  • BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23: Videoverhandlung: Verwendung nur einer Kamera ohne Zoomfunktion, MDR 2024, 320,
  • BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22: Videokonferenz: Erfordernis der Sichtbarkeit aller Richter, MDR 2023, 1131,
  • BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22: Videokonferenz: Erfordernis der Sichtbarkeit aller Richter, MDR 2023, 1570 (Greger),

 

4. Blog-Beiträge

Anwaltsblog 39/2024: Rechtsanwälte müssen immer den sichersten Weg wählen!

Welche Verpflichtungen den Rechtsanwalt treffen, wenn unklar ist, ob die Zustimmung zum Ruhen eines Verfahrens nach sechs Monaten die Hemmungswirkung einer Klage beendet (§ 204 Abs. 2 BGB), hatte der IX. Zivilsenat zu entscheiden (BGH, Urteil vom 19. September 2024 – IX ZR 130/23):

Der Kläger nimmt die Beklagten als seine früheren Rechtsanwälte auf Schadensersatz in Anspruch, weil sie nicht verhindert hätten, dass der ihm gegen seine frühere Ehefrau zustehende Zugewinnausgleichsanspruch verjährt sei. Die Ehefrau des Klägers nahm diesen vor dem Familiengericht Mannheim auf Zugewinn in Anspruch. Der Kläger erhob darauf ebenfalls eine auf Ausgleich des Zugewinns gerichtete Klage vor dem Familiengericht Delmenhorst. Dieses schlug den Parteien das Ruhen des Verfahrens vor; der Ausgang des Verfahrens in Mannheim solle abgewartet werden. Die Beklagten beantragten das Ruhen des Verfahrens; die Ehefrau des Klägers stimmte zu. Nach Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung des Klägers in dem in Mannheim betriebenen Verfahren riefen die Beklagten das Verfahren in Delmenhorst wieder auf. Das Familiengericht Delmenhorst wies die Klage ab, weil im Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens bereits Verjährung eingetreten gewesen sei. Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagten hätten erkennen müssen, dass das Ruhen des Verfahrens die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zur Folge haben würde. Das OLG hat seine Klage abgewiesen.

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Entgegen der Annahme des OLG haben die Beklagten die ihnen aufgrund des mit dem Kläger geschlossenen Anwaltsvertrags obliegende Pflicht verletzt, den sichersten Weg zu wählen, die Rechte des Klägers zu sichern und geltend zu machen. Denn sie haben ihn weder über die mit einem Ruhen des Verfahrens verbundenen Risiken für ein Ende der Hemmung der Verjährung aufgeklärt noch Maßnahmen aufgezeigt oder ergriffen, um erhebliche Unsicherheiten über die drohende Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zu vermeiden. Die Beklagten haben das ruhend gestellte Verfahren über den Zugewinnausgleichsanspruch des Klägers nicht vor dem Ablauf der in § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB geregelten Frist von sechs Monaten wieder aufgerufen und auch nicht mit der Ehefrau des Klägers eine ausdrückliche Vereinbarung über die weitere Hemmung der Verjährung getroffen.

Der Rechtsanwalt muss seinem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist. Wenn mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, hat er diejenige zu treffen, welche die sicherste und gefahrloseste ist, und, wenn mehrere Wege möglich sind, um den erstrebten Erfolg zu erreichen, den zu wählen, auf dem dieser am sichersten erreichbar ist. Gibt die rechtliche Beurteilung zu begründeten Zweifeln Anlass, so muss der Rechtsanwalt auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle der seinem Auftraggeber ungünstigeren Beurteilung der Rechtslage anschließt.

Die Beklagten waren beauftragt, den Zugewinnausgleichsanspruch des Klägers geltend zu machen. Sie waren dabei auch verpflichtet, vermeidbare Nachteile für den Kläger als ihren Mandanten zu verhindern. Sie hatten deshalb dessen Anspruch vor der Verjährung zu sichern. Diese Pflicht haben sie schuldhaft verletzt. Sie haben keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um eine drohende Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers rechtssicher auszuschließen. Die maßgebliche dreijährige Verjährungsfrist des § 1378 Abs. 4 Satz 1 BGB a.F. begann am 22. Juli 2004 mit der Kenntnis des Klägers von der Rechtskraft des Scheidungsurteils zu laufen. Durch die am 31. Mai 2007 erhobene Klage wurde die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt. Die Hemmung endete gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Gerät das Verfahren in Stillstand, weil es die Parteien nicht betreiben, so tritt gemäß § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB die letzte Verfahrenshandlung an die Stelle der Beendigung des Verfahrens. Mit Beschluss vom 14. Januar 2007 wurde das Ruhen des Verfahrens vor dem Familiengericht Delmenhorst angeordnet; das Verfahren geriet hierdurch in Stillstand (§ 204 Abs. 2 Satz 1 BGB). Dann mussten die Beklagten Rechnung stellen, dass im Regelfall die Hemmung der Verjährung des Anspruchs des Klägers sechs Monate später mit Ablauf des 14. Juli 2007 endete. Die zwischenzeitlich gehemmte Verjährung wäre dann wieder in Lauf gesetzt worden. Unter diesen Voraussetzungen wäre die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers bereits eingetreten gewesen, als die Beklagten im November 2007 das Verfahren wieder aufriefen. Denn zu diesem Zeitpunkt wären die von der dreijährigen Verjährungsfrist vor Eintritt der Hemmung noch verbliebenen 52 Tage abgelaufen gewesen. Den Beklagten musste einerseits bekannt sein, dass nach § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB die Hemmung der Verjährung sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens endete. Andererseits mussten sie wissen, dass gemäß § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB die letzte Verfahrenshandlung an die Stelle der Beendigung des Verfahrens tritt, wenn das Verfahren in Stillstand gerät, weil die Parteien es nicht betreiben. Die Beklagten durften nicht außer Acht lassen, dass die Rechtsprechung bereits im Jahr 2007 das Ruhen des Verfahrens als Stillstand iSd. § 204 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. einordnete und auch in den zur Zeit der rechtlichen Beratung gängigen Kommentaren auf dieses Problem hingewiesen wurde.

Der Annahme einer Pflichtverletzung der Beklagten steht nicht entgegen, dass möglicherweise ein triftiger Grund iSd. § 204 Abs. 2 BGB für das Untätigbleiben der Beklagten zu 2 bestand. Denn nach dem gerade für Verjährungsfragen maßgeblichen „Gebot des sichersten Weges“ hatten die Beklagten im Hinblick auf eine etwaige ungünstigere Beurteilung der Rechtslage durch das mit der Sache befasste Gericht den Weg aufzuzeigen, der eine Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs des Klägers jedenfalls sicher verhindert hätte. Demgemäß ist die Frage, ob im Streitfall ein triftiger Grund bestand, das Verfahren nicht zu betreiben, von drei Gerichten verneint, von dem Berufungsgericht jedoch bejaht worden. Bereits die unterschiedliche Beurteilung dieser Frage durch die Gerichte deutet darauf hin, dass die Beklagten insoweit nicht den sichersten Weg eingeschlagen haben. Die Beklagten hatten den Kläger über die Maßnahmen aufzuklären, die den Eintritt der Verjährung des Anspruchs zu verhindern vermochten. Auch hätten sie dem Kläger aufzeigen müssen, dass trotz der Anregung des Gerichts von einer entsprechenden Antragstellung abgesehen werden konnte. Sie hätte den Kläger auf die mit der Durchführung des Verfahrens verbundenen Risiken, insbesondere die dadurch anfallenden Kosten hinweisen müssen. Ferner hätten die Beklagten dem Kläger auch vorschlagen können, mit der Ehefrau des Klägers eine ausdrückliche Vereinbarung über die weitere Hemmung der Verjährung zu treffen. Soweit die Ehefrau des Klägers zu einer Vereinbarung nicht bereit gewesen wäre, hätten die Beklagten dem Kläger die dann zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruchs zu verhindern, darstellen müssen.

 

Fazit: Der Rechtsanwalt hat, wenn mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, diejenige zu treffen, welche die sicherste und gefahrloseste ist, und, wenn mehrere Wege möglich sind, um den erstrebten Erfolg zu erreichen, den zu wählen, auf dem dieser am sichersten erreichbar ist. Gibt die rechtliche Beurteilung zu ernstlich begründeten Zweifeln Anlass, so muss er auch in Betracht ziehen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle der seinem Auftraggeber ungünstigeren Beurteilung der Rechtslage anschließt (BGH Urt. v. 23.9.2004 – IX ZR 137/03, MDR 2005, 435).