Montagsblog: Neues vom BGH

Um die verfahrensrechtlichen Konsequenzen eines abgelehnten Befangenheitsgesuchs geht es im (urlaubsbedingt etwas verspäteten) Montagsblog in dieser Woche

Säumnis trotz anhängiger Verfassungsbeschwerde gegen Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs
Urteil vom 5. Juli 2018 – IX ZR 264/17

Der IX. Zivilsenat befasst sich mit den Wirkungen einer anhängigen Verfassungsbeschwerde für ein laufendes Zivilverfahren.

Der klagende Rechtsanwalt und die Beklagte machten wechselseitig Forderungen aus einem beendeten Mandatsverhältnis geltend. In zweiter Instanz verpflichtete sich der Kläger in einem gerichtlichen Vergleich zur Zahlung von 16.000 Euro. Kurz danach focht er den Vergleich an. Nach Terminsbestimmung lehnte er die Mitglieder des Berufungssenats wegen Befangenheit ab. Dieses Gesuch wies das OLG in anderer Besetzung zurück. Dagegen legte der Kläger Verfassungsbeschwerde ein. Zu dem vom OLG anberaumten Verhandlungstermin erschien er nicht. Das OLG stellte durch erstes Versäumnisurteil fest, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist. Den Einspruch des Klägers, der wiederum nicht zur Verhandlung erschien, verwarf das OLG als unzulässig.

Die Revision des Klägers bleibt erfolglos. Der Kläger durfte nicht darauf vertrauen, dass das OLG mit einer Entscheidung in der Sache zuwarten würde, bis das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde entschieden hat. Die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs war nicht mit ordentlichen Rechtsmitteln anfechtbar. Deshalb waren die abgelehnten Richter dazu berufen, der Sache Fortgang zu geben. Eine Aussetzung analog § 148 ZPO kam nicht in Betracht.

Praxistipp: Ein Befangenheitsgesuch gegen einen erstinstanzlichen Richter ist nach der Rechtsprechung des BGH erst mit Ablauf der Beschwerdefrist oder mit der Entscheidung des Beschwerdegerichts endgültig erledigt.

OLG Düsseldorf: Niederschlagung entstandener Gerichtskosten wegen unrichtiger Sachbehandlung

Ein Einzelrichter des LG hatte sich einer Mindermeinung angeschlossen. Dies führte dazu, dass eine Partei mehr Gerichtskosten zahlen musste als es nach der absolut herrschenden Meinung der Fall gewesen wäre. Das Anfallen des Gebührentatbestandes war offenbar nicht mehr rückgängig zu machen (leider war hierzu im veröffentlichten Teil der Entscheidung nichts Näheres dazu lesen).

Demgemäß stellte die betroffene Partei (der Kostenschuldner) den Antrag, die entstandenen Gerichtskosten wegen unrichtiger Sachbehandlung niederzuschlagen. § 21 GKG spricht allerdings nicht von „Niederschlagung“ der Kosten, sondern von einer Nichterhebung derselben. In der Praxis wird jedoch überwiegend von einer Niederschlagung gesprochen. Das Verfahren diesbezüglich richtet sich – wie die Erinnerung und Beschwerde gegen eine Kostenrechnung – nach § 66 GKG. Nachdem dann das LG die Nichterhebung abgelehnt hatte, gelangte die Frage über die Beschwerde nach § 66 Abs. 2 GKG zum OLG.

Das OLG (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.2.2018 – I-10 W 26/18) lehnt eine Nichterhebung gleichfalls ab. Eine unrichtige Sachbehandlung liegt vor, wenn offensichtliche schwere Verfahrensfehler oder eine offensichtliche, eindeutige Verkennung des Rechts vorliegen. Wenn sich aber ein Richter aufgrund seiner persönlichen Überzeugung dazu entschließt, von einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuweichen, ist dies jedenfalls dann keine unrichtige Sachbehandlung, wenn der eingenommene Standpunkt juristisch als noch vertretbar erscheint. Lediglich wenn Entscheidungen oder Maßnahmen getroffen werden, die den breiten richterlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum eindeutig überschreiten, kommt eine Nichterhebung wegen unrichtiger Sachbehandlung in Betracht. Diese Voraussetzungen lagen im konkreten Fall jedoch nicht vor.

Gemäß § 66 Abs. 8 GKG werden in diesem Verfahren keine Kosten erstattet, Gebühren fallen gleichfalls keine an.

Nachdem doch mitunter herrschende Meinungen als Mindermeinungen anfangen, bevor sie zur herrschenden Meinung mutieren, kann man dies schwerlich anders sehen. Beim Kostenschuldner wird allerdings eine gewisse Verärgerung wohl zurückbleiben.

Der „New Deal for Consumers“. Genügt die Musterfeststellungsklage den Anforderungen?

Am 1. 11. 2018 tritt in Deutschland das Gesetz über die Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage in Kraft (BGBl. vom 17. Juli 2018, S. 1151). Am 11. April 2018 legte die Europäische Kommission im Rahmen des „New Deal for Consumers“ einen Richtlinienvorschlag für eine Verbandsklage zum Schutz kollektiver Verbraucherinteressen vor (COM(2018) 184 final).

 

Falls die Richtlinie erlassen wird – hält die Musterfeststellungsklage ihren Vorgaben stand oder sind Revision und Erweiterung des deutschen Gesetzes notwendig?

 

  1. Feststellung und Leistung

 

Der Richtlinienentwurf sieht in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verbandsklagen zur Erwirkung eines Abhilfebeschlusseserhoben werden können; dieser soll Unternehmer unter anderem zu Entschädigungs-, Reparatur- oder Ersatzleistungen, Preisminderungen oder Kaufpreiserstattungen verpflichten.

 

Die Richtlinie gibt also ausdrücklich vor, dass Klagen auf Leistung des Unternehmers gerichtet werden können. Insoweit besteht für die Mitgliedstaaten keine andersgeartete Option: Sie müssen sicherstellen, dass verpflichtende Abhilfebeschlüsse möglich sind.

 

Nur ausnahmsweise („Abweichend von Absatz 1…“) und in hinreichend begründeten Fällen kann statt eines Abhilfebeschlusses ein reiner Feststellungsbeschluss ergehen. Hierzu verlangt Art. 6 Abs. 2, dass sich die Quantifizierung individueller Ansprüche aufgrund der Natur des individuellen Schadens komplex gestaltet. Im Falle eines Feststellungsbeschlusses müssen für die Rechtsschutzklagen einzelner Verbraucher beschleunigte und vereinfachte Verfahren zur Verfügung stehen (Art. 10 Abs. 3).

 

Es gibt es außerdem eine Gegenausnahme („…Absatz 2 gilt nicht…“) in Art. 6 Abs. 3, und zwar für den Fall identifizierbarer vergleichbar geschädigter Verbraucher (lit. a) und im Falle geringfügiger Verluste (lit. b). Hier genügt ein reiner Feststellungsbeschluss auch dann nicht, wenn es sich um komplexe Schäden handelt. In den beiden Fällen des Abs.3 ist zudem vorgesehen, dass eine Klage nicht am fehlenden Mandat der betroffenen Verbraucher scheitern darf (dazu sogleich 2.)

 

Da die deutsche Musterfeststellungsklage nicht auf Leistung gerichtet ist (§ 606 ZPOneu) und sich an sie auch keine geregelte Entschädigungsphase anschließt, entspricht sie den Vorgaben des Richtlinienvorschlags nicht. Ihr fehlt die als Grundsatz im Richtlinienentwurf vorgesehene, auf Verpflichtung eines Unternehmers gerichtete klageweise Abhilfe. Der europäische Entwurf geht hier deutlich über die deutsche Musterfeststellungsklage hinaus.

 

  1. Opt in vs. Opt out

 

Die Richtlinie sieht in Art. 6 Abs. 1 Satz 2 vor, dass die Mitgliedstaaten das Mandat der einzelnen betroffenen Verbraucher vor Erlass eines Feststellungs- oder Abhilfebeschlusses verlangen können. Das bedeutet zum einen, dass das Opt in-Modell nicht zwingend ist; die Mitgliedstaaten können auch auf das Erfordernis eines individuellen Mandats verzichten. Zum anderen bedeutet es, dass der Zeitpunkt des Opt in flexibel gehandhabt werden kann: Es muss nicht vor Verfahrenseinleitung bzw. innerhalb einer bestimmten Frist danach mandatiert werden. Ein Mandat bis zum Zeitpunkt vor Erlass des Beschlusses genügt.

 

Ein Opt in-Modell, wie es die deutsche Musterfeststellungsklage mit einer Kombination aus Quoren für Betroffene (§ 606 Abs. 2 Nr. 2 ZPOneu) und Anmelder (§ 606 Abs. 3 Nr. 3 ZPOneu) sowie Fristen zur Anmeldung (§ 608 Abs. 1 ZPOneu) und Rücknahme der Anmeldung (608 Abs. 3 ZPOneu) vorsieht, entspricht also grundsätzlich den Ansätzen des Richtlinienentwurfs.

 

Zu beachten ist freilich, dass der Richtlinienvorschlag in einigen Fällen ausdrücklich vorsieht, dass die Klage am fehlenden Mandat der individuell Betroffenen nicht scheitern darf. Hierbei handelt es sich um den bereits erwähnten Fall des vergleichbaren Schadens, verursacht durch eine gleiche Praktik und ein bestimmtes Ereignis (Zeitraum oder Kauf), Art. 6 Abs. 3 lit a. In diesem Fall ist das Mandat des einzelnen betroffenen Verbrauchers keine Bedingung für die Klageerhebung. Eine reine Feststellungsklage ist, wie erwähnt (oben 1.), ausgeschlossen. Die Abhilfe muss dem einzelnen Betroffenen zu Gute kommen.

 

Zudem handelt es sich um den ebenfalls erwähnten Fall des geringfügigen Verlusts, bei dem die Entschädigung im Übrigen einem öffentlichen Zweck zugute kommen muss, der den Kollektivinteressen der Verbraucher dient, Art. 6 Abs. 3 lit.b. Auch hier darf, wie erwähnt (oben 1.), die Klage nicht nur auf Feststellung gerichtet sein.

 

In beiden Fällen ist die Vorgabe eines zwingenden Mandats der betroffenen Verbraucher vor Klageerhebung (Art. 6 Abs. 3 lit. a) bzw. im gesamten Verfahren (Art. 6 Abs. 3 lit. b) nicht gestattet. Im Fall von lit. a darf das Mandat insofern zumindest keine Voraussetzung für die Klageerhebung sein. Ein spätes Opt in zu verlangen, wäre also möglich (ErwGr 20). Eine Klageerhebung muss jedenfalls auch ohne ein solches Opt inzulässig sein.

 

Letzterer Variante (Art. 6 Abs. 3 lit. b – geringfügiger Verlust und Zuführung der Entschädigung an einen öffentlichen Zweck) dürfte cum grano salis die deutsche Gewinn-/Vorteilsabschöpfung nach § 10 UWG bzw. § 34a GWB entsprechen. Sie ist in der Tat eine sinnvolle Möglichkeit des Umgangs mit Streuschäden, zumindest wenn ihre Voraussetzungen nicht zu hoch angesetzt werden.

 

Erstere Variante (Art. 6 Abs. 3 lit. a – vergleichbarer Schaden und identifizierbare Verbraucher) bietet die deutsche Musterfeststellungsklage nicht an. Auch in einem solchen Fall kann bei ihr nicht auf das notwendige Quorum der betroffenen Verbraucher verzichtet werden. Auch hier genügt die deutsche Musterfeststellungsklage also den Grundsätzen des Richtlinienentwurfs nicht.

 

  1. Verjährungshemmung und Breitenwirkung

 

Art. 11 des Richtlinienentwurfs sieht vor, dass es zur Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung im Hinblick auf alle betroffenen Verbraucher kommt. Rechtskräftig festgestellte Verstöße gelten außerdem als unwiderlegbar nachgewiesen, sodass eine generelle Bindungswirkung für Folgeklagen vorgesehen ist (Art. 10). Die deutsche Musterfeststellungsklage beschränkt die Verjährungshemmung (§ 204 Nr. 1a BGBneu) und die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils (§ 613 Abs. 1 ZPOneu) auf die angemeldeten Verbraucher. Auch hier fehlt es also an Konformität zum Richtlinienentwurf.

 

  1. Klagebefugnis

 

Der Richtlinienentwurf lässt ein durch jedwede qualifizierte Einrichtung eingeleitetes Verfahren zu. In Deutschland wird die Klagebefugnis im Hinblick auf Mitgliederanzahl, Eintragungszeitraum, Zwecksetzung der Klage sowie Finanzierung des Verbandes deutlich eingeschränkt (§ 606 Abs. 1 Nr. 1-5 ZPOneu).  Ausweislich ErwGr 10 sollen die Mitgliedstaaten solche Kriterien im Rahmen der Voraussetzung „nach dem Recht eines Mitgliedstaats ordnungsgemäß errichtet“ tatsächlich festlegen können. Nach Art. 4 Abs. 4 können die Mitgliedstaaten zudem festlegen, dass qualifizierte Einrichtungen nur eine oder mehrere Maßnahmen erwirken können. Insoweit dürfte die Klagebefugnis der Musterfeststellungsklage damit konform sein.

 

  1. Ergebnis

 

Die deutsche Musterfeststellungsklage entspricht in ihrem Ausschluss von Leistungsverpflichtungen und ihrer Beschränkung auf ein reines Opt in-Modell sowie in der begrenzten verjährungshemmenden Wirkung und Wirkung des Entscheids nicht den Vorgaben des Richtlinienentwufs. Zumindest Bedenken bestehen auch im Hinblick auf die Beschränkung der klagebefugten Einrichtungen.

Caroline Meller-Hannich und Elisabeth Krausbeck

BGH zu der Verlängerung einer Stellungnahmefrist

In einem Arzthaftungsprozess hatte das LG – sachverständig beraten – die Klage abgewiesen. Das OLG kündige in einem 15 Seiten langen Beschluss an, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Es räumte dem Kläger eine Frist zur Stellungnahme von mehreren Wochen ein, die am 29.6.2017 endete und führt u. a. aus: Die Frist sei schon länger als die übliche Zweiwochenfrist. Fristverlängerungen kämen daher nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht. Der Klägervertreter beantragte gleichwohl eine Fristverlängerung und begründet diese wie folgt: Er sei der alleinige Sachbearbeiter dieses Falles und vom 9. bis zum 26.6.2017 in Urlaub. Die notwendige Besprechung mit dem Kläger könne erst danach stattfinden. Das OLG wies den Fristverlängerungsantrag mit Beschluss vom 12.6.2017 zurück, entschied am 30.6.2017 und wies die Berufung zurück.

Das BGH (Beschl. v. 15. Mai 2018 – VI ZR 287/17, MDR 2018, 1014) akzeptiert dies zu Recht nicht. Eine von einem Gericht gesetzte Frist muss objektiv ausreichen, um auch eine fundierte Stellungnahme abgeben zu können, anderenfalls wird der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Der von dem Kläger ins Feld geführte Grund für die Fristverlängerung konnte von dem Gericht noch nicht berücksichtigt werden, als es die Frist gesetzt hatte. Der Kläger hatte das Gesuch um Fristverlängerung nachvollziehbar und eingehend begründet. Dieses Gesuch hätte daher nicht zurückgewiesen werden dürfen.

Eine nicht ganz geringe Anzahl von Gerichten bzw. Spruchkörpern ist mit ihrer Tätigkeit meistenteils zeitlich eher im Rückstand. Besonders deutlich sieht man dies immer bei den Entscheidungen des BVerfG. Großes Erstaunen bei der Anwaltschaft löst es mitunter aus, wenn auf einen Antrag auf Verlegung eines Termins mit einer Vorverlegung reagiert wird. Es gibt aber immer wieder Gerichte bzw. Spruchkörper, die keinerlei Rückstände haben. Diese neigen dann oftmals zu einer Überbeschleunigung. Zwar sollen gemäß § 272 Abs. 3 ZPO die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung so früh wie möglich stattfinden. Mit einer Überbeschleunigung ist aber in aller Regel niemandem gedient. Außerdem muss auch ein Rechtsanwalt einmal in Urlaub fahren können und dürfen. Und: Dass es sich nach dem Urlaub die Aktenbearbeitung immer staut (woran auch die Digitalisierung nichts ändern wird), dürfte jedem Richter bekannt sein. Vor diesem Hintergrund mutet die Entscheidung des OLG eher kurios an und ist vom BGH zu Recht aufgehoben worden.

EuGH: Nicht immer Widerrufsrecht bei Kauf auf einer Messe

Das Widerrufsrecht des Verbrauchers soll diesen entweder vor den Nachteilen schützen, die Ware nicht ausgiebig vor dem Kauf geprüft zu haben (Fernabsatz) oder vor Vertragsabschluss nicht gründlich die Tragweite des Geschäfts überschaut zu haben („Haustürgeschäfte“, Versicherungen, Finanzdienstleistungen).

Haustürgeschäfte heißen seit Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie im Jahr 2014 außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge, § 312b BGB.

Dem EuGH wurde eine Vorabentscheidungsersuchen des BGH vorgelegt, in dem es darum ging, ob ein – nur auf Messen tätiger – Händler bei dem Verkauf eines Dampfreinigers auf einer Messe den kaufenden Verbraucher über sein Widerrufsrecht hätte belehren müssen. Entscheidende Frage war hier, ob die Voraussetzungen des § 312b Abs. 2 S. 1 BGB vorliegen:

„Geschäftsräume im Sinne des Absatzes 1 sind unbewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit dauerhaft ausübt, und bewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt. „

Rechtlicher Knackpunkt ist hier das „für gewöhnliche Ausüben seiner Tätigkeit“.

Der EuGH hält es für möglich, dass ein Messestand ein beweglicher Gewerberaum ist, in dem der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt, sodass kein Widerrufsrecht des Verbrauchers bestünde.

Der EuGH stellt klar auf den Sinn und Zweck der Regelung ab:

„Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Nr. 9 der Richtlinie 2011/83 dahin auszulegen ist, dass ein Messestand eines Unternehmers wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, an dem der Unternehmer seine Tätigkeiten an wenigen Tagen im Jahr ausübt, unter den Begriff „Geschäftsräume“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn in Anbetracht aller tatsächlichen Umstände rund um diese Tätigkeiten und insbesondere des Erscheinungsbilds des Messestandes sowie der vor Ort auf der Messe selbst verbreiteten Informationen ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Verbraucher vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass der betreffende Unternehmer dort seine Tätigkeiten ausübt und ihn anspricht, um einen Vertrag zu schließen, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.“

Die Frage, welchen Eindruck der Messestand hier vermittelte, ist dann wieder vom nationalen Gericht zu klären.

Hier werden vermutlich Kriterien wie

  • eine deutlich erkennbare Beschriftung des Messestands,
  • das (großvolumige) Verteilen von Rabattgutscheinen auf der Messe,
  • die gewöhnliche Art des Vertriebes von Produkten des Unternehmens (z.B. allgemein bekannt kein stationärer Handel).

Praxistipp

Für Messeverkäufer dürfte es daher attraktiv sein, möglichst deutlich nach Außen hin zu zeigen: Hier werden Verträge abgeschlossen. So haben sie die Möglichkeit, dem Widerrufsrecht des Verbrauchers zu entgehen. Dies sollte auch z.B. durch Fotos des Messestands dokumentiert werden.

Messekäufer werden genauer hinsehen müssen, ob ein Widerrufsrecht eingeräumt wird. Ist dies nicht der Fall, kann ein solches – auch unabhängig von der gesetzlichen Situation – vertraglich vereinbart werden. Seriöse Messeverkäufer werden sich vermutlich auf eine solche Regelung in vielen Fällen einlassen.

EuGH Urt. v. 07.08.2018, C-485/17, Verbraucherzentrale Berlin e.V. / Unimatic Vertriebs GmbH

Montagsblog: Neues vom BGH

Dass die sorgfältige rechtliche Qualifikation eines Vertrags nicht nur theoretische Bedeutung hat, belegt eine aktuelle Entscheidung des BGH.

Lieferung und Montage einer Einbauküche
Urteil vom 19. Juli 2018 – VII ZR 19/18

Der VII. Zivilsenat erinnert daran, dass ein Vertrag über Lieferung und Montage einer Einbauküche je nach den Umständen des Einzelfalls rechtlich unterschiedlich zu qualifizieren ist.

Die Klägerin hatte bei der Beklagten für 10.020 Euro eine Küche einschließlich Lieferung und Montage bestellt. Nach der Montage unterzeichnete sie ein Übergabeprotokoll, in dem vermerkt ist, dass die Arbeitsplatte in Ordnung sei. Später bemängelte die Klägerin, die Arbeitsplatte sei abweichend von der Bestellung nicht durchgehend in schwarz-weiß-grau gehalten, sondern weise über weite Strecken eine beigefarbene, rote und braune Färbung auf. Die auf Ersatz der Mängelbeseitigungskosten in Höhe von 3.800 Euro gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos. Das LG sah den geltend gemachten Anspruch gemäß § 640 Abs. 2 BGB (seit 28.4.2017: § 640 Abs. 3 BGB) als unbegründet an, weil die Klägerin das Werk in Kenntnis des geltend gemachten Mangels vorbehaltlos abgenommen habe.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Er verweist auf seine Rechtsprechung, wonach ein Vertrag über Lieferung und Montage einer Küche je nach Leistungsschwerpunkt als Kauf mit Montageverpflichtung oder als Werkvertrag einzuordnen ist. Weder das AG noch das LG haben sich mit dieser Frage befasst. Sie durfte im Streitfall nicht offen bleiben, weil das Kaufrecht eine dem § 640 Abs. 3 BGB vergleichbare Regelung nicht kennt.

Praxistipp: Ob § 640 Abs. 3 BGB, der seinem Wortlaut nach nur die Ansprüche auf Nacherfüllung und Ersatz der Aufwendungen zur Mangelbeseitigung sowie das Recht auf Minderung und Rücktritt ausschließt, auch einem auf Ersatz der Mängelbeseitigungskosten gerichteten Schadensersatzanspruch entgegensteht, ist für das seit 1.1.2002 geltende Werkvertragsrecht noch nicht abschließend geklärt; vgl. dazu etwa Schwenker/Rodemann in Erman, BGB, 15. Auflage 2017, § 640 Rn. 22).  

BGH: Die „wiederholte“ Aufhebung und Zurückverweisung eines Rechtsstreits

Der BGH (Urt. v. 12.4.2018 – III ZR 105/17, MDR 2018, 759) hatte über die persönliche Haftung einer hinter einer angeblichen Gesellschaft aus den Bahamas stehenden natürlichen Person zu entscheiden. Der Rechtsstreit war schon zwei Mal von dem OLG an das LG zurückverwiesen worden. In der angefochtenen Entscheidung wurde der Rechtsstreit nach 13 Jahren Prozessdauer erneut, mithin zum dritten Mal (!), an das LG zurückverwiesen. Der BGH nimmt dies nicht hin, sondern hebt seinerseits das Urteil des OLG auf und verweist den Rechtsstreit an das OLG zur eigenen Entscheidung zurück.

Gemäß § 538 ZPO darf das Berufungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszugs nur zurückverweisen, soweit das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel leidet, auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist und eine Partei die Zurückverweisung beantragt. Der Gesetzgeber hat durch die Neufassung dieser Vorschrift im Jahre 2002 deutlich gemacht, dass eine eigene Sachentscheidung durch das Berufungsgericht die Regel, eine Zurückverweisung hingegen die seltene Ausnahme sein soll. Bei der erforderlichen Interessenabwägung durch das Berufungsgericht, ob eine solche Entscheidung wirklich sachgerecht ist, ist auch zu berücksichtigen, ob die Sache schon einmal zurückverwiesen wurde. Weiterhin ist zu beachten, dass eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme sicher zu erwarten sein muss. Es ist nicht ausreichend, wenn sie vielleicht notwendig wird, weil den Parteien noch Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben ist.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht hier verfehlt. Die Tatsache, dass die Sache bereits zwei Mal zurückverwiesen wurde, wurde bei der Entscheidung überhaupt nicht berücksichtigt. Weiterhin war zum Zeitpunkt der Entscheidung gar nicht erkennbar, ob tatsächlich eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich werden würde. Sicher zu erwarten waren hier lediglich die erneute Vernehmung eines Zeugen sowie die Anhörung beider Parteien. Dies kann nicht als aufwändig bezeichnet werden. Alles Weitere war von einem derzeit noch gar nicht absehbaren Prozessverlauf abhängig. Es erscheint somit zwar möglich, dass eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme zu erwarten ist, dies ist aber keinesfalls notwendig und damit für eine Aufhebung und Zurückverweisung nicht ausreichend.

Es ist in letzter Zeit vermehrt zu beobachten, dass verschiedene Spruchkörper mancher Berufungsgerichte Urteile erstinstanzlicher Gerichte einfach aufheben und die Rechtsstreite zurückverweisen, obwohl die dafür erforderlichen Voraussetzungen fast ersichtlich nicht vorliegen. Anstatt sorgfältig zu arbeiten, werden im Termin dann „finstere Drohungen“ ausgesprochen, um sodann wenigstens einem der Beteiligten den erforderlichen Antrag auf Zurückverweisung, wenigstens hilfeweise, „abzunötigen“. Eine der Parteien wird diesen Antrag schon stellen, denn wenigstens eine ist oftmals an einer Verzögerung interessiert. Auch können die Rechtsanwälte natürlich erneut Gebühren verdienen!

Fazit: Dementsprechend werden solche Urteile, wenn sie denn einmal angefochten werden, regelmäßig in der Revisionsinstanz ihrerseits aufgehoben. Dies ist auch richtig so, denn den Parteien, die eigentlich im Zentrum des Interesses stehen sollten, nutzt all dies nichts. Spätestens nach der ersten, allerspätestens nach der zweiten Zurückverweisung müsste klar sein, dass hier im Interesse der Parteien ein sachgerechtes Tätigwerden des Berufungsgerichts erforderlich ist und nicht etwa eine erneute Aufhebungs- und Zurückverweisungsentscheidung, die sich auf Kritik an der angefochtenen Entscheidung beschränkt, ein paar wenig sagende Hinweise und Anmerkungen enthält und niemand wirklich weiterbringt. Manche Spruchkörper einiger Berufungsgerichte sollten sich hin und wieder vergegenwärtigen, dass sie eben solche und damit Tatsacheninstanzen sind und gerade keine Revisionsgerichte!

EuGH zu Cordoba: Urheber sind doch nicht vogelfrei!

Urheber haben das Recht zu entscheiden, wie mit ihren Werken verfahren werden können. Die Verwertungsrechte ergeben sich aus den §§ 15 ff UrhG. Dazu gehört auch das Recht, ein Werk öffentlich zugänglich zu machen gem. § 19a UrhG, der wohl heute bedeutendsten Nutzungsart durch die Bereitstellung im Internet.

Eine Vielzahl von Entscheidungen hat sich mit dem auseinandersetzen müssen, was durch die heutige Technik alles möglich geworden ist, sich dabei stets fragen müssen: Ist das ein öffentliches Zugänglichmachen? Der EuGH hat dabei eine Vielzahl von Kriterien geschaffen, anhand derer eine Beurteilung stattfindet. Der eigentlich auf den ersten Blick einleuchtende Begriff wurde damit massiv verkompliziert und vielen Wertungsfragen (= Raum für Sonderfälle) verknüpft.
Die bisherigen Erkenntnisse:

  • Das Verlinken auf eine fremde Website ist außer in Ausnahmefällen kein (neues) öffentliches Zugänglichmachen, denn es wird keine neue Öffentlichkeit erreicht. Es war bereits vorher im Netz öffentlich zugänglich (EuGH Beschl. v. 21.10.2014 – C-348/13 – „BestWater“).
  • Das Einbinden fremder Inhalte durch Einbetten (wie z.B. ein iFrame) ist (außer in Sonderfällen der Umgehung von Zugangssperren) kein öffentliches Zugänglichmachen (EuGH Urteil vom 21.10.2014 – C-348/13).

Wie sieht es aber aus, wenn ein irgendwo (!) im Netz frei zugängliches Bild auf einem anderen Server neu hochgeladen wird? Grundlage des Falles war eine Veröffentlichung eines Referates auf einer Schulwebsite. Der Schüler hatte die Fotos aber schlicht im Internet „gemopst“.  Der BGH war sich ob der vorausgehenden Rechtsprechung des EuGH nicht sicher, ob dieser Fall eine Urheberrechtsverletzung darstellt oder nicht und legte dies dem EuGH vor. Grund hierfür war, dass das Foto dem (vermeintlich) gleichen Publikum (Internetnutzer) auf die gleiche technische Art und Weise bereits zugänglich war, nämlich auf der Website des Urhebers.

Hätte der EuGH hier ein öffentliches Zugänglichmachen abgelehnt, wäre das der Anfang vom Ende des Urheberrechtsschutzes gewesen. Es träte quasi mit der ersten Veröffentlichung eines Werkes im Internet die digitale Erschöpfung ein, ohne dass der Urheber – anders als in den Link- und Einbettungsfällen – noch Einfluss auf die Nutzung des Werkes hätte.

Der EuGH hat folglich heute, wie erwartet, hier ein öffentliches Zugänglichmachen mit gewichtigen Argumenten bejaht.

31      Im Ergebnis wäre somit das Werk des Urheberrechtsinhabers, selbst wenn er beschlösse, es nicht mehr auf der Website wiederzugeben, auf der es ursprünglich mit seiner Zustimmung wiedergegeben worden ist, weiterhin auf der Website zugänglich, auf der die neue Einstellung erfolgt ist. Der Gerichtshof hat aber bereits betont, dass der Urheber eines Werks die Möglichkeit haben muss, die Ausübung seiner Rechte zu dessen Nutzung in digitaler Form durch einen Dritten zu beenden und dem Dritten dadurch jede künftige Nutzung dieses Werks in digitaler Form zu untersagen, ohne zuvor andere Förmlichkeiten beachten zu müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 2016, Soulier und Doke, C‑301/15, EU:C:2016:878, Rn. 51).

32      Zweitens sieht Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 ausdrücklich vor, dass sich das Recht der öffentlichen Wiedergabe nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht mit den in dieser Vorschrift genannten Handlungen der öffentlichen Wiedergabe oder der Zugänglichmachung für die Öffentlichkeit erschöpft.

33      Ginge man aber davon aus, dass, wenn auf einer Website ein Werk eingestellt wird, das zuvor auf einer anderen Website mit der Zustimmung des Urheberrechtsinhabers wiedergegeben worden ist, dieses Werk keinem neuen Publikum zugänglich gemacht wird, liefe dies darauf hinaus, eine Regel über die Erschöpfung des Rechts der Wiedergabe aufzustellen.

34      Eine solche Regel widerspräche nicht nur dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29, sondern nähme dem Urheberrechtsinhaber die im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie genannte Möglichkeit, eine angemessene Vergütung für die Nutzung seines Werkes zu verlangen, obwohl, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, der spezifische Gegenstand des geistigen Eigentums insbesondere den Inhabern der betreffenden Rechte den Schutz der Befugnis gewährleisten soll, das Inverkehrbringen oder die Zugänglichmachung der Schutzgegenstände dadurch kommerziell zu nutzen, dass gegen Zahlung einer Vergütung Lizenzen erteilt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2011, Football Association Premier League u. a., C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 107 und 108).

35      Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist in Anbetracht der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass die Einstellung eines urheberrechtlich geschützten Werks auf eine andere Website als die, auf der die ursprüngliche Wiedergabe mit der Zustimmung des Urheberrechtsinhabers erfolgt ist, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens als Zugänglichmachung eines solchen Werks für ein neues Publikum einzustufen ist. Denn unter solchen Umständen besteht das Publikum, an das der Urheberrechtsinhaber gedacht hatte, als er der Wiedergabe seines Werks auf der Website zugestimmt hatte, auf der es ursprünglich veröffentlicht wurde, nur aus den Nutzern dieser Website und nicht aus den Nutzern der Website, auf der das Werk später ohne Zustimmung des Urheberrechtsinhabers eingestellt worden ist, oder sonstigen Internetnutzern.

Diese Entscheidung entspricht wohl dem gesunden Menschenverstand und – ausweislich der Formulierung des Vorlagebeschlusses des BGH – auch der dortigen Vermutung.

(EuGH Urt. v. 07.08.2018, C‑161/17)

Montagsblog: Neues vom BGH

Um die formellen Mindestanforderungen an den Inhalt eines Beschlusses gemäß § 522 Abs. 2 ZPO geht es in dieser Woche.

Erkennbarkeit der Berufungsanträge in Zurückweisungsbeschluss
Urteil vom 12. Juni 2018 – II ZR 229/16

Der II. Zivilsenat stellt klar, dass ein mit Rechtsmitteln anfechtbarer Beschluss, mit dem eine Berufung gemäß § 522 Abs. 2 zurückgewiesen wird, denselben formellen Inhaltsanforderungen unterliegt wie ein Berufungsurteil.

Der klagende Insolvenzverwalter verlangt von der Mehrheitsgesellschafterin der insolventen GmbH und deren ehemaligem Geschäftsführer Ersatz wegen einer Zahlung aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögens. Das LG verurteilte die beiden Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von 24.750 Euro. Das OLG wies die Berufung der Beklagten nach vorherigem Hinweis durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurück.

Der BGH verweist die Sache aus formellen Gründen an das OLG zurück. Um eine Überprüfung in der Revisionsinstanz zu ermöglichen, muss ein mit Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbares Berufungsurteil erkennen lassen, was der Berufungskläger mit seinem Rechtsmittel begehrt hat. Diese Anforderungen gelten auch für einen mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbaren Beschluss, mit dem die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wird. Hierbei reicht es aus, wenn der nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erteilende Hinweis die erforderlichen Angaben enthält und das Gericht im Zurückweisungsbeschluss darauf Bezug nimmt. Im Streitfall ließ sich weder dem Zurückweisungs- noch dem Hinweisbeschluss entnehmen, was die Beklagten mit ihrer Berufung anstrebten. Deshalb war der Beschluss ohne Sachprüfung aufzuheben und die Sache an das OLG zurückzuverweisen. In seiner „Segelanweisung“ führt der BGH ergänzend aus, dass die vom LG angestellten Erwägungen rechtlich nicht tragfähig sind, der geltend gemachte Anspruch nach entsprechender Aufklärung des Sachverhalts unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten aber dennoch begründet sein kann.

Praxistipp: Nach der derzeit bis 31.12.2019 befristeten Regelung in § 26 Nr. 8 EGZPO ist eine Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen statthaft, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 Euro übersteigt.

BGH zur Erstattungfähigkeit von anwaltlichen Reisekosten oder: Kennen Sie die Insel Neuwerk?

Kennen Sie die Insel Neuwerk? Ein beschauliches Stückchen Land in der Elbe- und Wesermündung, ca. 12 Kilometer vor der Küste Cuxhavens und auch zu Fuß über das Watt zu erreichen. War sie einst Zufluchtsort für einen großen Viehdieb, was 1535 zu einer Erstürmung der Insel führte (mehr zur Geschichte der Insel), könnte Sie nun ganz anderen Personen Unterschlupf gewähren: Rechtsanwälten im Rahmen der Reisekostenabrechnung oder genauer gesagt: Den von Ihnen vertretenen Parteien.

Grundsätzlich (mit Ausnahmen) gilt: der Gegner muss nur die Reisekosten des eigenen Anwalts im Obsiegensfalle erstatten, wenn dieser entweder am Gerichtsort oder am Wohnsitz der eigenen Partei ansässig ist.  Eine weitere Ausnahme gilt bei Wettbewerbsverbänden. Hier seien Besprechungen zwischen Verband und Rechtsanwalt regelmäßig nicht erforderlich, lediglich ein im Gerichtsbezirk ansässiger Rechtsanwalt sei ersatzfähig.

Neu ist nun, dass fiktiv eine Prüfung erfolgt, welche Reisekosten im Gerichtsbezirk maximal hätten anfallen können, bis zu dieser Höhe könne eine Erstattung verlangt werden:

Tatsächlich angefallene Reisekosten eines auswärtigen Rechtsanwalts sind insoweit notwendig im Sinne von § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO und damit erstattungsfähig, als sie auch dann entstanden wären, wenn die obsiegende Partei eine Rechtsanwältin mit Niederlassung am weitest entfernt gelegenen Ort innerhalb des Gerichtsbezirks beauftragt hätte.

Aus der Hüfte geschossen dürfte eine längere Recherche zur größtmöglichen Entfernung am Amtsgericht Berlin-Mitte eher wenig lohnenswert sein. Eine Spezialität dürfte sich aber für die Gerichte ergeben, die in Hamburg-Mitte angesiedelt sind. Zum Bezirk Hamburg-Mitte gehört nämlich auch die Insel Neuwerk. Je nach Verkehrslage ist die kürzeste Entfernung nach Cuxhaven-Sahlenburg 127 – 220 km, dazu kommen dann noch 10 km Wattweg zur Insel Neuwerk.

Dieses ziemlich schräge Bild passt auch in die ansonsten an der Entscheidung des BGH geübte Kritik z.B. vom Kollegen Christian Franz

Das Landgericht Pinneberg ist übrigens für die Insel Helgoland zuständig, wobei eine Anreise ohne Boot oder Flugzeug schwierig erscheint.

BGH, Beschl. v. 9.5.2018 – I ZB 62/17
Update: Die Lösung ist da! https://gerichtsbezirke.de/