Anwaltsblog 6/2024: Wie weit geht das Bankgeheimnis, wenn die Fälschung von Unterschriften im Raume steht?

Darf sich ein Bankinstitut unter Berufung auf das Bankgeheimnis weigern, Original-Urkunden einem Schriftsachverständigen vorzulegen, wenn ein als Bürge Inanspruchgenommener geltend macht, seine Frau habe seine Unterschriften gefälscht? Diese Frage hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 29. November 2023 – XII ZB 141/22):

Getrenntlebende Eheleute sind gemeinsam mit der Mutter des Ehemanns Miteigentümer eines von ihnen bewohnten Anwesens. Auf Antrag der Ehefrau ist das Scheidungsverfahren anhängig. Der Ehemann hat beantragt, von der Durchführung des Versorgungsausgleichs nach § 27 VersAusglG (Wegfall wegen grober Unbilligkeit) abzusehen. Dazu hat er vorgetragen, die Ehefrau habe unberechtigt seine Unterschriften auf einer Bürgschaftsurkunde und einer Eigentümererklärung angebracht. Hiervon habe er erstmals erfahren, als die Bausparkasse ihn auf Zahlung von rund 19.500 € für ein Darlehen des volljährigen Sohnes in Anspruch genommen habe. Zum Beweis der behaupteten Fälschung seiner Unterschriften hat der Ehemann die Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens beantragt sowie zu diesem Zweck die an die Bausparkasse gerichtete gerichtliche Anordnung, die in ihrem Besitz befindlichen Originale der in Kopie vorliegenden Bürgschaftsurkunde und Eigentümererklärung vorzulegen, begehrt. Die Bausparkasse hat die Vorlage der beiden Original-Urkunden unter Bezugnahme auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO verweigert, da die Unterlagen ein Darlehensverhältnis zwischen ihr und einer dritten, am gerichtlichen Verfahren nicht beteiligten Person beträfen, die ihr ausdrücklich die Herausgabe der Unterlagen untersagt habe.

Die Bausparkasse muss die Original-Urkunden vorlegen. Nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO sind Personen, denen kraft ihres Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist, in Betreff der Tatsachen, auf welche die Verpflichtung zur Verschwiegenheit sich bezieht, zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt. Die Vorschrift, die auch für die Vorlegung von Urkunden durch Dritte Anwendung findet, begründet ein Zeugnisverweigerungsrecht für die dem zivilrechtlichen Bankgeheimnis unterfallenden Tatsachen. Dieses Bankgeheimnis gilt jedoch nicht grenzenlos. So sieht bereits das Gesetz selbst Durchbrechungen vor (vgl. etwa § 840 ZPO). Darüber hinaus kann es zu einer Kollision des Bankgeheimnisses mit Aufklärungs- oder Auskunftsansprüchen eines anderen Kunden oder eines Dritten kommen, die im Einzelfall durch eine Interessen- und Güterabwägung zu lösen ist. Insbesondere in Fällen von Kreditsicherheiten eines Dritten für eine fremde Darlehensschuld wie bei einer Bürgschaft oder Grundschuld kann im Einzelfall eine Aufklärungs- oder Informationspflicht bestehen, die dem Bankgeheimnis vorgeht. Daher ist die Bausparkasse nicht berechtigt, unter Berufung auf das Bankgeheimnis die Vorlage der Originale der Bürgschaftsurkunde und der Eigentümererklärung zu verweigern.

Denn dem als Drittsicherungsgeber in Anspruch genommenen Ehemann steht gegenüber der Bausparkasse ein Einsichtsrecht nach § 810 Alt. 2 BGB zu, hinter dem das Bankgeheimnis zurücktreten muss. Nach § 810 Alt. 2 BGB kann jeder die Gestattung der Einsicht in eine Urkunde von deren Besitzer verlangen, wenn die Urkunde in seinem Interesse – nämlich zumindest auch für ihn als Beweismittel – errichtet wurde und in dieser ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes – gegebenenfalls unwirksames – Rechtsverhältnis beurkundet ist. Auf ein rechtliches Interesse kann sich jeder berufen, der – wie hier der Ehemann – die Einsichtnahme in eine Urkunde zur Förderung, Erhaltung oder Verteidigung seiner rechtlich geschützten Interessen benötigt. So steht etwa dem Bürgen gegenüber dem Gläubiger des Hauptschuldners grundsätzlich ein Einsichtsrecht in die das Rechtsverhältnis des Gläubigers zum Hauptschuldner betreffenden Urkunden zu. Nichts Anderes kann für denjenigen gelten, der seiner Inanspruchnahme als Bürge mit der substantiierten Behauptung entgegentritt, die Bürgschaftserklärung sei gefälscht, und der die Einsichtnahme in die Bürgschaftsurkunde benötigt, um diese Behauptung zu beweisen. Hinter dem rechtlichen Interesse des Ehemanns muss unter den hier maßgeblichen Umständen das durch das Bankgeheimnis geschützte Geheimhaltungsinteresse der Bausparkasse zurücktreten. Dabei ist bei der erforderlichen Abwägung auch zu berücksichtigen, in welchem Umfang die aufklärungspflichtige Bank gezwungen wäre, Einzelheiten ihrer Geschäftsverbindung mit einem anderen Kunden und über dessen Vermögenslage zu offenbaren. Die beiden Urkunden, insbesondere die Eigentümererklärung, enthalten nur wenige Einzelheiten über die Geschäftsverbindung zwischen der Bausparkasse und ihrem Kunden. Die Bürgschaftsurkunde benennt neben der Bausparvertrag-Nummer den Darlehensnehmer, den Darlehensbetrag sowie die Konditionen des Darlehens. Die Eigentümererklärung beschränkt sich demgegenüber auf die Mitteilung der Darlehensgewährung, des Darlehensnehmers und der Bausparvertrag-Nummer. Diese Umstände sind aber aufgrund der Kopien der Urkunden, die die Bausparkasse zur Realisierung ihrer eigenen Ansprüche übersandt hat, bereits offenbart und bekannt.

 

Fazit: Ein Bankinstitut kann nicht unter Berufung auf das Bankgeheimnis gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO die Vorlage von Original-Urkunden verweigern, wenn im Einzelfall das Interesse des Beweisführers an ihrer Vorlage höher zu gewichten ist (hier: zum Beweis der Unechtheit der Urkunden).

 

Anmerkung: Eine zivilprozessuale Pflicht zur Vorlage von Urkunden der nicht beweisbelasteten Partei kann sich nur aus den speziellen Vorschriften der §§ 422, 423 ZPO oder aus einer Anordnung des Gerichts nach § 142 Abs. 1 ZPO ergeben. § 142 Abs. 1 ZPO ist auch anwendbar, wenn sich der beweispflichtige Prozessgegner auf eine Urkunde bezogen hat, die sich im Besitz der nicht beweisbelasteten Partei befindet. Auch die Vorschrift des § 142 Abs. 1 ZPO befreit die Partei, die sich auf eine Urkunde bezieht, nicht von ihrer Darlegungs- und Substanziierungslast. Daher darf das Gericht die Urkundenvorlegung nicht zum Zwecke bloßer Informationsgewinnung, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags anordnen (BGH, Urteil vom 26.06.2007 – XI ZR 277/05, MDR 2007, 1333).

 

OLG Koblenz: Unwirksamkeit einer Zustellung wegen nicht lesbaren Datums

In konsequenter Fortsetzung einer neueren Entscheidung des BGH (Versäumnisurt. v. 15.3.2023 – VIII ZR 99/22, MDR 2023, 797 – ein fehlender Datumsvermerk auf dem Zustellungsumschlag führt zur Unwirksamkeit der Zustellung) hat das OLG Koblenz (Urt. v. 13.12.2023 – 10 U 472/23) eine Entscheidung zur Frage der Wirksamkeit einer Zustellung für den Fall getroffen, dass das Datum auf dem Umschlag zwar vorhanden, jedoch nicht deutlich lesbar ist.

Es ging um die Frage eines rechtzeitigen Einspruchs. Aus der bei der Gerichtsakte befindlichen Zustellungsurkunde ergab sich, dass die maßgebliche Zustellung am 12.12. erfolgt war. Auf dem Umschlag, worauf das Datum zu vermerken ist (§ 180 S. 3 ZPO), war das Datum jedoch nicht eindeutig lesbar. Es hätte 12.12. oder 17.12. heißen können. Das LG hatte noch die Auffassung vertreten, man hätte sich bei Gericht erkundigen oder vorsichtshalber auf das ältere Datum abstellen müssen. Das OLG Koblenz jedoch erklärt § 180 S. 3 ZPO, wonach der Zusteller auf dem Umschlag das Datum zu vermerken hat, zu einer zwingenden Zustellungsvorschrift, deren Verletzung die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge hat. Konsequenz: Die Zustellung ist insgesamt unwirksam. Die Frist für den Einspruch begann damit erst mit der Kenntnisnahme des Versäumnisurteils (§ 189 ZPO). Eine Nachforschungspflicht lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen, so dass sie einer Partei nicht auferlegt werden kann.

Fazit: Leider ist in der Praxis immer wieder zu beachten, dass bei Zustellungen sehr unsorgfältig gearbeitet wird. Dies liegt natürlich auch daran, dass die Zusteller selbst unter einem hohen Arbeitsdruck stehen. Um Zustellungsfehler noch ausnützen zu können, muss man sich immer den Umschlag der zugestellten Sendung im Original zeigen lassen und gegebenenfalls aufbewahren. So lässt sich durchaus nicht selten, manche Frist noch retten!

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen für die fristlose Kündigung eines Mietvertrags über Wohnraum.

Das Zerrüttungsprinzip gilt nicht im Mietrecht
BGH, Urteil vom 29. November 2023 – VIII ZR 211/22

Der VIII. Zivilsenat befasst sich mit den Tatbestandvoraussetzungen von § 543 Abs. 1 BGB.

Die Beklagten sind seit 2011 Mieter einer im ersten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses gelegenen Wohnung der Kläger. Die Kläger wohnen im Erdgeschoss desselben Hauses. Seit 2014 kam es zwischen den Parteien zu regelmäßigen Auseinandersetzungen wegen angeblicher Vertragsverletzungen, etwa Verstößen gegen die Haus- und Reinigungsordnung, Lärmbelästigungen, fehlerhaftem Befüllen und Abstellen von Mülltonnen sowie Zuparken von Einfahrten. Im Mai 2020 erstatteten die Beklagten eine Strafanzeige, in der sie unter anderem angaben, die Kläger hätten behauptet, die Beklagten hätten sich rassistisch über türkischstämmige Mitbürger geäußert. Wegen dieser Anzeige und wegen Zerrüttung des Mietverhältnisses erklärten die Kläger die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses. Die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage hatte in den beiden ersten Instanzen keinen Erfolg.

Die Revision der Kläger bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

Die Strafanzeige stellt keinen hinreichenden Grund für die fristlose Kündigung dar, weil sie nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts inhaltlich zutrifft.

Die unstreitig vorliegende Zerrüttung des Mietverhältnisses reicht für eine fristlose Kündigung ebenfalls nicht aus. Ein wichtiger Grund zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ist im Allgemeinen nur dann gegeben, wenn der Grund, auf den die Kündigung gestützt wird, im Risikobereich des anderen Vertragsteils liegt. Eine Zerstörung der das Schuldverhältnis tragenden Vertrauensgrundlage kommt deshalb nur dann als zureichender Kündigungsgrund in Betracht, wenn sie zumindest auch durch ein pflichtwidriges Verhalten des anderen Vertragsteils verursacht worden ist. Diese Voraussetzung ist nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall nicht erfüllt.

Praxistipp: Damit eine fristlose Kündigung auf die Verletzung einer Pflicht aus dem Mietvertrag gestützt werden kann, ist gemäß § 543 Abs. 3 BGB grundsätzlich eine vorherige Abmahnung erforderlich.

Anwaltsblog 5/2024: Welche Mindestangaben muss ein erster Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist aufweisen?

Ob für einen ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist die Angabe des Berufungsführers ausreicht, er sei „nicht in der Lage“, die Berufung fristgerecht zu begründen, hatte aktuell der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2024 – VIII ZB 31/23):

 

Der Kläger hat beantragt, die am 16. Januar 2023 (Montag) ablaufende Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern, da er „nicht in der Lage“ sei, die Berufung fristgerecht zu begründen. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Berufungssenats mit Verfügung vom 13. Januar 2023 abgelehnt und den Kläger anschließend – nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist – darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung mangels Eingangs einer Berufungsbegründung als unzulässig zu verwerfen. Daraufhin hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufungsbegründung eingereicht.  Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe mit seiner Ausführung, wonach er „nicht in der Lage“ gewesen sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, einen erheblichen Grund iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht dargelegt. Es werde lediglich mitgeteilt, dass die Frist nicht eingehalten werden könne, ohne hierfür überhaupt einen sachlichen Grund anzugeben. Eine Schlussfolgerung auf einen erheblichen Grund wäre eine reine Spekulation. Somit habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Berufungsbegründungsfrist mit großer Wahrscheinlichkeit verlängert werde, und diese daher schuldhaft versäumt.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung verletzt nicht die Verfahrensgrundrechte des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs und auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Gemessen hieran verletzen die Versagung einer Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Berufung als unzulässig den Kläger in seinen vorgenannten Verfahrensgrundrechten nicht, da die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem dem Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht. Denn dieser durfte mangels Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht auf die Gewährung der von ihm beantragten Verlängerung der Frist vertrauen. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Zwar muss ein Berufungskläger grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Ohne Verschulden im Sinne von § 233 ZPO handelt der Rechtsanwalt daher nur dann, wenn (und soweit) er auf die Fristverlängerung vertrauen durfte, das heißt, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Dies ist jedoch bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist im Allgemeinen der Fall, sofern dieser auf erhebliche Gründe iSd. des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt wird. An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Wird der Antrag auf Fristverlängerung nicht in diesem Sinne begründet, muss der Rechtsmittelführer hingegen damit rechnen, dass der Vorsitzende in einem solchen Antrag eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen werde.

So liegt der Fall hier. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in seinem Antrag einen erheblichen Grund für die Gewährung der von ihm begehrten Fristverlängerung nicht genannt. Er hat lediglich darauf verwiesen, dass er „nicht in der Lage“ sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, was das Berufungsgericht zu Recht als bloße Mitteilung der Nichteinhaltung der Frist angesehen hat. Ein Grund, warum der Prozessbevollmächtigte des Klägers hierzu „nicht in der Lage“ gewesen sei, wird nicht genannt. Somit genügt der Fristverlängerungsantrag selbst den geringen Anforderungen nicht, welche die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO stellt. Anders als der Kläger meint, kann die Erklärung seines Prozessbevollmächtigten nicht dahingehend ausgelegt werden, er habe sich konkludent darauf berufen, aufgrund einer Arbeitsüberlastung „nicht in der Lage“ gewesen zu sein, die Berufung fristgerecht zu begründen. Zwar kann unter Umständen auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen genügen und zählt zu den erheblichen Gründen iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. Einer Auslegung des Fristverlängerungsantrags dahingehend, dass sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers konkludent auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe, steht jedoch entgegen, dass im Antrag keinerlei tatsächlichen Umstände genannt werden, aus denen der Anlass der begehrten Fristverlängerung hätte entnommen und aus denen somit ein Rückschluss auf den erheblichen Grund hätte gezogen werden können. Allein aus der unterbliebenen Angabe anderer Hinderungsgründe folgt entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass sich der Klägervertreter zur Begründung seines Fristverlängerungsantrags (konkludent) auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe.

 

Fazit: An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund – wie z.B. Arbeitsüberlastung – aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Die Angabe des Berufungsführers, er sei „nicht in der Lage“, die Berufung fristgerecht zu begründen, reicht aber nicht aus.

 

Anmerkung: Bei Einwilligung des Gegners ist auch das Vertrauen des Berufungsklägers in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt. Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung erneut zu verlängern, darf er darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben wird. (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22 -, MDR 2023, 379). Voraussetzung ist aber, dass mit dem Antrag die Einwilligung des Gegner vorgelegt oder zumindest anwaltlich versichert wird.

Blog powered by Zöller: Video-Verhandlung und faires Verfahren

Die mündliche Verhandlung per Video-Übertragung (§ 128a ZPO) soll den Zivilprozess erleichtern und beschleunigen. Zunehmend müssen sich aber Rechtsmittelgerichte mit Rügen eines verfahrensfehlerhaften Ablaufs befassen – jüngst auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23). Die Kläger in einem finanzgerichtlichen Verfahren  hatten mit der Verfassungsbeschwerde gerügt, ihr Recht auf den gesetzlichen Richter sei dadurch verletzt worden, dass die eingesetzte Kamera nur die gesamte Richterbank abbildete und nicht die Möglichkeit bot, mittels einer von ihnen steuerbarer Zoomfunktion die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu überprüfen.

Die Verfassungsbeschwerde stützte sich auf eine Entscheidung des BFH vom 30.6.2023 – V B 13/22, MDR 2023, 1131 (mit Anm. Greger, MDR 2023, 1366; s. auch Blog vom 4.8.2023), mit der eine Verletzung des  Rechts auf den gesetzlichen Richter bejaht wurde, weil bei der Video-Übertragung  nicht alle Richter ständig zu sehen waren. Von diesem hohen verfassungsrechtlichen Podest hat das BVerfG die Unzulänglichkeiten der Video-Verhandlung aber heruntergeholt. Die Garantie des gesetzlichen Richters werde durch solche nicht verletzt; allenfalls könne das Recht auf ein faires Verfahren tangiert sein. Dazu gehöre nämlich, dass die Verfahrensbeteiligten die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank überprüfen können, und daran könne es fehlen, wenn bei Videoverhandlungen aus der Distanz gefilmt wird und die Übertragungsqualität hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei Anwesenheit vor Ort zurückbleibt.

Im vorliegenden Fall hatten die Beschwerdeführer nicht vorgetragen, dass eine solche Beschränkung vorlag und von ihnen in der Verhandlung beanstandet wurde. Die Verfassungsbeschwerde wurde daher nicht zur Entscheidung angenommen. Dem Nichtannahmebeschluss sind gleichwohl zwei wichtige Aussagen zu entnehmen:

  1. Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert bei Videoverhandlungen eine Übertragungstechnik, die es den Beteiligten ermöglicht, die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank zu überprüfen. Hieran kann es fehlen, wenn wegen zu großer Distanz die Körpersprache nicht hinreichend wahrnehmbar ist.
  2. Beeinträchtigungen des fairen Verfahrens durch Unzulänglichkeiten der Video-Technik sind sogleich zu beanstanden.

Der auf den absoluten Revisionsgrund des „gesetzlichen Richters“ gestützten Ansicht des BFH, Übertragungsmängel könnten auch noch nachträglich gerügt werden, hat der Beschluss die Grundlage entzogen. Es bleibt aber das Risiko, dass eine Video-Verhandlung abgebrochen werden muss, weil eine Partei die Unzulänglichkeit der Übertragungsqualität rügt.

In der Online-Ausgabe des Zöller ist der Beschluss des BVerfG v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23 bereits berücksichtigt, Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 128a ZPO Rn. 6.2).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Reichweite der Verjährungseinrede.

Verjährung des Anspruchs auf Verschaffung des Eigentums an einem Grundstück
BGH, Urteil vom 13. Oktober 2023 – V ZR 161/22

Der V. Zivilsenat befasst sich mit der Unterscheidung zwischen Leistungshandlung und Leistungserfolg.

Der Vater der beiden Parteien hatte dem Kläger im Jahr 2002 ein notarielles Angebot zum Verkauf mehrerer Grundstücke zum Preis von 6 Euro pro Quadratmeter unterbreitet. Am 30.12.2009 – einen Tag vor Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist – nahm der Kläger das Angebot an. Nach dem Vertrag ist der Kaufpreis fällig, sobald die Löschung der im Grundbuch eingetragenen Grundpfandrechte nachgewiesen ist. Der Notar darf den Antrag auf Umschreibung des Eigentums erst dann stellen, wenn der Verkäufer den Erhalt des Kaufpreises schriftlich bestätigt hat. In der Folgezeit kam es weder zur Löschung der Grundpfandrechte noch zur Zahlung des Kaufpreises.

Mit seiner Anfang Dezember 2019 eingereichten und kurz darauf zugestellten Klage verlangt der Kläger von dem Beklagten als alleinigem Erben des im Jahr 2015 verstorbenen Vaters die Zustimmung zur Löschung der Grundpfandrechte und die Übergabe von Löschungsbewilligungen und Grundpfandbriefen an den Vollzugsnotar.

Während des Rechtsstreits hat der Kläger den Kaufpreis für die Grundstücke beim Amtsgericht hinterlegt. Der Notar erteilte ihm daraufhin eine Ausfertigung der Auflassungserklärung und der Eintragungsbewilligung. Der Kläger reichte diese Unterlagen beim Grundbuchamt ein. Die Umschreibung ist noch nicht erfolgt.

Das LG hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Das OLG hat die Klage abgewiesen.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Zu Recht hat das OLG entschieden, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Löschung der dinglichen Belastungen nicht verjährt ist. Selbst wenn die Zehnjahresfrist des § 196 BGB mit Abschluss des Kaufvertrags Ende Dezember 2009 begonnen hat, wurde sie durch die Anfang Dezember 2019 eingereichte und demnächst zugestellte Klage wirksam gehemmt.

Entgegen der Auffassung des OLG steht dem Klageanspruch nicht der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen. Dieser wäre zwar begründet, wenn der Anspruch auf Übereignung wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar wäre. Im Streitfall kann der Beklagte den Eigentumserwerb durch den Kläger aber trotz Verjährung des Übereignungsanspruchs nicht mehr verhindern.

Der Anspruch auf Übereignung der Grundstücke ist zwar noch nicht erfüllt, weil der Kläger noch nicht als Eigentümer im Grundbuch eingetragen ist. Der Kläger kann sich das Eigentum aber ohne Mitwirkung des Beklagten verschaffen, weil die zur Übertragung des Eigentums erforderlichen Erklärungen bereits abgegeben sind.

Dass der Notar den Antrag erst nach Bestätigung der Kaufpreiszahlung durch den Beklagten beim Grundbuchamt einreichen durfte, ist unerheblich. Nach der Hinterlegung des Kaufpreises durfte der Kläger vom Notar die Herausgabe der erforderlichen Unterlagen verlangen und diese selbst beim Grundbuchamt einreichen, wie dies mittlerweile auch geschehen ist.

Praxistipp: Die Entscheidung zeigt anschaulich, dass vor Erhebung einer zur Verjährungshemmung gebotenen Klage sorgfältig geprüft werden muss, welcher Mitwirkungshandlungen des Schuldners es bedarf und welchen Leistungserfolg der Gläubiger selbst herbeiführen kann. Im Zweifel sollte lieber „zu viel“ in den Klageantrag aufgenommen werden als „zu wenig“.

Anwaltsblog 5/2024: In welcher Frist verjährt der Vergütungsanspruch des Bauträgers?

Verjährt der Vergütungsanspruchs des Bauträgers in der Regelverjährungsfrist des § 195 BGB von drei Jahren oder in der der speziellen Verjährungsfrist des § 196 BGB bei Rechten an einem Grundstück von zehn Jahren? Diese Frage hatte der VII. Zivilsenat des BGH (erneut) zu entscheiden (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2023 – VII ZR 231/22):

 

Ein Bauträger verlangt von den Erwerbern einer Eigentumswohnung die Schlussrate von rund 15.000 €. Die Erwerber berufen sich auf Verjährung und bekommen vor dem Land- wie Oberlandesgericht recht, weil die Restvergütungsforderung der Klägerin der regelmäßigen Verjährungsfrist unterliege, die gemäß § 195 BGB drei Jahre betrage und bei Klageerhebung abgelaufen gewesen sei. Auch wenn die Klageforderung Teil des Entgelts dafür sei, dass die Klägerin den Beklagten Eigentum an einem Grundstück zu übertragen habe, und die errichtete Wohnung „lediglich“ wesentlicher Bestandteil des Miteigentumsanteils sei, richte sich die Verjährung nicht nach § 196 BGB. Die Forderung sei nicht nur die Gegenleistung für die Übertragung des Miteigentumsanteils, sondern auch für die Erbringung von Bauleistungen. Deshalb sei die Vergütungsforderung nicht aufteilbar in eine für die Eigentumsübertragung sowie eine für die Bauleistung, weshalb die Verjährung einheitlich nach der Leistung zu beurteilen sei, die bei weitem überwiege und das Vertragsverhältnis charakterisiere. Das sei die Bauleistung.

Die Revision des Bauträgers hat Erfolg. Der Anspruch auf Zahlung der restlichen Vergütung aus dem Bauträgervertrag unterliegt der zehnjährigen Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB und ist noch nicht verjährt. Bei einem Bauträgervertrag handelt es sich um einen einheitlichen Vertrag, der neben werkvertraglichen auch (soweit der Grundstückserwerb in Rede steht) kaufvertragliche Elemente enthält. Grundsätzlich ist bei Bauträgerverträgen hinsichtlich der Errichtung des Bauwerks Werkvertragsrecht, hinsichtlich der Übertragung des Eigentums an dem Grundstück hingegen Kaufrecht anzuwenden. Der Anspruch der Klägerin hat daher eine einheitliche Vergütung zum Gegenstand, so dass der Vergütungsanspruch nur einheitlich verjähren kann.    Für den einheitlichen Vergütungsanspruch des Bauträgers gilt jedoch nicht die dreijährige Regelverjährungsfrist gemäß § 195 BGB, sondern die zehnjährige Verjährungsfrist gemäß § 196 BGB. Nach § 196 BGB verjähren Ansprüche auf Übertragung des Eigentums an einem Grundstück sowie auf Begründung, Übertragung oder Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück oder auf Änderung des Inhalts eines solchen Rechts sowie die Ansprüche auf die Gegenleistung in zehn Jahren. § 196 BGB verdrängt insoweit als speziellere gesetzliche Regelung § 195 BGB. Diese spezielle Verjährungsregelung ist auch auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anwendbar. Aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten ist es gerechtfertigt, § 196 BGB als speziellere Regelung auf den Vergütungsanspruch des Bauträgers anzuwenden. Da es sich bei dem Vergütungsanspruch des Bauträgers um einen einheitlichen Anspruch handelt, der folglich einer einheitlichen Verjährung unterliegt, kann sich die Verjährung dieses Anspruchs nur entweder nach § 196 BGB oder nach § 195 BGB richten. Da der einheitliche Vergütungsanspruch des Bauträgers jedenfalls auch eine Gegenleistung für die von ihm – neben der Bauwerkserrichtung – geschuldete Übertragung des Eigentums an dem Grundstück und damit eine Gegenleistung iSd. § 196 BGB darstellt, ist es gerechtfertigt, insoweit einheitlich die speziellere Verjährungsregelung des § 196 BGB anzuwenden. Gegen diese Beurteilung kann nicht eingewendet werden, dass es sich bei dem Vergütungsanspruch um einen Anspruch aus einem Mischvertrag handelt, bei dem die vom Bauträger geschuldete Übertragung des Eigentums an dem Grundstück gegenüber der Bauwerkserrichtung von derart untergeordneter Bedeutung für das Vertragsverhältnis ist, dass § 196 BGB auf den Vergütungsanspruch nicht angewendet werden könnte. Vielmehr ist die Übertragung des Eigentums an dem Grundstück bei einem Bauträgervertrag von wesentlichem Interesse für den Erwerber. Der Anspruch des Erwerbers ist auf Übertragung des Grundstücks mit dem zu errichtenden Bauwerk gerichtet. Das Bauwerk wird mit seiner Errichtung wesentlicher Bestandteil des Grundstücks (§ 94 Abs. 1 Satz 1 BGB). Das Eigentum an dem Grundstück erstreckt sich daher auch auf das Eigentum an dem Bauwerk (§ 946 BGB). Die mit der einheitlichen Vergütung abgegoltenen Leistungen – auch die Leistungen betreffend die Bauwerkserrichtung – haben danach für den Erwerber keinen nachhaltigen Wert, wenn er nicht Eigentümer des Grundstücks wird.

Fazit: Verpflichtet sich der Veräußerer eines Grundstücksanteils in einem Bauträgervertrag zur Errichtung eines Bauwerks, verjährt sein einheitlich für Grundstücksanteil und Bauwerk vereinbarter Vergütungsanspruch gemäß § 196 BGB in zehn Jahren.

Anmerkung: Derselbe Senat hat 1978 entschieden, dass der einheitlich für Grundstücksanteil und Eigentumswohnung vereinbarte Vergütungsanspruch in der damaligen Regelfrist von  zwei Jahren verjährt (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1978 – VII ZR 288/77 – MDR 1979, 219). Die Verjährung für aus verschiedenen Leistungselementen bestehende Mischverträge sei nach den Leistungen zu beurteilen, die „bei weitem überwiegen und dem Vertragsverhältnis seine charakteristische Note geben“. Das sei die Bauleistung. Der Senat stellt nunmehr fest, dass das vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ergangene Urteil vom 12. Oktober 1978 der aktuellen Entscheidung schon deshalb nicht entgegensteht, weil es durch die Umgestaltung des Verjährungsrechts auf einer anderen Rechtslage beruht. Eine tragfähige Begründung, warum der Bauträgervertrag nicht durch die Bauwerkserrichtungsleistungen derart geprägt wird, dass sich die Verjährung des Vergütungsanspruchs einheitlich nach den für werkvertragliche Vergütungsansprüche geltenden Vorschriften richtet, wie derselbe Senat zuvor gemeint hatte, lässt die besprochen Entscheidung vermissen.

KG: Anwaltszwang im einstweiligen Verfügungsverfahren

Das KG hat in einer lehrreichen Entscheidung (Beschl. v. 14.11.2023 – 10 W 185/23) die Grundsätze zum Anwaltszwang im Rahmen von einstweiligen Verfügungsverfahren zusammengefasst.

Bekanntlich besteht vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten nach § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO Anwaltszwang. Gemäß den §§ 936, 920 Abs. 3 ZPO kann aber das „Gesuch“ für einen Arrest und damit auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Gemäß § 78 Abs. 3 ZPO bedeutet dies wiederum, dass hierfür kein Anwaltszwang besteht. Fazit: Für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung besteht beim Landgericht kein Anwaltszwang.

Soweit ist die Sache klar. Im konkreten Fall hatte eine Partei den Antrag gestellt, der jedoch vom Landgericht zurückgewiesen wurde. Gegen diesen Beschluss hat die Partei selbst Beschwerde eingelegt. Die entscheidende Frage war nun, ob diese Beschwerde überhaupt zulässig ist. Die Partei hatte sich auf § 569 Abs. 3 Nr. 1 ZPO berufen. Danach kann die Beschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden, wenn der Rechtsstreit im ersten Rechtszug nicht als Anwaltsprozess zu führen ist oder war. Diese Vorschrift meint aber Prozesse vor dem Amtsgericht. Gemäß § 78 Abs. 1 ZPO sind Verfahren vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten als Anwaltsprozess zu führen. Der Umstand, dass ein Verfahren ohne Anwaltszwang eingeleitet werden kann, bedeutet nicht, dass es nicht als Anwaltsprozess zu führen ist.

Fazit: Die sofortige Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen den Beschluss eines Landgerichts zum Oberlandesgericht unterliegt dem Anwaltszwang.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfalt im Zusammenhang mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Verlängerung der Begründungsfrist nach verspäteter Einlegung eines Rechtsmittels
BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2024 – IV ZR 29/23

Der IV. Zivilsenat befasst sich mit einer haftungsträchtigen Situation.

Der Kläger begehrt Leistungen aus einer privaten Krankenversicherung. Sein Begehren ist in den beiden ersten Instanzen erfolglos geblieben. Das Urteil des OLG wurde ihm am 30. November 2022 zugestellt. Am 27. Januar 2023 hat sein Prozessbevollmächtigter Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Am 9. Februar 2023 beantragte der Prozessbevollmächtigte erstmals, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde und des diesbezüglichen Wiedereinsetzungsantrags bis zum 9. April 2023 zu verlängern.

Der Prozessbevollmächtigte hat die Begründung des Rechtsmittels innerhalb der verlängerten Frist eingereicht. Er beantragt auch bezüglich der Begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trägt er vor, der Kläger habe sich bis 18. Januar 2023 krankheitsbedingt nicht um seine Rechtsangelegenheiten kümmern können. In der Zeit zwischen diesem Tag und dem regulären Ablauf der Begründungsfrist sei es nicht möglich gewesen, die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu prüfen, zumal die Gerichtsakten nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Der BGH lehnt die beantragte Wiedereinsetzung ab und verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht fristgerecht begründet worden. Die zweimonatige Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist mit dem 30. Januar 2023 abgelaufen. Die gewährten Fristverlängerungen sind unwirksam, weil der erste Verlängerungsantrag gestellt wurde, als die Frist bereits abgelaufen war.

Die Versäumung der Frist beruht auf dem Verschulden des Prozessbevollmächtigten. Dieser hätte bei Einlegung des Rechtsmittels am 27. Januar 2023 die Verlängerung der damals noch laufenden Begründungsfrist beantragen können und müssen. Der Antrag hätte schon deshalb Aussicht auf Erfolg gehabt, weil die Gerichtsakten noch nicht vorlagen.

Praxistipp: Ist die Frist zur Begründung des Rechtsmittels bei Wegfall des Hindernisses bereits abgelaufen, muss die Begründung gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO innerhalb eines Monats eingereicht werden. Diese Frist ist nicht verlängerbar (zu einem Ausnahmefall vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2007 – V ZB 48/06, MDR 2007, 1332).

Konnte die Begründungsfrist deshalb nicht eingehalten werden, weil ein rechtzeitig gestellter Antrag auf Prozesskostenhilfe erst nach Fristablauf bewilligt worden ist, beginnt die Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO bei Berufung, Revision und Nichtzulassungsbeschwerde mit der Wiedereinsetzung in die versäumte Einlegungsfrist, bei einer Rechtsbeschwerde hingegen schon mit Bewilligung der Prozesskostenhilfe (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2008 – IX ZB 197/07, MDR 2008, 1058).

Anwaltsblog 4/2024: Auch ein nicht zu den Akten gelangter per beA übermittelter Schriftsatz wahrt die Frist!

Der BGH hatte zu entscheiden, ob eine verfahrensordnungswidrige Gehörsverletzung vorliegt, wenn eine rechtzeitig bei Gericht eingegangene Berufungsbegründungsschrift unberücksichtigt bleibt, weil sie nicht zur Verfahrensakte gelangt ist:

Der Beklagte hat gegen ein Urteil des Amtsgerichts, durch das er zur Räumung seiner Mitwohnung verurteilt worden ist, fristgerecht Berufung eingelegt. Das Landgericht hat die Berufung wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, weil eine Berufungsbegründung auch nach dem Verstreichen der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vorliege. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen. Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist.

Der Berufungsbegründungsschriftsatz ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen. Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt. Die per beA übersandte Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen Prüfvermerks an diesem Tag („Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17“) und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument – offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens – erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

(BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23)

 

Fazit: Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag (BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 – XII ZB 240/17 –, MDR 2018, 1334).

 

Anmerkung: Zwar werden bei fehlerhafter gerichtlicher Sachbehandlung für die III. Instanz Gerichtskosten nicht erhoben (§ 21 Abs. 1 Satz 1 GKG). Das ändert aber nichts daran, dass den Parteien, die für Notwendigkeit der Rechtsbeschwerde nicht verantwortlich sind, Anwaltskosten entstanden sind, die im Ergebnis der unterliegenden Partei aufzuerlegen sind. Einen einfacheren Weg, die eklatant falschen Entscheidung des Berufungsgerichts abzuändern, kennt das geltende Recht jedoch nicht. Die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, die Abhilfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör schafft, ist subsidiär und nicht gegeben, wenn ein Rechtsmittel statthaft ist (§ 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es wäre sinnvoll, wenn der Gesetzgeber Abhilfe schaffen würde, zumal Sachverhalte wie dieser aufgrund der nach wie vor mangelhaften Organisation der Behandlung elektronisch eingereichter Schriftsätze durch die Gerichte immer wieder vorkommen werden.