Shareholder activism bei ProSiebenSat.1: Aufsichtsratsbesetzung und Abspaltung von Unternehmenssegmenten

Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein zunehmender Aktionärsaktivismus zu beobachten (aufschlussreiche aktuelle Bestandsaufnahme bei Rieckers, DB 2024, 439, 444; aus älterer Zeit etwa Graßl/Nikoleyczik, AG 2017, 49; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297, 299). Neben Öffentlichkeitskampagnen greifen aktivistische Investoren auch auf hauptversammlungsbezogene Aktionärsrechte zurück, um ihre Anliegen durchzusetzen (Überblick über die Möglichkeiten bei Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 11 ff.). Hierzu gehören insbesondere Gegenanträge und Wahlvorschläge nach §§ 126, 127 AktG (s. Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 31; zum Fall Brenntag in der HV-Saison 2023 Rieckers, DB 2024, 439, 444) sowie das Ergänzungsverlangen nach § 122 Abs. 2 AktG (hierzu etwa Kuthe/Beck, AG 2019, 898 ff.; Schäfer/Wucherer, AG 2023, 483 Rz. 41).

Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1

In der aktuellen Hauptversammlungssaison dürfte das Aktionärstreffen der ProSiebenSat.1 Media SE (im Folgenden: ProSiebenSat.1) das – aus rechtlicher und unternehmenspolitischer Perspektive – interessanteste Beispiel für den Aktionärsaktivismus sein. Die Besonderheit des Falles liegt zunächst darin, dass weder aktivistische Fonds noch Aktionärsvereinigungen noch Nichtregierungsorganisationen im Zentrum stehen, sondern ein Großaktionär: Die MFE-MEDIAFOREUROPE N.V. (im Folgenden: MFE) mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Cologno Monzese bei Mailand, deren CEO Pier Silvio Berlusconi – der Sohn des ehemaligen italienischen Premierministers – ist und an der die Familie Berlusconi maßgeblich beteiligt ist, hält 26,58% der Aktien der ProSiebenSat.1. Rechnet man die gem. § 71b AktG stimmrechtslosen eigenen Aktien der ProSiebenSat.1 hinweg, beläuft sich der Stimmenanteil der MFE auf 27,32%. Der zweitgrößte Aktionär, die PPF Group N.V. (im Folgenden: PPF) – ein Finanzinvestor im Familienbesitz mit Satzungssitz in Amsterdam und Verwaltungssitz in Prag – ist mit 11,60% am Grundkapital der ProSiebenSat.1 beteiligt und hält 11,92% der Stimmrechte. 59,12% der Aktien bzw. 60,76% der Stimmrechte befinden sich im Streubesitz (s. die Aktionärsstruktur der ProSiebenSat.1).

Aktionärsvorschläge im Überblick

Die beiden Großaktionäre haben – zum Teil durchaus öffentlichkeitswirksam – für Wirbel gesorgt, indem sie die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 dazu gezwungen haben, fünf Vorschläge auf die Tagesordnung der Hauptversammlung 2024 zu setzen:

  • Zwei eigene Kandidaten zur Aufsichtsratswahl 2024 (MFE und PPF);
  • Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden (nur MFE);
  • Vorbereitung der Abspaltung der Unternehmenssegmente Commerce & Ventures und Dating & Video (nur MFE);
  • Neugestaltung des genehmigten Kapitals (nur MFE);
  • Erweiterung der statutarischen Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen.

Wahlvorschläge der Großaktionäre

In der diesjährigen Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 steht als TOP 8 die Wahl von drei Aufsichtsratsmitgliedern an. Der Aufsichtsrat hat Klára Brachtlová (die eine Leitungsposition in einer Tochtergesellschaft der PPF bekleidet), Marjorie Kaplan und Pim Schmitz (der ein Director einer Holdinggesellschaft ist, deren Tochtergesellschaft im Produktionsbereich eine Geschäftsbeziehung zur ProSieben.Sat1 unterhält) zur Wahl vorgeschlagen. Die beiden Großaktionäre haben gem. § 127 AktG Wahlvorschläge für die Aufsichtsratswahl unterbreitet. Die MFE schickt Leopoldo Attolico gegen Schmitz ins Rennen. Die PPF schlägt Christoph Mainusch statt Kaplan oder Schmitz zur Wahl vor. Der Aufsichtsrat hält in seiner Stellungnahme zu den Aktionärsvorschlägen an seinem ursprünglichen Vorschlag fest.

Weil die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 virtuell i.S.d. § 118a AktG stattfindet, greift die Antragsfiktion nach § 126 Abs. 4 AktG i.V.m. § 127 Satz 1 AktG ein. Das führt gem. § 126 Abs. 4 Satz 2 AktG dazu, dass die ProSiebenSat.1 den Aktionären schon im Vorfeld der Hauptversammlung die Wahl der oppositionellen Kandidaten ermöglichen muss (s. dazu Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.2.2024, § 126 AktG Rz. 65 ff.; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21 i.V.m. § 126 AktG Rz. 72).

Die PPF will zudem sicherstellen, dass die Hauptversammlung über ihren Wahlantrag vor dem Wahlvorschlag des Aufsichtsrats abstimmt und die vorgezogene Abstimmung über ihren Antrag auch in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal zum Ausdruck kommt. Die Festlegung der Abstimmungspriorität kann die PPF gem. § 137 AktG durchsetzen, wenn eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des vertretenen Grundkapitals erreichen, die vorgezogene Abstimmung über den Aktionärsvorschlag verlangt. Da die PPF mit 11,60% an der ProSiebenSat.1 beteiligt ist, kann sie das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG im Alleingang erfolgreich stellen (zum Vorgehen in der virtuellen HV s. Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 9 ff.). Allerdings muss sie dies in der Hauptversammlung selbst tun: Die Antragsfiktion des § 126 Abs. 4 AktG erstreckt sich nicht auf das Minderheitsverlangen gem. § 137 AktG (Koch, 18. Aufl. 2024, § 126 AktG Rz. 18, § 137 AktG Rz. 2 a.E.; Rieckers in BeckOGK/AktG, Stand: 1.10.2023, § 137 AktG Rz. 5; Ziemons in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 127 AktG Rz. 21).

Die hauptversammlungsbezogene Ausgestaltung des Minderheitsverlangens nach § 137 AktG ist eine Hürde, an dem das zweite Ziel der PPF scheitern könnte. Es spricht viel dafür, dass die Verwaltungsorgane nicht verpflichtet sind, die Briefwahlunterlagen und das Aktionärsportal von vornherein so auszugestalten, dass die von PPF bevorzugte Abstimmungsreihenfolge erkennbar ist. In dogmatischer Hinsicht schränkt § 137 AktG nämlich das Ermessen des Versammlungsleiters ein, die Reihenfolge der Abstimmung festzulegen (Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1); eine Bindungswirkung gegenüber den Verwaltungsorganen entfaltet § 137 AktG hingegen nicht. Dies ist im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Einbettung des § 137 AktG konsequent: Weil das Minderheitsverlangen im Vorfeld der Hauptversammlung noch nicht förmlich gestellt wurde, können die Verwaltungsorgane nicht daran gebunden sein. Freilich steht es den Verwaltungsorganen der ProSiebenSat.1 offen, schon in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal die von PPF beantragte Abstimmungsreihenfolge zu berücksichtigen.

In rechtspolitischer Hinsicht ist es erwägenswert, den Aktionären unabhängig vom Hauptversammlungsformat die Möglichkeit einzuräumen, das Minderheitsverlangen nach § 137 AktG schon im Vorfeld der Hauptversammlung zu stellen, und die Verwaltungsorgane im Erfolgsfall zu verpflichten, die von den Aktionären erzwungene Abstimmungsreihenfolge in den Briefwahlunterlagen und im Aktionärsportal kenntlich zu machen (darauf abzielende Vorschläge de lege lata bei Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.; zurückhaltender M. Arnold in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 137 AktG Rz. 19; Koch, 18. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1). § 137 AktG will die Minderheitsinteressen stärken, indem er den Wahlvorschlag der Aktionäre gegenüber dem Vorschlag des Aufsichtsrats priorisiert; der oppositionelle Kandidat soll nicht hinter den Kandidaten des Aufsichtsrats versteckt werden (s. nur Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 137 AktG Rz. 1; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1168 f., der vom Grundsatz prozeduraler Neutralität spricht). Die Wirkung dieser verfahrensrechtlichen Vorkehrung droht zu verpuffen, wenn sie bei der – in der Praxis von Publikumsgesellschaften durchaus relevanten (s. nur Seibt/Danwerth, AG 2021, 369 Rz. 4 ff.; Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172) – Vorfeld-Abstimmung keine Rolle spielt. Insoweit sollte der Gesetzgeber die Verfahrensmodalitäten des § 137 AktG an die Realität der Hauptversammlung anpassen und sich auch insoweit vom Mündlichkeitsprinzip verabschieden (zur nicht mehr zeitgemäßen Ausgestaltung des § 137 AktG zutr. Zetzsche in FS Krieger, 2020, S. 1165, 1172 f.).

Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden

Unternehmenspolitisch brisanter als die Wahlvorschläge der beiden Großaktionäre ist das auf § 122 Abs. 2 AktG gestützte Ergänzungsverlangen von MFE dahingehend, die Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds auf die Tagesordnung zu setzen. Weil die Hauptversammlung gem. § 103 Abs. 1 AktG für die Abberufung zuständig ist und die MFE mit ihrem Aktienpaket den in § 122 Abs. 2 AktG vorgeschriebene Anteil am Grundkapital deutlich überschreitet, hat die ProSiebenSat.1 ihre Tagesordnung gem. § 124 Abs. 1 AktG entsprechend ergänzt.

Abberufen werden soll Rolf Nonnenmacher, der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und der Vorsitzende des Prüfungsausschusses bei ProSiebenSat.1 sowie der ehemalige Vorsitzende der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, dessen Aufsichtsratsmandat erst mit dem Ablauf der Hauptversammlung 2025 endet. An Nonnenmachers Stelle soll nach dem Vorschlag der MFE Simone Scettri, ein italienischer Wirtschaftsprüfer, treten.

Die MFE begründet ihr Verlangen damit, dass Nonnenmacher in einem Zeitraum Aufsichtsratsmitglied und Prüfungsausschussvorsitzender war, auf den sich eine durch den Aufsichtsrat in Auftrag gegebene interne Untersuchung wegen möglicher Compliance-Vorfälle in Tochtergesellschaften erstreckt. Dadurch könne Nonnenmacher gerade als Vorsitzender des Prüfungsausschusses zumindest potenziell von der Untersuchung betroffen sein, so dass eine Interessenkollision nicht ausgeschlossen sei. Ein denkbarer Interessenkonflikt, der eine freie Amtsführung beeinträchtigen könne, sei vorsorglich zu vermeiden. Der Aufsichtsrat schlägt der Hauptversammlung vor, gegen die Abberufung von Nonnenmacher und die Wahl von Scettri zu stimmen, und verweist dabei zum einen auf die überlegende Qualifikation von Nonnenmacher, zum anderen auf mögliche Interessenkonflikte von Scettri, der in Italien für Ernst & Young (EY) tätig war; EY Deutschland habe als Abschlussprüfer der ProSiebenSat.1-Gruppe den von MFE ins Spiel gebrachten Compliance-Vorfall nicht beanstandet.

Um ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, muss die Hauptversammlung einen Beschluss fassen, der nach der gesetzlichen Grundregel in § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG einer Mehrheit von drei Viertel der abgegebenen Stimmen bedarf; sachliche Anforderungen – etwa das Vorliegen eines wichtigen Grundes – stellt § 103 Abs. 1 AktG nicht auf (s. Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 3 f.). Indes sieht § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 vor, dass Hauptversammlungsbeschlüsse mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst werden, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften oder die Satzung etwas anderes vorschreiben. § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG lässt es zu, dass die Satzung eine andere Mehrheit bestimmt. Dabei kann das Mehrheitserfordernis abgesenkt werden, so dass für die Abberufung eine einfache Stimmenmehrheit des § 133 AktG genügt (Drygala in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 103 AktG Rz. 5; Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Ausreichend ist eine Satzungsklausel, die wie § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 generell, also für alle Hauptversammlungsbeschlüsse, gilt (s. Koch, 18. Aufl. 2024, § 103 AktG Rz. 3). Eine Satzungsregelung, die hinsichtlich der Aufsichtsratsabberufung eine von § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 abweichende Mehrheit vorschreibt, liegt nicht vor.

Aus dem Zusammenspiel zwischen § 18 Abs. 2 Satz 1 der Satzung der ProSiebenSat.1 und § 103 Abs. 1 Satz 3 AktG folgt, dass die Hauptversammlung der ProSiebenSat.1 die Abberufung von Nonnenmacher mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen kann. Ob diese Mehrheit erreicht wird, lässt sich freilich noch nicht sicher vorhersagen. Die Hauptversammlungspräsenzen der ProSiebenSat.1 lagen in den Jahren 2021 bis 2023 bei ca. 52% bis 57%. Wird sich die Beteiligungsquote auch 2024 in dieser Größenordnung bewegen, ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die MFE mit ihrem Stimmenanteil von ca. 27% die Abberufung von Nonnenmacher im Alleingang beschließen kann. Es kann aber auch sein, dass sie die alleinige einfache Mehrheit (knapp) verfehlt und auf die Stimmen anderer Aktionäre angewiesen sein wird. Ob die PPF den Vorstoß unterstützen wird und wie sich die Stimmrechtsberater positionieren, ist nicht überliefert. Die Hauptversammlung 2023 hat Nonnenmacher mit 95,73% der abgegebenen gültigen Stimmen bei einer Beteiligung von 54,79% des eingetragenen Grundkapitals entlastet. Es bleibt abzuwarten, wie viele Aktionäre 2024 der Argumentation von MFE folgen, Nonnenmacher im Rahmen des Abberufungsbeschlusses ihr Misstrauen aussprechen und die weitere Umbildung des Aufsichtsrats vorantreiben.

Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten

Für viel Diskussionsstoff sorgt zudem das Ergänzungsverlangen der MFE zur Vorbereitung der Abspaltung von zwei Unternehmenssegmenten. Auch insoweit ist die Hauptversammlung zuständig (s. § 83 Abs. 1 AktG und § 125 UmwG i.V.m. §§ 13, 63 ff. UmwG), so dass die ProSiebenSat.1 nicht umhinkam, die Tagesordnung gem. § 122 Abs. 2 AktG wie von MFE verlangt zu ergänzen und die Ergänzung gem. § 124 Abs. 1 AktG bekanntzumachen. In rechtstechnischer Hinsicht erinnert das Vorgehen der MFE an den (gescheiterten) Brownspinning-Versuch der Enkraft Capital GmbH bei der RWE AG (s. dazu Fuhrmann/Döding, AG 2022, R168). Überdies ist der Vorstoß im Lichte der Entwicklungen zu sehen, die auch in anderen Marktbereichen zu beobachten sind: So haben etwa die Volkswagen AG mit Traton SE, die Daimler AG (heute Mercedes-Benz Group AG) mit Daimler Truck Holding AG und die Siemens AG mit der Siemens Healthineers AG sowie der Siemens Energy AG die früheren Unternehmenssparten als eigenständige Unternehmen an die Börse gebracht. Ein ähnlicher Schritt steht seit längerer Zeit bei Thyssenkrupp AG in der Diskussion.

Derzeit lässt sich die Unternehmensstruktur von ProSiebenSat.1 in drei Segmente unterteilen: Entertainment, Commerce & Ventures und Dating & Video. Die Abspaltung soll sich auf die letzten beiden Segmente erstrecken, die nach dem Vorschlag von MFE von eigenständigen – bestehenden oder neu zu gründenden – Rechtsträger geführt werden sollen. Diese Rechtsträgen sollen börsennotiert sein, so dass sie als Aktiengesellschaften organisiert sein müssten. Der Aktionärskreis von ProSiebenSat.1 und der neuen Gesellschaften soll im Ausgangspunkt identisch sein; eine Konzernstruktur soll also – anders als bei Volkswagen, Daimler und Siemens – nicht entstehen. Der Beschlussvorschlag lässt dem Vorstand der ProSiebenSat.1 aber die Möglichkeit offen, von der Vorbereitung der Abspaltung abzusehen und sich von den Segmenten Commerce & Ventures und Dating & Video auf eine andere Art und Weise – etwa durch einen Verkauf – zu trennen. Begleitet wird das Ergänzungsverlangen durch den Vorschlag, das genehmigte Kapital neu zu gestalten (s. dazu auch den Vorstandsbericht) und die in der Satzung verankerten Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats auf M&A-Transaktionen ab einer gewissen Schwelle zu erweitern.

Die MFE will erreichen, dass sich die ProSiebenSat.1 künftig nur noch auf das Segment Entertainment fokussiert. Die Zusammensetzung der ProSiebenSat.1 als ein Konglomeratunternehmen bringt nach der Einschätzung der MFE zu wenige Synergievorteile mit sich; zudem ist sie mit zu vielen Nachteilen verbunden. Vor diesem Hintergrund soll es für die einzelnen Segmente vorteilhafter sein, als selbständige Unternehmen mit einer eigenen „Equity Story“ am Markt zu agieren. Die Verwaltungsorgane der ProSiebenSat.1 weisen diese Argumente zurück. Sie empfehlen keine Abspaltung und wollen sich auf eine wertmaximierende Veräußerung der beiden Segmente fokussieren, die vorbehaltlich der Marktbedingungen über die nächsten 12 bis 18 Monate erfolgen soll.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass sich die MFE und die Verwaltungsorgane in der Sache einig sind: Die ProSiebenSat.1 soll sich über kurz oder lang von den Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video trennen. Während eine Einigkeit über das „Ob“ herrscht, gehen die Meinungen über das „Wie“ auseinander: Die Verwaltungsorgane setzen allein auf einen Verkauf der beiden Segmente, der (liquide) Mittel in die Unternehmenskasse spülen würden. Die MFE hält eine solche Maßnahme an sich für sinnvoll, will aber die Trennung auch dann auf umwandlungsrechtlichem Wege vollziehen, wenn der Verkauf nicht gelingen sollte. Für den Großaktionär steht demnach nicht die Verbesserung der Kassenlage, sondern die strategische Neuausrichtung von ProSiebenSat.1 im Vordergrund: Die Abspaltung führt – anders als der Verkauf – nicht zu einem Mittelzufluss bei ProSiebenSat.1. Beschließt die Hauptversammlung 2024 wie von der MFE vorgeschlagen, wächst der Druck auf den Vorstand der ProSiebenSat.1, den Verkauf möglichst zeitnah abzuwickeln, um seine Vorstellungen von den Trennungsmodalitäten durchzusetzen.

Allerdings sind die aktienrechtlichen Hürden für die Beschlussfassung hoch: Nach § 83 Abs. 1 Satz 3 AktG bedarf der Beschluss der Mehrheit, die für die Maßnahme – also für die Abspaltung – erforderlich ist, also gem. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG „einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlußfassung vertretenen Grundkapitals umfaßt.“ Wie bei der Abberufung des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hängt der Erfolg der Maßnahme vom Abstimmungsverhalten der PPF und der Streubesitzaktionäre ab; eine bedeutende Rolle dürfte die Positionierung der Stimmrechtsberater spielen. In inhaltlicher Hinsicht sind die Aktionäre in ihrem Abstimmungsverhalten weitgehend frei: Die Festlegung der Trennungsmodalitäten ist eine unternehmerische Entscheidung, so dass die Hauptversammlung einen breiten Ermessensspielraum genießt. Ihre Entscheidung dürfte kaum wegen Inhaltsfehler angreifbar sein.

Fasst die Hauptversammlung den Beschluss mit der qualifizierten Mehrheit des § 83 Abs. 1 AktG i.V.m. §§ 125, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG, ist die Abspaltung noch nicht ausgemacht. Der Vorstand der ProSiebenSat.1 hätte nach wie vor die Option, die Segmente Commerce & Ventures und Dating & Video zu verkaufen. Auch wenn der Verkauf misslingt, ist die Abspaltung nicht sicher. In einem solchen Fall muss der Vorstand „lediglich“ den Spaltungs- und Übernahmevertrag vorbereiten, über den die Hauptversammlung 2025 nach Maßgabe der §§ 125, 13, 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG zu beschließen hat; erforderlich ist wiederum eine Dreiviertel-Kapitalmehrheit. Der Weg zur Spaltung ist also noch weit.

„Say on Climate“-Beschluss bei der Alzchem Group AG: Große Mehrheit der Aktionäre stimmt für Klimafahrplan

Am 11.5.2023 fand die ordentliche Hauptversammlung der Alzchem Group AG zum vierten Mal in virtueller Form statt. Die Besonderheit lag aber in einem anderen Aspekt: Die Gesellschaft setzte als erstes deutsches Unternehmen ein Say on Climate auf ihre Tagesordnung (vgl. dazu Harnos, Blog-Beitrag vom 21.4.23). Dadurch hatten die Aktionäre erstmals die Gelegenheit, ihre Meinung zu dem vom Vorstand vorgestellten Klimafahrplan in Form eines Konsultativbeschlusses zu äußern.

In diesem Sinn fokussierte der Vorstandsvorsitzende Andreas Niedermaier in seiner Rede den Klimafahrplan: Ziel der Alzchem AG sei es, bei den sog. Scope 1-Emissionen bis zum Jahr 2033 ein sog. „Net Zero“, also eine vollständige Klimaneutralität, zu erreichen. Zwar sei es dem Chemieunternehmen nach aktuellem Stand der Kenntnis nicht möglich, vollkommen emissionslos zu produzieren, es könne aber jedenfalls den – ohnehin äußerst geringen – Restausstoß durch eigene Produkte deutlich überkompensieren.

Der Klimafahrplan fand im Vorfeld der HV weniger Resonanz als erwartet. Vor allem die Reaktion eines großen Stimmrechtsberaters, der zum Klimafahrplan eine dezidiert negative Stellung bezogen hatte, enttäuschte die Verwaltungsorgane der Alzchem Group AG jedoch. Stattdessen wäre aus Sicht der Verwaltung ein inhaltlicher Dialog über die klimaschutzbezogenen Ziele des Unternehmens wünschenswert gewesen.

Auch in der Generaldebatte stieß der Tagesordnungspunkt Klimafahrplan vereinzelt auf Skepsis, sorgte aber insgesamt für wenig Wirbel. Eine erste Nachfrage provozierte das Stichwort Ressourcenverschwendung: Wenn der Klimafahrplan der Alzchem Group AG ermögliche, die Verschwendung von Ressourcen zu vermeiden, dränge sich die Frage auf, wieso die Verschwendung nicht schon früher vermieden worden sei. Hierauf entgegnete der Produktionsvorstand Klaus Englmaier, dass für die Alzchem Group AG Ressourcenverschwendung schon immer ein Thema sei, die Vermeidung aber immer eine Frage der Wirtschaftlichkeit und technischen Umsetzbarkeit gewesen sei. Im Klimafahrplan würden sich jedoch nun konsequent die Projekte wiederfinden, die sich in den letzten Jahren als wirtschaftlich umsetzbar erwiesen haben. Aktionärsseitig wurden außerdem die Klimaschutzbemühungen der einzelnen Verwaltungsmitglieder selbst ins Visier genommen: Mit welchen Automodellen der Vorstand denn wie viele Kilometer gefahren sei und, daran anknüpfend, wie viele Flüge die Mitarbeiter der Gesellschaft im letzten Geschäftsjahr gebucht und wie viele Flugkilometer sie zurückgelegt hätten.

Ebenfalls kritisierte ein Aktionär die im Klimafahrplan berücksichtigten „Kompensationsmaßnahmen“. Dass der Ausstoß von CO2 im Jahr 2033 bei Null ankomme, klinge unglaubwürdig und sei nur durch eine hypothetische Berechnung mit eben solchen Kompensationen und Zertifikaten möglich. Es drohe die Gefahr, dadurch die Probleme an einen anderen Ort zu verlagern, was nicht zielführend sei. Das wollte der Alzchem-Vorstand so nicht stehen lassen: Wenn der Klimafahrplan von „Kompensationsmaßnahmen“ spreche, meine er allein die positive Wirkung der eigenen Alzchem Produkte, wie z.B. Eminex® und Creamino®. Die CO2-Einsparungen speziell dieser beiden Produkte überstiegen bei Weitem die 2033 noch verbleibenden Emissionen der Scopes 1–3 (vgl. dazu Harnos, Blog-Beitrag vom 21.4.23).

Trotz der vereinzelten Ablehnung wurde der Klimafahrplan mit einer deutlichen Mehrheit von 95,3 % der abgegebenen Stimmen (bei einer Abstimmungsbeteiligung von 73,45 % des Grundkapitals) angenommen. Die Alzchem Group AG schafft innerhalb ihres Aktionariats ein besonderes Bewusstsein für das Thema Klimaschutz und ermöglichte den Aktionären, etwaige Störgefühle bezüglich der Klimastrategie des Unternehmens zu adressieren und ggf. auszuräumen. Damit setzt die Alzchem Group AG ein starkes Zeichen hinsichtlich der Umsetzbarkeit eines Say on Climate.

Gesetz zur virtuellen HV – mehr Schein als Sein

Das Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen hat die letzten wichtigen Etappen des Gesetzgebungsverfahrens bewältigt: Expertenanhörung im Rechtsausschuss am 22.6.2022, Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1.7.2022, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 6.7.2022, zweite und dritte Lesung im Bundestag am 7.7.2022. Wer die Anhörung im Rechtsausschuss verfolgt hat, durfte den Eindruck gewinnen, dass der dort diskutierte Regierungsentwurf nicht nur an punktuellen, sondern an sehr grundsätzlichen, konzeptionellen Mängeln leidet. Deutlich zu spüren war deshalb auch die Sorge der Parlamentarier, mit dem neuen virtuellen Format eine Karteileiche zu schaffen – ähnlich wie früher schon mit den Vorschriften zur Online-Teilnahme, zum Aktionärsforum, zur Geschäftsordnung der HV und einigen anderen mehr. Dessen ungeachtet hat auch der Rechtsausschuss die Eckpfeiler des Gesetzes nicht mehr angetastet (sie dürfen als bekannt gelten, siehe hierzu meine Blog-Beiträge vom 15.2.2022 zum RefE und vom 28.4.2022 zum RegE). Nur kleinere Änderungen haben sich auf den letzten Metern noch ergeben:

Rechtsgrundlage

Es bleibt dabei, dass das virtuelle Format nur für einen Übergangszeitraum bis zum Herbst 2023 unmittelbar kraft Gesetzes genutzt werden darf (entscheidend ist die Einberufung der HV spätestens am 31.8.2023). Danach steht es nur noch zur Verfügung, wenn die Satzung es vorschreibt oder den Vorstand entsprechend ermächtigt – jeweils für eine Dauer von maximal fünf Jahren. Abweichend vom Regierungsentwurf ist aber nicht mehr vorgesehen, dass die Satzung bestimmte Beschlussgegenstände vom virtuellen Format ausnehmen, sprich: sie einer herkömmlichen Präsenzversammlung vorbehalten kann. Der Gesetzgeber kehrt damit zurück zum breiteren Ansatz des Referentenentwurfs. Dieser Schritt soll laut dem Ausschussbericht die Gleichwertigkeit des virtuellen Formats mit der Präsenzversammlung hervorheben. Überdies wurde offenbar erkannt, dass eine Beschränkung der Beschlussgegenstände für virtuelle Versammlungen auf europarechtlich vermintes Gelände geführt hätte – mit Blick auf das Recht der Aktionäre aus Art. 6 der EU-Aktionärsrechte-RL, eine Ergänzung der Tagesordnung zu verlangen.

Doppeltes Rederecht

Das Rederecht der Aktionäre wird weiterhin doppelt verwirklicht: im Vorfeld der virtuellen HV per Stellungnahme, die vorab übermittelt und veröffentlicht wird, sowie während der HV per Live-Redebeitrag. Neu ist, dass die Stellungnahme im Vorfeld nur noch ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären angeboten werden muss. Außerdem, dass die Gesellschaft sie nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zugänglich machen muss und dies auch über die Internetseite eines Dritten geschehen darf. Das eröffnet die Möglichkeit, hierfür das zugangsbeschränkte HV-Portal zu nutzen, das sich üblicherweise auf der Internetseite eines Dienstleisters befindet. Schließlich ist auch neu, dass die Gesellschaft sich in der Einberufung vorbehalten darf, einen Live-Redebeitrag während der HV von einem Funktionstest abhängig zu machen. Schlägt dieser Test fehl, darf die Gesellschaft den Redebeitrag zurückweisen. Dies begrenzt dann nicht nur die Rechtsfolgen etwaiger Funktionsstörungen (Stichwort: Anfechtungsausschluss). Die Gesellschaft wird vielmehr in die Lage versetzt, Funktionsstörungen während der virtuellen HV vorzubeugen – auch im Interesse der (anderen) Aktionäre an einem geordneten Versammlungsablauf.

Doppeltes Fragerecht

Auch das Fragerecht bleibt ein doppeltes. So jedenfalls, wenn der Vorstand den Aktionären aufgibt, ihre Fragen schon im Vorfeld der virtuellen HV einzureichen. Diese Option war aus Sicht der Unternehmen ein wesentlicher Vorzug des virtuellen Formats unter Geltung des COVMG. Sie schaffte Raum dafür, Fragen zur weiteren Bearbeitung entweder nach Themenkomplexen oder nach Urhebern zu bündeln, im Zusammenhang zu antworten und sachgerechte Schwerpunkte zu setzen. Das neue virtuelle Format jedoch gewährt diesen Vorzug nur noch um den Preis, dass die Gesellschaft die vorab eingereichten Fragen nicht erst in der HV aufgreift, sondern samt schriftlicher Antworten schon vorher veröffentlicht. Dies mit der Folge, dass der Vorstand in der HV keine mündlichen Auskünfte mehr erteilen muss – einerseits. Andererseits kann diese Vorgabe die Anforderungen an Vollständigkeit, Genauigkeit und Verständlichkeit der Antworten erhöhen, überlässt dem Fragesteller den Erstzugriff auf kritische Themen und degradiert die mündliche Vorstandsrede am Versammlungstag vom Auftakt zum Schlusspunkt des kommunikativen Prozesses.

Nach- bzw. Rückfragen zu den (vorab) erteilten Antworten bleiben in der HV allerdings statthaft. Jeder angemeldete Aktionär kann sie stellen, sowohl zu eigenen als auch zu fremden Ausgangsfragen. Auch bleibt es beim Ansatz des Regierungsentwurfs, dass die Aktionäre während der virtuellen HV erstmalige Fragen noch zu solchen Sachverhalten stellen dürfen, die sich erst kurzfristig ergeben haben und daher vorab nicht berücksichtigt werden konnten.

Wieder entfallen ist hingegen das noch weitergehende Aktionärsrecht, bei ausreichender Restzeit sogar noch längst bekannte Sachverhalte erstmalig in der HV zu thematisieren. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis wenig ändern. Denn es bleibt dabei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Nach- oder Rückfrage im Zweifel weit verstanden wissen möchte. Die Gesellschaft trägt daher das Risiko, die (ggf. nur lockere) Verbindung zu einer Ausgangsfrage zu übersehen. Das ist umso wahrscheinlicher, je breiter das Spektrum der Ausgangsfragen ausfällt und je allgemeiner diese gefasst sind. Außerdem können findige Aktionäre unschwer argumentieren, ein Altsachverhalt sei erst kürzlich (erneut) in der Presse, in einem Internetforum oder auch im just gehaltenen Redebeitrag eines Mitaktionärs aufgegriffen worden – was ihn in einem neuen Licht erscheinen lasse und daher den Aktionären ein uneingeschränktes Fragerecht in der virtuellen HV eröffne.

Immerhin: Den Vorstandsbericht muss die Gesellschaft nur dann vorab veröffentlichen, wenn sie die Aktionäre mit ihren Fragen im Ausgangspunkt tatsächlich in das Vorfeld der HV verweist.

Doppeltes Antragsrecht

Das doppelte Antragsrecht des Regierungsentwurfs – sowohl vor als auch während der virtuellen HV – bleibt nahezu unberührt. Neu ist nur, dass spontane Anträge und Wahlvorschläge während der HV in jedem Fall mündlich zu stellen sind, nämlich per Videokommunikation. Damit entfällt die Option einer elektronischen Antragstellung per Knopfdruck. Zugleich wird der Antragsteller zeitlich auf die „Aussprache“ verwiesen. Er kann also seine Anträge nicht schon während der Eröffnung oder der Verlesung der Regularien stellen. Ebenso wenig während der Vorstandsrede, des Berichts des Aufsichtsrats, einer Abstimmung oder einer Beschlussfeststellung. Im Ausschussbericht heißt es hierzu, das Antragsrecht werde auf diese Weise dem Mündlichkeitsprinzip der Präsenzversammlung nachgebildet. Dies auch mit der Folge, dass die Einbringung von Anträgen für alle Versammlungsteilnehmer transparent sei. Dem entspricht es, dass das Gesetz an anderer Stelle das Live-Rederecht nicht nur auf etwaige (Nach-)Fragen erstreckt, sondern ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge.

Zu kurz gesprungen

Gemessen am Regierungsentwurf sind all diese Punkte wichtige Fortschritte. Sie ändern aber nichts an dem Befund, dass das neue virtuelle Format kaum mehr ist als eine (schlechte) Kopie der Präsenzversammlung – mit einigen zusätzlichen Hindernissen und Fallstricken für die Unternehmen als Zugabe.

Insbesondere bleibt es dabei, dass die Aktionäre ein doppeltes Rederecht, ein doppeltes Fragerecht und ein doppeltes Antragsrecht erhalten. Der Aufsichtsrat muss sich, trotz seiner traditionell passiven Rolle in der HV, im Regelfall in voller Besetzung vor Ort einfinden. Das ist schon bei Präsenzversammlungen schwer verständlich, bei virtueller HV aber gänzlich sinnlos. Und es werden zahlreiche neue Detailfragen aufgeworfen, bis zu deren gerichtlicher Klärung viele Jahre vergehen dürften – anders als unter dem COVMG nunmehr mit vollem Anfechtungsrisiko. All das macht das neue virtuelle Format aus Sicht vieler Unternehmen wenig attraktiv. Das gilt umso mehr, als das erklärte weitere Reformziel, die virtuelle HV zu „entzerren“, erkennbar verfehlt worden sein dürfte.

Als Anreiz zur Nutzung des virtuellen Formats bleiben damit in erster Linie die niedrigeren Kosten. Nur dürfte der Gesetzgeber auch insoweit einem (Kalkulations-)Irrtum aufsitzen: Erstens müssen die Anbieter der digitalen Infrastruktur ihre Tools an den neuen, deutlich anspruchsvolleren Rechtsrahmen anpassen. Und zweitens werden nicht wenige (auch große) Gesellschaften künftig wohl wieder in Präsenz tagen; es schrumpft also der Kreis der Abnehmer für digitale Lösungen. Beides bleibt gewiss nicht ohne Auswirkungen auf die Preise, zu denen das Produkt „virtuelle HV“ künftig am Markt zu haben sein wird.

Regierungsentwurf zur virtuellen HV – Cui bono?

„Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“ – so heißt es im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aus dem vergangenen Jahr. Diesen Programmsatz zu verwirklichen, erweist sich indessen als echte Herkules-, wenn nicht sogar als Sisyphusaufgabe. Aktionärsschützer liefen Sturm, als das BMJ im Februar 2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vorlegte und sich dabei eng am COVMG orientierte (zum Referentenentwurf s. den Blog-Beitrag v. 15.2.2022). Ihr Kernanliegen: Das virtuelle Format dürfe nicht dazu dienen, die Aktionärsrechte im Verhältnis zur Präsenzversammlung zu beschneiden oder ihre Ausübung zu erschweren. Am 27.4.2022 hat das Bundeskabinett nun einen überarbeiteten Regierungsentwurf beschlossen. Jedoch schwingt das Pendel damit weit in die andere Richtung – aus Unternehmenssicht wohl: zu weit. Anträge sollen sowohl vor als auch noch in der virtuellen HV gestellt werden können, einfach per Knopfdruck. Vorab eingereichte Fragen soll die Gesellschaft schon vor der HV schriftlich auf ihrer Internetseite beantworten. Und während der laufenden HV sollen nicht nur Rückfragen zulässig sein, sondern auch Erstfragen zu neuen und mitunter sogar zu längst bekannten Sachverhalten. Damit schließt der RegE nicht zur Präsenzversammlung auf; er geht weit über deren Maß hinaus.

Was bleibt?

Der RegE belässt es dabei, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – jeweils befristet auf maximal fünf Jahre. Nach Ablauf der jeweiligen Frist muss die Satzungsklausel erneuert werden. Unmittelbar auf gesetzlicher Basis kann der Vorstand das virtuelle Format nur für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres nutzen. Ebenso bleibt es dabei, dass eine virtuelle HV gewisse Mindeststandards für die Aktionäre einhalten muss, unter anderem:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • elektronische Stimmabgabe
  • ein Antrags- sowie ein „Auskunftsrecht“ (terminologisch richtig wäre: ein Fragerecht), die allerdings beide erheblich aufgewertet werden und auf die noch näher einzugehen sein wird
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sieben (statt ursprünglich sechs) Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen, insbesondere Videobotschaften, bis fünf (statt ursprünglich vier) Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Und schließlich erblickt der RegE in der virtuellen HV auch unverändert eine „vollwertige Versammlungsform“, d.h. ausdrücklich keine „Versammlung zweiter Klasse“. Eine virtuelle HV dürfe daher über sämtliche Gegenstände beschließen, die auch Gegenstand einer Präsenzversammlung sein können, insbesondere auch über Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Neu ist allein, dass die Satzung konkrete Ausnahmen bezeichnen, d.h. bestimmte Beschlussgegenstände einer Präsenzversammlung vorbehalten darf.

Anträge, immer und überall

Gravierende Änderungen finden sich hingegen beim Antragsrecht:

Wie schon der RefE sieht zwar auch der RegE vor, dass Gegenanträge und Wahlvorschläge innerhalb der bekannten 14-Tagesfrist an die Gesellschaft übersandt werden können und damit als gestellt gelten. Es ist also nicht erforderlich, sie in der virtuellen HV noch mündlich zu stellen – ein wesentlicher Unterschied zur Präsenzversammlung.

Damit hat es aber kein Bewenden. Ergänzend möchte der RegE jedem elektronisch zugeschalteten Aktionär spontane Anträge noch während der virtuellen HV erlauben, und zwar im Wege elektronischer Kommunikation. Das gilt ausweislich der Begründung für „[a]lle Anträge und Wahlvorschläge“, einschließlich Geschäftsordnungs- und Sonderprüfungsanträgen. Dafür kann, muss aber nicht unbedingt Videokommunikation genutzt werden. Es soll auch denkbar sein, spontane Anträge über Textfelder des Aktionärsportals oder per E-Mail zu übermitteln. Dahinter steht das erklärte Bestreben, die virtuelle HV der Präsenzversammlung möglichst anzunähern.

Tatsächlich würde dieses Ziel jedoch weit übertroffen. Denn die prozeduralen und psychologischen Hürden zur Stellung von Anträgen, gleich welchen Inhalts oder mit welcher Begründung, würden gemessen an einer Präsenzversammlung erheblich herabgesetzt. Zum einen, weil der Antragsteller sich nicht mehr notwendig zu Wort melden und aufrufen lassen muss; sein Aktionsradius wäre also, anders als in der Präsenzversammlung, nicht mehr auf die Generaldebatte beschränkt. Zum anderen, weil die Anwesenheit anderer Aktionäre und ggf. der Presse sowie auch die Stimmung im Saal oftmals eine disziplinierende Wirkung auf einen Redner haben. Die anderen Aktionäre lassen es einen Redner durchaus spüren, wenn er einen allzu langen, aussichtslosen oder unsinnigen Antrag stellt. Ebenso, wenn er seinen Antrag erkennbar zur Unzeit vorbringt – von wiederholten oder konzertierten Aktionen ganz zu schweigen. Nötigenfalls kann auch der Versammlungsleiter präventiv eingreifen. Diese mäßigenden Faktoren entfallen, wenn der Antragsteller nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern aus seinem Wohnzimmer vorbereitete Texte per Knopfdruck einreicht.

Fragen über Fragen

Eine ähnliche Doppelung ergibt sich beim Fragerecht:

Einerseits soll der Aktionär befugt sein, seine Fragen elektronisch vorab einzureichen – ähnlich wie auch heute schon unter der Geltung des COVMG, allerdings nicht mehr mit nur einem Tag, sondern mit immerhin drei Tagen Vorlauf auf die HV. Während der HV soll er anschließend noch Nach- bzw. Rückfragen stellen können. Das gilt nicht nur für eigene, sondern ausdrücklich auch für fremde Ausgangsfragen und die dazu erteilten Antworten.

Andererseits soll der Aktionär aber berechtigt sein, erstmalige Fragen noch während der laufenden HV zu solchen Sachverhalten zu stellen, die sich erst kurzfristig ergeben haben – beispielsweise zu Geschäftszahlen oder Presseartikeln, die unmittelbar vor der HV veröffentlicht worden sind. Und mehr noch: Es sollen sogar (weitere) erstmalige Fragen zu längst bekannten Sachverhalten zulässig sein, die man auch schon im Vorfeld hätte adressieren können. Dies aber nur, sofern deren Beantwortung nach Behandlung vorrangiger Erst- und Rückfragen noch „innerhalb des angemessenen Zeitraums der Versammlung“ möglich ist.

Eine echte Filterfunktion dürfte damit aus praktischer Sicht nicht verbunden sein. Es sollte ein Leichtes für den Fragesteller sein, in der HV oder auch erst später im Beschlussmängelstreit zu behaupten, ein entscheidender Zusammenhang oder ein verstärkendes Adjektiv sei erstmals kurz vor der HV zu lesen gewesen, in der Presse, in einem Internetforum oder auch anderenorts. Denkbar ist auch, dass er sich auf den just gehaltenen Live-Redebeitrag eines Mitaktionärs mit (vermeintlich) neuen Behauptungen bezieht. Die Grenze zwischen neuen und alten Sachverhalten verschwimmt dann. Es ist somit kaum vorstellbar, dass eine auf Rechtssicherheit bedachte Gesellschaft eine Frage als verspätet zurückweist. Dies umso weniger, als selbst verspätete Fragen ja ohnehin zulässig bleiben sollen, solange nur die HV nicht zeitlich aus dem Ruder läuft.

Für all diese Erst- und Rückfragen in der HV kann der Aktionär neben Texteingaben auch seinen Live-Redebeitrag per Videokommunikation nutzen. Der Versammlungsleiter kann ihn umgekehrt auf den Weg der Videokommunikation beschränken.

Kommunikative Lufthoheit

Hinzu kommt, dass die Gesellschaft laut dem RegE vorab eingereichte Fragen auf ihrer Internetseite schriftlich beantworten muss – und zwar spätestens einen Tag vor der virtuellen HV. Davon verspricht das Bundeskabinett sich mehr Transparenz sowie straffere Abläufe am eigentlichen Versammlungstag. Denn der Vorstand soll befugt sein, die Aktionäre in der virtuellen HV auf seine schriftlichen Antworten zu verweisen; er müsste sie also nicht mehr eigens verlesen. Dieses Prozedere fasst der RegE unter die Stichworte „Vorverlagerung von Informations- und Entscheidungsprozessen“ sowie „Entzerrung der HV“.

Besagtes Prozedere hat aber noch ganz andere Konsequenzen:

Erstens verkürzt sich die Bearbeitungsfrist für die Gesellschaft von drei auf zwei Tage. Denn die Antworten müssen ja nicht erst am Versammlungstag bereitstehen, sondern schon einen Tag zuvor. Das ist immer noch mehr Zeit, als aktuell unter dem COVMG zur Verfügung steht. Vom komfortablen Zeithorizont des RefE (vier Tage) entfernt sich der RegE damit aber doch deutlich.

Zweitens ist absehbar, dass eine schriftliche Beantwortung die Gesellschaft auch inhaltlich vor neue Herausforderungen stellen wird. Das geschriebene Wort ist nicht nur leichter zitierbar und hat größere Verbindlichkeit. Es erhöhen sich auch die Anforderungen an Vollständigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit der Antworten. Ebenso daran, dass die Antworten auf verwandte Aktionärsfragen zusammenpassen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Und überdies wird stets zu prüfen sein, ob vorab erteilte Antworten am Tag der eigentlichen HV noch aktuell sind – widrigenfalls der Vorstand wohl auch ohne weitere Nachfrage ein Update geben müsste.

Drittens und noch viel wichtiger: Die Gesellschaft büßt mit dem neuen Prozedere in erheblichem Umfang ihre kommunikative Hoheit ein. Es gibt nämlich nicht nur rechtliche, sondern auch handfeste praktische Gründe, aus denen eine HV mit der mündlichen Vorstandsrede beginnt – nicht hingegen mit einer Fragestunde. Das zu Beginn gesprochene Wort, vorgetragen mit der Autorität und Ausstrahlung eines Vorstands, entfaltet enorme Wirkung. Es erlaubt, die Lage der Gesellschaft im Ganzen zu präsentieren, eigene Schwerpunkte zu setzen und Dinge in einen größeren Kontext zu stellen. Dabei ist gut beraten, wer auch und gerade kritische Punkte proaktiv anspricht – und auf diese Weise erwartbaren späteren Fragen und Unmutsäußerungen vorgreift.

Diese frühen, klaren Kernbotschaften sind es denn auch, die erfahrungsgemäß ihren Weg in die Presse finden. Und sie sind es, die den späteren Vortrag eines Kritikers abschwächen, bisweilen sogar im Keim ersticken. Diese Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, sollten sich schriftliche Fragen und Antworten demnächst schon vor der HV auf der Internetseite finden. Dann nämlich geben die kritische Frage und ein damit etwa verbundener Vorwurf den Ton an; die Antwort muss sie mühsam entkräften. Die Presse wird regelmäßig schon vor der HV auf dieser Basis berichten. Das kann die Gesellschaft auf einem zentralen Forum in die Defensive bringen.

Cui bono?

Es fragt sich, wem mit einer virtuellen HV dieses Zuschnitts noch gedient sein soll. Viele Aktionäre werden weiterhin die physische Bühne und den unmittelbaren Dialog schätzen; für sie ist und bleibt das virtuelle Format die zweite Wahl. Und auch die Unternehmen werden schwerlich Anlass sehen, ein virtuelles Format zu nutzen, das ihnen gemessen an einer Präsenzveranstaltung zusätzliche Klimmzüge abverlangt. Kleinere Nachbesserungen in die eine oder andere Richtung versprechen keine Abhilfe. Dies umso weniger, als der RegE leider insgesamt sehr kleinteilig und unpräzise ausfällt und den Rechtsanwender mit zahlreichen offenen Fragen zurücklässt – Rückwirkungen auf das Recht der Präsenzversammlung nicht ausgeschlossen.

Referentenentwurf zur virtuellen HV

In diesen Tagen erscheint im Otto Schmidt Verlag die Neuauflage des renommierten Handbuchs börsennotierte AG, u.a. mit einem umfassenden Kapitel zur Hauptversammlung aus meiner Feder. Behandelt wird darin selbstverständlich auch die virtuelle HV auf Basis des COVMG, die als Notstandsinstrument die Praxis der letzten beiden Jahre geprägt hat und noch bis Ende August 2022 genutzt werden kann. Unterdessen arbeitet das BMJ daran, die virtuelle HV inhaltlich aufzurüsten und dauerhaft im Aktiengesetz zu implementieren. Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften liegt seit dem 9.2.2022 offiziell vor.

Worum geht es?

Zunächst ist bemerkenswert, worum es im RefE überhaupt geht – und auch worum nicht. Der RefE behandelt allein die neue virtuelle HV und deren Mindestanforderungen, außerdem eine punktuelle Absicherung der Gesellschaften gegen Anfechtungsrisiken bei technischen Pannen. Im Übrigen bleibt das Beschlussmängelrecht jedoch unangetastet. Gleiches gilt für das Recht der Präsenzhauptversammlung, die vollständig erhalten bleibt und gegenüber dem neuen virtuellen Format den gesetzlichen und wohl auch den praktischen Regelfall bilden soll.

Wer regelt was?

Die virtuelle HV soll, außer für die Dauer eines einmaligen Übergangsjahres, nicht unmittelbar durch Gesetz ermöglicht werden. Der RefE sieht vielmehr vor, dass die Satzung das virtuelle Format entweder selbst anordnen oder den Vorstand entsprechend ermächtigen kann – wie es bereits von der Briefwahl und der Online-Teilnahme bekannt ist. Hinzu kommt, dass die Satzungsklausel zum virtuellen Format stets eine beschränkte Laufzeit von maximal fünf Jahren haben soll. Das macht es erforderlich, die Hauptversammlung wiederkehrend mit der Frage zu befassen, ähnlich wie beim genehmigten Kapital, bei Anleiheermächtigungen oder beim Erwerb eigener Aktien. Damit verbinden sich beachtliche Hürden. Allen voran: Es bedarf im Regelfall einer Drei-Viertel-Kapitalmehrheit, außerdem der Eintragung der Satzungsänderung in das Handelsregister, die durch etwaige Anfechtungsklagen erschwert sein kann. Für Publikumsgesellschaften mit breitem Streubesitz ist beides kein triviales Unterfangen.

Was gehört zum Programm?

Die Eckpunkte der neuen virtuellen HV sehen laut RefE wie folgt aus:

  • Übertragung der gesamten HV in Bild und Ton
  • Stimmabgabe der Aktionäre im Wege elektronischer Kommunikation
  • Geschäftsordnungsanträge während der HV im Wege elektronischer Kommunikation
  • Gegenanträge i.S.v. § 126 AktG nur vorab unter Wahrung der bekannten 14-Tagesfrist, es sei denn, die Einberufung gestattet Gegenanträge auch noch in der HV
  • „Auskunftsrecht nach § 131“ (gemeint ist: Fragerecht) im Wege elektronischer Kommunikation, wobei der Vorstand eine Vorabeinreichung der Fragen bis vier Tage vor der HV anordnen kann – dann allerdings hat der Aktionär in der Versammlung noch ein thematisch beschränktes Nachfragerecht im Wege elektronischer Kommunikation
  • Bereitstellung des Vorstandsberichts (d.h. des Redemanuskripts des CEO) oder seines wesentlichen Inhalts spätestens sechs Tage vor der HV
  • Einreichung von Stellungnahmen (insbesondere Videobotschaften) zur Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation bis vier Tage vor der HV
  • Live-Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation – mit vorherigem Anmeldeerfordernis und Vergabe der verfügbaren Slots nach dem Prioritätsprinzip
  • Widerspruchsrecht in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation
  • Aufnahme „elektronisch zugeschalteter“ Aktionäre in das Teilnehmerverzeichnis
  • Anfechtungsbefugnis auch für „elektronisch zugeschaltete“ Aktionäre

Was darf die HV?

Der RefE schränkt die Kompetenzen einer HV im neuen virtuellen Format in keiner Weise ein. Auch das virtuelle Format ist also geeignet, sämtliche Gegenstände zu behandeln, die in die Zuständigkeit der HV als Organ fallen – einschließlich weitreichender Kapital-, Struktur- und Umwandlungsmaßnahmen. Ausdrücklich heißt es in den Materialien, die virtuelle HV sei eine vollwertige Versammlungsform, im Verhältnis zur Präsenzversammlung also keine „Versammlung zweiter Klasse“.

Wie geht es weiter?

Die Verbände haben bis zum 11.3.2022 Gelegenheit, zum RefE Stellung zu nehmen. Dabei dürfte es wenig aussichtsreich sein, auf weiterreichende Reformen, namentlich des Beschlussmängelrechts oder der Präsenzversammlung, zu drängen – denn dafür fehlt neben der Zeit augenscheinlich auch ein konsensfähiger Ansatz. Was aber zu diskutieren ist, sind die Bausteine der virtuellen HV. So fällt beispielsweise auf, dass Videobotschaften (auf freiwilliger Basis) schon bisher vielfach ermöglicht, aktionärsseitig aber kaum genutzt worden sind. Es besteht also offenbar kein nennenswertes Interesse hieran. Es sollte daher überdacht werden, ob dieses Element im Gesetz wirklich verankert sein muss – zumal neben den Live-Redebeiträgen. Auch sind einige dogmatische Fehler zu beheben: So verwechselt der RefE das Auskunftsrecht (d.h. den Anspruch auf eine Antwort) mit dem Fragerecht (d.h. dem Auskunftsverlangen), übersieht die erhebliche Schnittmenge zwischen Geschäftsordnungs- und Gegenanträgen und umschreibt die vorgelagerte Übersendung von Briefwahlstimmen und Weisungen rechtsirrig als „Abstimmung“.

Fokus statt Flickenteppich

Ein weiterer Punkt: Die Entwurfsmaterialien signalisieren, dass die virtuelle HV neuen Zuschnitts kein breites Massenphänomen mehr sein wird (vgl. die zurückhaltenden Schätzungen i.R.d. Erfüllungsaufwands für die Wirtschaft, Begr. RefE S. 19). Genau das mag vom BMJ politisch auch durchaus gewollt sein. Dann aber fragt sich, warum sich ihre Regelung zersplittert in nahezu jeder zentralen HV-Vorschrift niederschlagen soll. Meine Anregung ist: ein eigener, in sich geschlossener Unterabschnitt zur virtuellen HV, z.B. als neue §§ 132a ff. AktG. Dort wäre dann en bloc zu lesen, dass die HV auf Satzungsgrundlage auch im virtuellen Format stattfinden kann – mit unmittelbar anschließender Regelung aller Besonderheiten gegenüber der klassischen Präsenzversammlung. Die Vorteile liegen auf der Hand: eine schlankere und klarere Regelung, keine systematischen und thematischen Sprünge im bisherigen HV-Recht sowie die Möglichkeit, das virtuelle Format im Gesetz schlicht zu überblättern, falls es denn für die eigene Praxis keine Rolle spielt.

Hinweis des Verlags:

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Die virtuelle Hauptversammlung 2022

Sprichwörtlich in letzter Sekunde, tatsächlich jedenfalls bei letzter Gelegenheit hat der 19. Deutsche Bundestag am 7.9.2021 die Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung ein zweites Mal verlängert. Damit wird es nach den Jahren 2020 und 2021 „angesichts der ungewissen Fortentwicklung der Pandemie-Situation und daraus resultierender Versammlungsbeschränkungen“ (BT-Drucks. 19/32275, 30) auch im Jahr 2022 die Möglichkeit geben, Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Hauptversammlung abzuhalten.

In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 19/32275, 30) mahnt der Gesetzgeber, dass von dem „Instrument“ der Online-Hauptversammlung „im Einzelfall nur dann Gebrauch gemacht werden [sollte], wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint.“ Die Prognoseentscheidung (!) nach § 1 Abs. 2 COVMG muss ermessensfehlerfrei erfolgen. Es gelten die Grundsätze für eine unternehmerische Entscheidung auf Grundlage des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (Business Judgement Rule), wobei gem. § 1 Abs. 7 COVMG, der ebenfalls bis 31.8.2022 verlängert wurde, allein vorsätzlicher Missbrauch schadet. Daher sind an die Ermessensentscheidung keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.

Eindeutig lässt sich vor diesem Hintergrund wohl nur folgende Situation beurteilen: Nach einem sog. Freedom Day (zuletzt Dänemark) kann rechtssicher keine virtuelle Hauptversammlung mehr geplant werden. Eine bereits einberufene Online-Hauptversammlung müsste aber nicht wieder abberufen und als physische Versammlung neu einberufen werden. Vielmehr könnte dann auch nach der Aufhebung sämtlicher Pandemiebeschränkungen eine virtuelle Versammlung abgehalten werden. Auch dürfte eine Hauptversammlung vollständig virtuell durchgeführt werden, wenn die Vorbereitungen zum Zeitpunkt eines möglichen Freedom Days bereits so weit fortgeschritten sind, dass die kurzfristige Organisation einer physischen Versammlung bis zum 31.8.2022 faktisch unmöglich wäre. Im Übrigen dürfte für die Beurteilung, ob die Entscheidung zur Einberufung und Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung ermessensfehlerfrei war, nicht der Zeitpunkt der Einberufung, sondern (ex ante!) ein Zeitpunkt sein, der mitunter weit vor dem Tag der Einberufung liegt. Sollte sich ein Emittent mit Blick auf den Gesundheitsschutz der Aktionäre, Organmitglieder, Dienstleister, Presse- und Medienvertreter aus Vorsichtsgründen für eine Online-Hauptversammlung entscheiden, dürfte es aus heutiger Sicht schon im Ansatz schwerfallen, Ermessensfehler zu konstruieren.

Im Ergebnis ist daher auch für die Hauptversammlungssaison 2022 davon auszugehen, dass diese weitestgehend, wenn nicht gar nahezu vollständig, virtuell stattfinden wird.

Mehr zur virtuellen Hauptversammlung 2022 in der AG 2021, R283.

Empirische Untersuchung und Auswertung der zweiten virtuellen Hauptversammlungssaison

Auch die Saison der Aktionärstreffen im Jahr 2021 war von der virtuellen Hauptversammlung geprägt. Die fortdauernde COVID‑19-Pandemie erforderte, das COVMG zu verlängern, um rechtssicher eine zweite Saison von Online-Hauptversammlungen durchführen zu können. Nachdem zum Jahreswechsel das im Verordnungswege zur Verlängerung ermächtigte BMJV und der Deutsche Bundestag fast zeitgleich zur Tat schritten, trat mit Wirkung zum 28.2.2021 ein leicht überarbeitetes COVMG in Kraft. Auf Grundlage des novellierten Gesetzes wurden bis Ende Juli 2021 von den Unternehmen der DAX-Indexfamilie (DAX30, MAX, SDAX und TecDAX) 134 Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Versammlung einberufen. Anknüpfend an die Beiträge in AG 2020, 418 und AG 2020, 776 wurde nunmehr die zweite virtuelle Hauptversammlungssaison empirisch untersucht und systematisch ausgewertet, um den Marktstandard herauszuarbeiten.

Die Mehrheit der 134 zwischen Februar 2021 und dem 31.7.2021 einberufenen virtuellen Hauptversammlungen von börsennotierten Unternehmen der DAX-Indexfamilie

  • nutzte das normale statt des verkürzten Fristenregimes des § 1 Abs. 3 COVMG (99 %),
  • sah vor, dass die Versammlung über das Internet in Bild und Ton nur für die Aktionäre übertragen würde (58 %),
  • gab einen „Ort der Hauptversammlung im Sinne des Aktiengesetzes“ in Form einer Postadresse als Ort der Hauptversammlung i.S.d. § 121 Abs. 3 AktG an (57 %),
  • gab Aktionären vor, Fragen gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 COVMG bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen (100 %),
  • beschrieb das Fragerecht gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 COVMG im Zusammenhang mit Angaben nach § 121 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 AktG (80 %),
  • eröffnete den Aktionären die Möglichkeit, Fragen gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 COVMG bis zum Ablauf des zweiten Tages vor der Hauptversammlung zu übermitteln (96 %), so dass ein voller Tag zwischen der letzten Fragemöglichkeit und dem Tag der virtuellen Versammlung lag,
  • nutzte das Portal zur Übermittlung der Fragen an die Gesellschaft (98 %),
  • machte keine Angaben zur Namensnennung der Fragensteller in der virtuellen Versammlung (46 %),
  • bot ihren Aktionären weder eine Nachfragemöglichkeit (92,5 %) noch eine Stellungnahmemöglichkeit (81 %) während der virtuellen Hauptversammlung an,
  • ermöglichte keine elektronische Teilnahme gem. § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG (99 %) und stellte dies auch explizit in der Einberufung der virtuellen Versammlung klar (60 %),
  • bot den Aktionären die Briefwahl über das Portal (100 %) und daneben auch auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail an (63 %),
  • ermöglichte den Aktionären, die elektronische Briefwahl über das Portal bis zum „Beginn der Abstimmungen“ (67 %) und die Briefwahl auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail bis zum Ablauf des Tages vor der virtuellen Hauptversammlung (62 %),
  • benannte einen Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft (100 %),
  • sah vor, den von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter über das Portal (99 %) und daneben auch auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail bevollmächtigen und anweisen zu können (69 %),
  • ermöglichte die Bevollmächtigung und Anweisung des Stimmrechtsvertreters der Gesellschaft über das Portal bis zum „Beginn der Abstimmungen“ (68 %) und beendete die Möglichkeit der Bevollmächtigung und Anweisung des Stimmrechtsvertreters der Gesellschaft auf dem Postweg, per Telefax oder E‑Mail mit Ablauf des Tages vor der virtuellen Hauptversammlung (60 %),
  • gab an, Widersprüche gegen Beschlüsse der Hauptversammlung während der virtuellen Hauptversammlung über das Portal erklären zu können (95 %), und
  • wählte Computershare (40 %), Link Market Services (18 %) oder Better Orange (17 %) als Hauptversammlungs-Dienstleister für die Vorbereitung und Durchführung der virtuellen Hauptversammlung (Marktanteil von zusammen 75 %).

In der AG 2021, 613 werden die Durchdringung der virtuellen Hauptversammlung gegenüber der Präsenz-Versammlung, der Umgang mit dem Fristenregime der Einberufung, dem (neuen) Fragerecht, der Ermöglichung von Nachfragen bzw. Stellungnahmen, den Modalitäten der Stimmrechtsausübung der Aktionäre sowie der Widerspruchsmöglichkeit ausführlich dargestellt und ausgewertet. Auch werden weitere Besonderheiten der virtuellen Hauptversammlung und die von den untersuchten Börsenunternehmen gewählten Hauptversammlungs-Dienstleister beleuchtet.

„Weihnachtsgeschenk“ des Gesetzgebers: Virtuelle Hauptversammlung (HV) 4.0!

Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens als „Omnibus“-Gesetz in einem Husarenritt (siehe die enge Taktfolge von Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 15.12.2020, BT-Drucks. 19/25251, dazu erläuternder Bericht der Abgeordneten Dr. Heribert Hirte, Dr. Karl-Heinz Brunner, Fabian Jacobi, Judith Skudelny, Gökay Akbulut und Dr. Manuela Rottmann, BT-Drucks. 19/25322 vom 16.12.2020, Plenardebatte des Deutschen Bundestages vom 17.12.2020, Plenarprotokoll 19/202, dort insbesondere 25377-25381 und Beschluss des Bundesrates vom 18.12.2020, BR-Drucks. 761/20) kurz vor Jahresende die Rechtsgrundlagen für die Durchführung virtueller Hauptversammlungen in 2021 geändert. 

I. Paradigmenwechsel von der Fragemöglichkeit zurück zum Fragerecht

1. Die Neuregelung und deren ratio

Zum Anliegen der gesetzlichen Neuregelung berichtet der Rechtsausschuss (BT Drucks. 19/25322, 10) kurz und knapp:

Hervorzuheben sei hier, dass der Vorstand auf der Hauptversammlung nun nicht mehr über das „Ob“ des Fragerechts von Aktionären entscheiden könne, sondern nur noch über das „Wie“ der Beantwortung.“

Gemündet hat dies in die Änderung von § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG, wo in Satz 1 die Wörter „eine Fragemöglichkeit“ durch „ein Fragerecht“ ersetzt wurden und dessen Satz 2 nun lautet:

„Der Vorstand entscheidet nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, wie er Fragen beantwortet; er kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.“

2. Ausgewählte offene Fragen und Probleme der Neuregelung

a) Das erste Problem der Neuregelung beginnt bereits mit der Frage, was „bis spätestens einen Tag vor der Versammlung“ bedeutet. Das führt nämlich unmittelbar zurück zum Streitstand, der sich an der entsprechenden Zweitagesfrist des § 1 GesRuaCOVBekG entzündet hat.

Diese Debatte hätte der Gesetzgeber durch ein klarstellendes Wort gleich miterledigen können. Die Chance hat er zwar vertan, die Praxis wird sich aber dadurch Rechtssicherheit verschaffen können, dass sie sich an der für die Aktionäre jeweils günstigsten Meinung orientiert und die Belastung der Gesellschaft hierdurch in Kauf nimmt. Dies wäre die punktgenaue Berechnung in Stunden rückgerechnet vom Beginn der virtuellen Hauptversammlung. Zwingend geboten ist dies unseres Erachtens aber nicht, weil der Gesetzeswortlaut jedenfalls bei börsennotierten Aktiengesellschaften eindeutig und unabdingbar ist, wenn man das Aktiengesetz in den Blick nimmt, wo § 121 Abs. 7 AktG schon nach seinem Wortlaut zweifelsfrei einen „Allgeltungsanspruch“ hat.

b) Das leitet über zum größten Problem der Neuregelung. In der klassischen Präsenzhauptversammlung kann es nicht zur Überforderung der Gesellschaft durch zahlreiche Fragen kommen, deren Beantwortung soviel Zeit braucht, dass die Hauptversammlung nicht mehr bis Mitternacht zu beenden ist. Denn die Möglichkeiten der Redezeitbegrenzung, der Schließung der Rednerliste und der Schließung der Debatte durch den Versammlungsleiter verhindern, dass es dazu kommen kann.

Das ist bei einer virtuellen Hauptversammlung anders. Hier können, insbesondere wenn gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren, tausende Fragen eingereicht werden, die eine Einreichungsfrist, egal wie berechnet, nicht verhindern kann. Deren Beantwortung in der virtuellen Hauptversammlung kann schnell dazu führen, dass diese mehr Stunden dauert als man bis Mitternacht hat, also „gesprengt“ wird, soweit man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt. Daher hatte der Gesetzgeber gerade nichts falsch gemacht, als er im März 2020 nur eine Fragemöglichkeit regelte. Der Sündenfall ist der „Dezember“-Beschluss. Dies wirft die Frage der Schadensbegrenzung auf:

aa) Hier bietet der Hinweis der Gesetzesmaterialien auf die „schriftliche“ Beantwortung nur eine fragile Abhilfe. Denn das kann nicht bilateral gelten, sondern jede Antwort muss – wie in der Präsenzhauptversammlung – auch allen Mitaktionären zur Verfügung stehen, was zur Beantwortung über die Webseite der Gesellschaft führt. § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 AktG verlangt für solche Antworten aber an sich, dass Antworten über die Webseite bereits 7 Tage vor der Hauptversammlung verfügbar sein sollen. Das kann bei Fragen, die man auch nach diesem Tag noch stellen kann, nicht eingehalten werden. Unseres Erachtens wird das Gesetz insoweit wohl im Sinne einer impliziten Abbedingung der 7-Tages-Frist zu lesen sein.

bb) Auch nicht zwingend zielführend ist der Hinweis in den Gesetzesmaterialien auf die Möglichkeit, gleichartige Fragen gebündelt zu beantworten. Gerade gut organisierte aktivistische Aktionäre werden die nötige Sorgfalt aufbringen, um mit ihren Anwälten hinreichend verschiedene Fragen in großer Zahl zu stellen. Dann läuft diese „Erleichterung“ für den Vorstand im Rahmen der Beantwortung leer.

cc) Interessanter ist der Hinweis der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 19/25322, 10) auf die Möglichkeit, einer „zeitlichen Obergrenze“ für Fragen. Gemeint ist wohl genauer eine zeitliche Obergrenze für die Beantwortung von Fragen in der virtuellen Hauptversammlung. Das steht zwar auf den ersten Blick in Widerspruch zur neuen Antwortpflicht, aber eben nur auf den ersten Blick. Denn natürlich ist auch in der Präsenzhauptversammlung das Auskunftsrecht des § 131 AktG durch die Leitungsbefugnisse des Versammlungsleiters zu Redezeitbegrenzung, Schluss der Rednerliste und Schluss der Debatte faktisch begrenzt. Nichts anderes gilt, wenn man also in der Einberufung der virtuellen Hauptversammlung festlegt, dass für die Beantwortung von Fragen beispielsweise höchstens acht Stunden zur Verfügung stehen.

c) Eine weitere Folgefrage der Umstellung auf ein Fragerecht ist schließlich auch, ob man das Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG wird zulassen müssen, was man bislang aufgrund der bloßen Fragemöglichkeit verneint hatte. Im Ergebnis wird man hier unseres Erachtens nicht anders urteilen müssen, denn die Gesetzbegründung stellt auch das neue Fragerecht dem Auskunftsrecht des § 131 AktG nicht vollständig gleich, wenn es dem Vorstand weiterhin erlaubt ist, dass er Fragen und deren Beantwortung zusammenfassen kann, wenn ihm dies sinnvoll erscheint. Für eine Anwendung der Vorschrift des § 132 AktG spricht allerdings zugegebenermaßen, dass der Gesetzgeber den Aktionären dezidiert ein Fragerecht geben will. Entscheiden werden (auch) das erst die Gerichte.

d) Hingegen sollte der breite Ausschluss der Anfechtungsklage aufgrund des insoweit unveränderten Gesetzeswortlauts in § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG weiter Raum greifen.

II. Nachfragemöglichkeit auch in der Hauptversammlung 

Aufgrund einer unglücklichen formulierten Erläuterung der Koalitionsfraktionen ist ein Streit entbrannt, ob in der virtuellen Hauptversammlung zudem auch die Möglichkeit zur Gewährung von Nachfragen zu eröffnen ist. Daraus leiten interessierte Kreise bereits entsprechende Rechtspflichten ab. Diese zu bejahen, würde freilich zu erheblichen (Kosten)Belastungen der virtuellen Hauptversammlung führen, weil diese dann in einer geeigneten Form interaktiv mittels Zwei-Wege-Kommunikation auszugestalten wäre.

Hier wird jedoch übersehen, dass die virtuelle Hauptversammlung nach ihren rechtlichen Grundlagen, grundsätzliche Antwortpflicht hin oder her, gerade nicht auf einen Dialog ausgerichtet ist. Unzweifelhaft besteht nach § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG keine Pflicht des Vorstands, eine elektronische Teilnahme in einer virtuellen Hauptversammlung vorzusehen. Insoweit wäre ein verpflichtender Aktionärsdialog in Form einer Zwei-Wege-Kommunikation ein offener Bruch mit dem Gesetzeswortlaut.

III.  Fiktion zur Stellung von Anträgen

Eine weitere wichtige Änderung findet sich in § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG neuer Fassung, der nun regelt:

„Anträge oder Wahlvorschläge von Aktionären, die nach § 126 oder § 127 des Aktiengesetzes zugänglich zu machen sind, gelten als in der Versammlung gestellt, wenn der den Antrag stellende oder den Wahlvorschlag unterbreitende Aktionär ordnungsgemäß legitimiert und zur Hauptversammlung angemeldet ist.“

Auch das ist eine klare Abkehr von der bisherigen Rechtslage. Kritisch daran ist, dass wiederum die Tür dazu geöffnet wird, dass gesellschaftsfeindliche, aktivistische Aktionäre sich entsprechend organisieren und zahlreiche Anträge rechtzeitig eingereicht werden, deren Behandlung (insbesondere in Kombination mit vielen Fragen) soviel Zeit benötigt, dass eine virtuelle Hauptversammlung über Mitternacht hinaus dauert, also „gesprengt“ wird, wenn man nicht vorsorglich auf mehrere Tage einlädt.

Auch wenn hier weder Gesetzeswortlaut, noch Gesetzesmaterialien den Hinweis auf eine Beschränkung der Zeitdauer für die Behandlung von Gegenanträgen enthalten, wird man eine solche Möglichkeit mit einem „erst recht“-Schluss aus der Möglichkeit in der Präsenzhauptversammlung zur Schließung der Rednerliste und damit implizit zur faktischen Beendigung der Möglichkeit zur Stellung von Anträgen ableiten können. 

IV. Zeitlicher Anwendungsbereich

Die Übergangregelung aus Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht ordnet die Geltung der neuen Bestimmungen mit einer zweimonatigen Übergangszeit an. Hier scheint der Gesetzgeber in den Dimensionen der aktienrechtlichen Einberufungsfristen des § 123 AktG gedacht zu haben. Dies verkennt freilich, dass die Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat zur Einberufung der Hauptversammlung nicht in Sondersitzungen fallen, die rückwärts gerechnet vom Tag der Hauptversammlung terminiert werden, sondern „ganz normal“ in den turnusmäßigen Sitzungen, was regelmäßig zu längeren Fenstern zwischen den Entscheidungen der Organe, der Einberufung und der Durchführung der Hauptversammlung führt. Es bedarf daher keiner großen Phantasie, um zu erahnen, dass das übereilte Vorpreschen des Gesetzgebers einzelne Gesellschaften zwingen wird, nochmals Vorstand und Aufsichtsrat einzuberufen, um auf Grundlage der am Tag der Hauptversammlung geltenden Aktionärsrechte neu zu beraten und zu entscheiden.

Eine Übergangsregelung nach dem Vorbild des § 26j Abs. 3 und Abs. 4 EGAktG hätte dies vermieden.

Eine ausführlichere Darstellung erfolgt in Ausgabe 3/2021 der AG.

RA Dr. Stefan Mutter und RA Dr. Carsten Kruchen, M.Jur. (Oxford),
MUTTER & KRUCHEN Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB

COVID-19-Sonderregelungen zu Gesellschafterversammlungen und virtuellen Hauptversammlungen – Verlängerung bis Ende 2021 geplant

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat einen Referentenentwurf für eine Verordnung veröffentlicht, nach der die bestehenden COVID-19-Erleichterungen zur Abhaltung von Gesellschafterversammlungen und (virtuellen) Hauptversammlungen bis Ende 2021 verlängert werden sollen. Im Referentenentwurf sind auch einige Hinweise enthalten, wie Gesellschaften künftig mit den Ausnahmeregelungen umgehen sollen.

Hintergrund
Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hatte der Gesetzgeber am 27. März 2020 durch das Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (BGBl. I S. 569, 570) verschiedene Maßnahmen eingeführt, um Gesellschafterversammlungen und Hauptversammlungen trotz der Pandemie durchführen zu können. Sämtliche Instrumente waren dabei bis zum 31. Dezember 2020 befristet. Von hoher praktischer Relevanz waren vor allem die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, virtuelle Hauptversammlungen durchzuführen und / oder eine ordentliche Hauptversammlung bis zum Ende des Geschäftsjahres (und nicht in den ersten acht Monaten) abzuhalten sowie GmbH-Beschlüsse in Textform oder durch schriftliche Abgabe der Stimmen auch ohne Einverständnis sämtlicher Gesellschafter zu fassen. Insbesondere von der Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung haben nahezu alle Publikums-Aktiengesellschaften Gebrauch gemacht.

Erleichterungen für Hauptversammlungen auch in 2021
Der nun vorgelegte Verordnungsentwurf verlängert die bestehenden COVID-19-Sonderregelungen bis zum 31. Dezember 2021.

Das betrifft zum einen folgende Erleichterungen für die AG, die KGaA, den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) und die Europäische Gesellschaft (SE):

Möglichkeit der „virtuellen“ Hauptversammlung mit eingeschränkten Anfechtungsrechten, alternativ Online-Teilnahme an der Hauptversammlung auch ohne Satzungsermächtigung, Möglichkeit einer präsenzlosen Hauptversammlung mit eingeschränkten Anfechtungsmöglichkeiten, Möglichkeit der Verkürzung der Einberufungsfrist auf 21 Tage, Möglichkeit, Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn auch ohne Satzungsregelung vorzunehmen, sowie (dies nicht für die SE) Ermöglichung der Durchführung der Hauptversammlung innerhalb des Geschäftsjahres) bis zum 31. Dezember 2021.

Virtuelle Hauptversammlungen nur noch bei Erforderlichkeit aufgrund der Pandemie im Einzelfall möglich
Der Referentenentwurf begrenzt in seiner Begründung die Option der virtuellen Hauptversammlung allerdings: Unternehmen können von diesem Instrument nur „im Einzelfall“ Gebrauch machen, wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens erforderlich erscheint. Ziel sei es, durch die Verlängerung für diejenigen Unternehmen Planungssicherheit zu schaffen, die ihre ordentlichen oder außerordentlichen Hauptversammlungen in den ersten Monaten des Kalenderjahres 2021 abhalten wollen. Sollten Großveranstaltungen wieder möglich sein, seien die Gesellschaften keineswegs zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung gezwungen, sondern könnten wieder zur Präsenzversammlung zurückkehren oder hybride zweigleisige Formate wählen. Interessant ist zudem der Hinweis im Entwurf, wonach Gesellschaften auch Gelegenheiten zur entsprechenden Anpassung ihrer Satzungen oder Statute nutzen sollen. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass auch künftig zumindest Mischformen der Normalfall sein werden.

Aktionärsfreundliche Umsetzung virtueller Hauptversammlung gefordert
Einen von der Praxis als wesentlich empfundenen Vorteil der virtuellen Hauptversammlung schafft die Begründung aber faktisch ab: Die Unternehmen sollen in Bezug auf Aktionärsfragen möglichst aktionärsfreundlich verfahren. Es sollte – im Rahmen der im Einzelfall zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten – gegebenenfalls ermöglicht werden, dass Fragen auch noch während der Hauptversammlung eingereicht werden können und nicht nur – wie bislang zumeist – bis zwei Tage vor der Versammlung. Zudem solle der Vorstand das ihm zustehende pflichtgemäße und freie Ermessen dahingehend ausüben, möglichst viele der eingereichten Fragen auch zu beantworten und nicht nur ausgewählte Fragen. Letzteres entsprach allerdings sowieso der überwiegenden Praxis in 2020.

Verlängerung der Einberufungsfrist für SE noch offen
Mangels nationaler Gesetzgebungskompetenz kann die Frage, ob auch die Einberufungsfrist für Europäische Aktiengesellschaften auf zwölf Monate (SE) verlängert wird, hingegen nur auf europäischer Eben entschieden werden (siehe zur Problematik in 2020 unseren Blog-Beitrag).

Auch GmbH-Beschlussfassungen in Textform weiterhin möglich

Der Verordnungsentwurf sieht zudem eine Verlängerung der Möglichkeit vor, abweichend von § 48 Abs. 2 GmbHG, Beschlüsse der GmbH-Gesellschafter in Textform oder durch schriftliche Abgabe der Stimmen auch ohne Einverständnis sämtlicher Gesellschafter zu fassen. Daneben sollen auch die bestehenden Erleichterungen im Recht der Genossenschaften sowie im Vereins- und Stiftungsrecht verlängert werden.

Längere Frist für Stichtagsbilanz bei Verschmelzungen / Spaltungen
Ebenfalls bis zum 31. Dezember 2021 verlängert werden soll die derzeitige Sonderregelung für Verschmelzungen und Spaltungen, wonach es abweichend von § 17 Abs. 2 Satz 4 UmwG für die Zulässigkeit der Handelsregistereintragung genügt, wenn die Bilanz auf einen höchstens zwölf Monate vor der Anmeldung liegenden Stichtag aufgestellt worden ist.

Fazit
Es bleibt abzuwarten, ob es im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch zu Änderungen kommt. Der Referentenentwurf ist noch nicht innerhalb der Bundesregierung abgestimmt und erste Kritik an den aktienrechtlichen Vorschriften von Fraktionen bereits vernehmbar. Länder und Verbände können bis zum 25. September 2020 Stellung nehmen. Auch wenn es zu keinen weiteren Anpassungen mehr kommen sollte, ist zu erwarten, dass Aktionärsschützer und Stimmrechtsberater auf eine aktionärsfreundliche Umsetzung der Sonderregelungen im Jahr 2021 drängen werden. Dies gilt umso mehr, als im regulierten Markt notierte Gesellschaften erstmals über das Vergütungssystem für den Vorstand und damit eine wesentliche Neuerung durch das ARUG II abstimmen müssen. Gesellschaften sollten daher in jedem Fall das Erfordernis einer virtuellen Hauptversammlung sorgfältig abwägen und frühzeitig nach technischen Möglichkeiten einer aktionärsfreundlichen Umsetzung Ausschau halten. Die geplante Verlängerung der bestehenden Erleichterungen im GmbH- und Umwandungsrecht ist ausdrücklich zu begrüßen.

Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig und Prof. Dr. Carsten Schäfer im Interview zu aktuellen Entwicklungen im Vorstandsrecht

Das Vorstandsrecht ist aktuell ordentlich in Bewegung. Berater müssen sich insbesondere mit den neuen Entwicklungen nach dem ARUG II auseinandersetzen. Eine besondere Herausforderung stellt überdies auch in diesem Rechtsbereich die Corona- bzw. Covid-19-Pandemie dar. Ich habe vor diesem Hintergrund mit den Autoren des Standardwerks „Rechte und Pflichten des Vorstands“, RA Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig [1] und Prof. Dr. Carsten Schäfer [2], über die wichtigsten Veränderungen gesprochen.

Peters: In Ihrem Standardwerk konzentrieren Sie sich auf die Rechte und Pflichten des Vorstands. Welche neuen und zusätzlichen sind insoweit nach Inkrafttreten des ARUG II am 1.1.2020 besonders zu erwähnen?

Schäfer: In der Tat haben viele neue Regelwerke auch die Vorstandspflichten zumindest indirekt verändert. Das gilt für das Kapitalmarktrecht nach der MAR ebenso wie für die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG II. Erwähnt seien nur die Regelungen zu „Related Party Transactions“ und zur Vergütungsentscheidung der Hauptversammlung („Say on Pay“), aber auch der neue Corporate Governance Kodex 2020.

Traditionsgemäß sind zudem die Themen Vergütung und Haftung, Organisation und Delegation sowie – last not least – Compliance in beständigem Fluss und müssen auf der Pflichtenseite nachgehalten werden.

Peters: Gibt es Fallstricke, auf die Vorstandsmitglieder und deren Berater besonders achten müssen?

Ihrig: Für die neuen Bestimmungen durch das ARUG II hat der Gesetzgeber leider nur in Teilbereichen Übergangsvorschriften vorgesehen. Für die neuen Regelungen zu Transaktionen mit nahestehenden Personen, deren Reichweite deutlich über Konzernsituationen hinausreichen, ist das zum Beispiel nicht der Fall. Diese Bestimmungen sind also unmittelbar in Kraft getreten und zu beachten. Soweit Gesellschaften das insoweit erforderliche Monitoring-System zur Erfassung relevanter Vorgänge noch nicht etabliert haben, ist also höchste Eile geboten. Aber auch dort, wo Übergangsvorschriften gelten, wie etwa im Bereich der Vergütungssysteme für Vorstand und Aufsichtsrat und für geänderte Publikationspflichten, wird die Zeit zur Vorbereitung langsam knapp.

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Peters: Am 20.3.2020 ist zudem der neue DCGK (2020) im BAnz. veröffentlicht worden. Auch ihn behandeln Sie ausführlich und mithin sehr aktuell in Ihrem Buch. Welche Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen sind besonders beachtenswert und bringen Änderungen gegenüber der vorherigen Fassung des Kodex?

Ihrig: Zu konstatieren ist zunächst, dass der Kodex im systematischen Aufbau völlig neu gestaltet worden ist; das erschwert den Abgleich des Status Quo mit den Kodexvorgaben bei Vorbereitung der nächsten Entsprechenserklärung. Neu ist auch die Einführung sogenannter „Grundsätze“, die an die Stelle der gesetzeswiederholenden Passagen des Kodex treten. Besondere Beachtung verdienen aus Sicht des Vorstands zum Einen die Empfehlung in B.3, dass Erstbestellungen für längstens drei Jahre erfolgen sollen, zum Anderen die Empfehlungen zur Vorstandsvergütung, namentlich die in G.10, dass langfristig variable Vergütungen überwiegend in Aktien oder aktienbasiert gewährt werden sollen und die Vorstandsverträge Claw-Back-Optionen vorsehen sollen. Wichtig sind natürlich auch die neuen Bestimmungen zum Aufsichtsrat, insbesondere diejenigen, die die Unabhängigkeit seiner Mitglieder konkretisieren.

Peters: Gibt es weitere erwähnenswerte Verschärfungen in der Pflichtensituation für den Vorstand, z.B. aufgrund einschlägiger Rechtsprechung?

Schäfer: Das Haftungsthema ist in der Tat im steten Fluss durch zahlreiche, auch instanzgerichtliche Judikate. Eine klare Tendenz ist nicht leicht erkennbar. Einerseits neigen die Gerichte nicht selten dazu, neue Pflichten zu „erfinden“, vor allem sog. Organisationspflichten, zum anderen gibt es aber auch gewisse mäßigende Tendenzen. Ich erwähne nur das Urteil des BGH zu Schloss Eller – dort hat es der II. Senat jetzt immerhin prinzipiell zugelassen, dass sich der Vorstand bei Übergehen eines Zustimmungsvorbehalts auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten, also die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats beruft. Die Konsequenzen bedürfen freilich noch näherer Untersuchung.

Interessant ist auch, dass die gesamte Compliance-Debatte sich in rechtlicher Hinsicht bislang an einem vereinzelten Landgerichts-Urteil, dessen Aussagen m.E. aber teilweise nicht überzeugen können, teilweise wohl auch missverstanden werden. Hier gilt es unbedingt eher mäßigende Akzente zu setzen –

Peters: Zum Schluss würde mich natürlich noch ein aktueller Blick auf die derzeitige Covid-19-Situation aus Ihrer Sicht interessieren: Welche Fragen sind aktuell die dringendsten aus der Vorstandsetage und was raten Sie den Vorständen?

Schäfer: Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Corona-Gesetz ist zur Zeit sicherlich ein großes Thema, zumal die Regeln zwar weitgehende Eingriffe in die Aktionärsrechte zulassen, aber nicht zwingend vorgeben. Hier gilt es also, ein für die konkrete Gesellschaft passendes – und technisch durchführbares – Format zu finden. Diese Entscheidung wird durch zahlreiche Zweifelsfragen, welche die Neuregelung aufgeworfen hat, nicht unbedingt erleichtert. Allerdings ist es hoch anzurechnen, dass die Bundesregierung in einem derartigen Tempo ein Instrument geschaffen hat, das den Aktiengesellschaften ihre unabdingbare Beschlussfähigkeit erhält.

Sehr aktuell sind naturgemäß auch Vorstandspflichten in der Krise, die auch Thema unseres Buches sind. Zwar sind die insolvenzrechtlichen Antragspflichten durch die COVID-Gesetzgebung teilweise vorübergehend suspendiert, doch bleibt es bei strengen Überwachungspflichten in Krisensituation und in Teilbereichen stellen sich komplexe Abgrenzungsfragen, wie etwa bei den Bestimmungen zur sog. „Notgeschäftsführung“ zu den unverändert gebliebenen Tatbestand des Eingehungsbetrugs.. Sanierungsfälle werden wir infolge der Corona-Krise jetzt deutlich häufiger beobachten; es gibt aber auch zahlreiche staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die eventuell in Anspruch genommen werden können. So können sich etwa Vorstände vor die Wahl gestellt sehen, ob sie staatliche Rettungsbeteiligungen in Anspruch nehmen oder lieber ein insolvenzrechtliches Schutzschirmverfahren zur grundsätzlichen Bereinigung der Bilanz auf der Passivseite einleiten wollen. All‘ dies bedarf einer sorgfältigen Ermittlung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des jeweiligen Instruments.

Peters: Wird es zu diesen aktuellen Covid-19-Themen ein Update in Ihrem Buch, das auch Bestandteil in der Otto Schmidt-Datenbank und bei juris ist, geben? Denn momentan befinden sich auch viele Berater und Vorstände im Homeoffice und könnten aktuelle Online-Versionen besonders gut nutzen.

Ihrig und Schäfer: Wir hoffen und wünschen uns allen sehr, dass diese Pandemie und die mit ihr einhergehende Sondergesetzgebung ein rasch hinter uns liegendes Thema sein wird. Sofern sich hieraus aber, etwa bei einer grundlegenden Reformierung des Rechts der Hauptversammlung, Änderungen von Dauer einstellen werden, wird dies gewiss ein Thema sein, dem wir uns in der nächsten Auflage unseres Buches zu den Rechten und Pflichten des Vorstands gerne annehmen werden.

Herzlichen Dank für diese wertvollen Hinweise!

 

[1] Prof. Dr. Hans-Christoph Ihrig ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor in Mannheim.

[2] Prof. Dr. Carsten Schäfer ist Universitätsprofessor, Lehr­stuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Universität Mannheim

Das Interview hat Dr. Birgitta Peters, Geschäftsbereichsleiterin Recht im Verlag Dr. Otto Schmidt, geführt.