Anwaltsblog 48/2024: Rechtsanwalt muss bei plötzlicher Erkrankung Gericht telefonisch informieren!

Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur statthaft, wenn diese darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe. Der BGH hatte zu entscheiden, ob die Nichtwahrnehmung eines Verhandlungstermins infolge plötzlicher Erkrankung des Prozessbevollmächtigten einen Fall schuldhafter Säumnis darstellt (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – V ZB 50/23):

 

In einem Nachbarschaftsrechtsstreit hat das Landgericht die Beklagten durch Versäumnisurteil antragsgemäß verurteilt. Dagegen haben die Beklagten Einspruch eingelegt. Im Termin zur Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache ist für die Beklagten wiederum niemand erschienen. Das Landgericht hat auf Antrag der Kläger den Einspruch durch das im Termin verkündete zweite Versäumnisurteil verworfen. Gegen dieses Versäumnisurteil haben die Beklagten Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter sei am Termintag zunächst sehr früh wegen heftiger Zahnschmerzen im Bereich der rechten Gesichtshälfte aufgewacht und habe eine Schmerztablette genommen. Kurz vor 8.00 Uhr sei er erneut durch heftige Zahn- und Kopfschmerzen geweckt worden und habe dann noch ein oder zwei Schmerztabletten genommen. Es sei für ihn klar gewesen, dass er zum Zahnarzt müsse. Nach 8.00 Uhr habe er an den Gerichtstermin gedacht und seinen Kollegen, mit dem er eine Bürogemeinschaft ohne weiteres Personal bilde, angerufen, aber nicht erreicht. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr benommen gefühlt. Einen klaren Gedanken habe er nicht mehr fassen können. Er habe dann ein Taxi gerufen und sei zu seinem Zahnarzt gefahren. Dort habe er sofort eine Spritze gegen die Schmerzen erhalten; der rechte Weisheitszahn sei behandelt worden. Im Zuge der Behandlung habe er noch eine Schmerztablette erhalten und eine weitere, die er gegen Mittag habe einnehmen sollen. Er habe dann noch einige Zeit im Behandlungszimmer verbracht und sei dann mit dem Taxi wieder nach Hause gefahren. Aufgrund der Wirkung der Schmerztabletten habe er den Termin am Landgericht verdrängt. Dieser sei ihm erst wieder am frühen Nachmittag eingefallen. Weil das Landgericht auf 11.30 Uhr terminiert hatte und die Fahrzeit von seiner Kanzlei aus ca. eine Stunde betrage, habe er geplant gehabt, gegen 10.00 Uhr loszufahren.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil die Beklagten nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist schlüssig dargelegt hätten, dass sie den Termin ohne eigenes Verschulden versäumt hätten. Auch die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Annahme des Berufungsgerichts, dass keine unverschuldete Säumnis vorliegt, steht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil ist nur insoweit statthaft, als sie darauf gestützt wird, dass der Fall der schuldhaften Versäumung nicht vorgelegen habe (§ 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von der Schlüssigkeit der Darlegung dazu hängt die Zulässigkeit des Rechtsmittels ab. Der Sachverhalt, der die Zulässigkeit des Rechtsmittels rechtfertigen soll, ist vollständig und schlüssig innerhalb der Frist der Berufungsbegründung vorzutragen. Schlüssig ist der betreffende Vortrag, wenn die Tatsachen, die die Zulässigkeit der Berufung rechtfertigen sollen, so vollständig und frei von Widersprüchen vorgetragen werden, dass sie, ihre Richtigkeit unterstellt, den Schluss auf fehlendes Verschulden erlauben. Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Säumnis der Beklagten auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruht, welches sie sich als eigenes Verschulden zurechnen lassen müssen (§ 85 Abs. 2 ZPO).

Für die Entscheidung kann unterstellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am Terminstag krankheitsbedingt nicht zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht anreisen konnte. Dieser Umstand genügt aber nicht für die Annahme, er habe den Termin unverschuldet versäumt. Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig auch dann vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen. Diesen Anforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht entsprochen. Ihm ist es nicht unmöglich oder unzumutbar gewesen, das Landgericht rechtzeitig telefonisch über seine krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit in Kenntnis zu setzen. Am Termintag um 8.00 Uhr war dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten klar, dass er aufgrund der Schmerzen einen Zahnarzt aufsuchen musste. Trotz starker Schmerzen hat er zu diesem Zeitpunkt noch an den Gerichtstermin gedacht. Angesichts der erforderlichen zahnärztlichen Behandlung, der Einnahme starker Schmerzmittel und der kalkulierten Fahrzeit von einer Stunde zwischen dem Kanzlei- und dem Gerichtsort durfte er auch nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass er bis zu der Terminstunde das Landgericht erreichen wird. Es hätte daher der gebotenen anwaltlichen Sorgfalt entsprochen, bereits in diesem Moment die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die im konkret vorhersehbaren Fall einer Säumnis im Einspruchstermin drohenden schwerwiegenden Nachteile von den Beklagten abzuwenden. Hierzu wäre eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem Landgericht erforderlich gewesen, um seine Verhandlungsunfähigkeit mitzuteilen. Ein solches Telefonat zu führen, war dem Prozessbevollmächtigten trotz der vorgetragenen starken Schmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln zumutbar und keinesfalls überobligatorisch. Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei an, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht das ihm Zumutbare unternommen hat. Er hat sowohl seinen Kollegen angerufen als auch telefonisch ein Taxi bestellt. Dies belegt, dass ihm trotz der erheblichen Zahnschmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln ein Telefonat noch möglich und auch zumutbar war und er noch klare Gedanken fassen konnte. Anwaltlicher Sorgfalt hätte es daher entsprochen, stattdessen sofort dem Landgericht telefonisch seine Verhinderung mitzuteilen. Für diesen Anruf war nicht mehr Kraft aufzubringen als für den Anruf bei seinem Kollegen.

 

Fazit: Eine schuldhafte Säumnis liegt regelmäßig vor, wenn ein Prozessbevollmächtigter, der kurzfristig und nicht vorhersehbar krankheitsbedingt an der Wahrnehmung eines Termins gehindert ist, nicht das ihm Mögliche und Zumutbare getan hat, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen und hierdurch eine Vertagung zu ermöglichen (BGH, Urteil vom 24. September 2015 – IX ZR 207/14 –, MDR 2015, 1318).

 

Anwaltsblog 47/2024: Bleibt die elektronische Form gewahrt, wenn ein unzuständiges Gericht einen per beA eingegangenen Schriftsatz per Post an das richtige Gericht weiterleitet?

Der BGH hat die höchstrichterlich bisher nicht geklärte Frage entschieden, ob die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument bei einem unzuständigen Gericht eingegangenen Schriftsatzes zu einem fristwahrenden Eingang beim Empfängergericht führen kann (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – XII ZB 411/23):

 

In einer Familiensache hat die Antragstellerin gegen den ihr am 18. April 2023 zugestellten Beschluss, mit dem die Nichtigkeit der Ehe festgestellt wurde, fristgerecht Beschwerde eingelegt. Mit einem am 13. Juni 2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) beim Familiengericht eingegangenen und an dieses adressierten Schriftsatz hat sie die Verlängerung der Begründungsfrist um einen Monat beantragt. Das Amtsgericht hat den Fristverlängerungsantrag ausgedruckt und postalisch an das OLG weitergeleitet, wo er am 22. Juni 2023 eingegangen ist. Das OLG hat einen Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hat Erfolg. Das Beschwerdegericht hat die am 19. Juni 2023 ablaufende Beschwerdebegründungsfrist zu Recht als versäumt angesehen. Die Frist ist nicht durch den über das beA eingereichten Fristverlängerungsantrag an das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des Amtsgerichts gewahrt worden. Ein über das beA eingereichtes elektronisches Dokument ist erst dann gemäß § 130 a Abs. 5 Satz 1 ZPO wirksam beim zuständigen Gericht eingegangen, wenn es auf dem gerade für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär im Netzwerk für das EGVP gespeichert worden ist. Diese Voraussetzung ist mit der Übermittlung des Fristverlängerungsantrags an das EGVP des Amtsgerichts nicht erfüllt. Denn hierbei handelt es sich nicht um die für den Empfang eines Antrags auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bestimmte Einrichtung des für die Entscheidung über den Antrag zuständigen Beschwerdegerichts.

Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts sind jedoch die Voraussetzungen von § 117 Abs. 5 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO für eine Wiedereinsetzung erfüllt. Zwar hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei ein der Antragstellerin zurechenbares Verschulden ihrer Verfahrensbevollmächtigten darin gesehen, dass diese den Fristverlängerungsantrag vor Versendung nicht darauf überprüft hat, ob er an das zuständige Rechtsmittelgericht adressiert war. Entgegen der Auffassung des OLG wird die Kausalität des Anwaltsverschuldens für die Fristversäumung jedoch dadurch ausgeschlossen, dass bei im ordentlichen Geschäftsgang erfolgender postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingehen hätte müssen. Geht ein fristgebundener Schriftsatz statt beim Rechtsmittelgericht bei dem erstinstanzlichen Gericht ein, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf der Beteiligte darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig beim Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Gemessen daran durfte die Antragstellerin darauf vertrauen, dass ihr Fristverlängerungsantrag bei einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingeht. Denn im Rahmen eines ordentlichen Geschäftsgangs wäre zu erwarten gewesen, dass bei postalischer Weiterleitung des am 13. Juni 2023 beim Amtsgericht als elektronisches Dokument per beA eingegangenen Fristverlängerungsantrags dieser am 19. Juni 2023 und damit noch vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist beim Beschwerdegericht eingegangen wäre. Damit entfällt die Kausalität des anwaltlichen Verschuldens für die Fristversäumnis.

Ob die postalische Weiterleitung eines als elektronisches Dokument eingegangenen Schriftsatzes zu einem fristwahrenden Eingang des Fristverlängerungsantrags beim Beschwerdegericht führen kann, ist allerdings umstritten. Nach richtiger Auffassung wird das Formerfordernis aus §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO auch durch die Einreichung eines mit einer einfachen Signatur versehenen Schriftsatzes per beA bei einem nicht zuständigen Gericht erfüllt. Weder aus dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen in §§ 130 a, 130 d ZPO noch aus ihrem Zweck ergibt sich, dass ein mit einer einfachen Signatur versehener Schriftsatz, der per beA und damit auf einem dafür gesetzlich vorgesehenen Weg elektronisch an ein unzuständiges Gericht übermittelt wurde, nur dann der Form der §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO genügt, wenn er auch beim zuständigen Gericht in elektronischer Form eingeht. Durch die Einreichung eines Schriftsatzes, der – wie hier – mit einfacher Signatur versehen auf einem sicheren Übermittlungsweg beim unzuständigen Gericht eingegangen ist, ist die zwingend einzuhaltende Kommunikationsform zwischen den in § 130 d ZPO genannten Personen und den Gerichten gewahrt. Wird ein in dieser Form bei einem unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz dann dort ausgedruckt und in Papierform an das zuständige Gericht weitergeleitet, weil bei dem unzuständigen Gericht noch eine Papierakte geführt wird, ändert dies nichts daran, dass der Rechtsanwalt seiner Verpflichtung zur elektronischen Einreichung nachgekommen ist.

Freilich kann ein beim unzuständigen Gericht eingegangener Schriftsatz keine fristwahrende Wirkung haben, weil hierfür der Eingang beim zuständigen Gericht erforderlich ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch ein an ein unzuständiges Gericht adressierter, mit einfacher Signatur versehener und auf einem sicheren Übermittlungsweg elektronisch übermittelter Schriftsatz in der erforderlichen Form der §§ 130 d Satz 1, 130 a Abs. 3 und 4 ZPO bei Gericht eingereicht wurde, unabhängig davon, ob der Schriftsatz dann in Papierform oder elektronisch an das zuständige Gericht weitergeleitet wurde. Dieses Gesetzesverständnis entspricht dem Zweck der Regelungen in §§ 130 a, 130 d Satz 1 ZPO. Ziel war, den elektronischen Rechtsverkehr auf prozessualem Gebiet zu verbessern, die Zugangshürden für die elektronische Kommunikation mit der Justiz zu senken und das Nutzervertrauen im Umgang mit dem neuen Kommunikationsweg zu stärken. Diesem Gesetzeszweck würde es widersprechen, wenn durch die Verpflichtung zur aktiven Nutzung der elektronischen Kommunikation gegenüber dem bisherigen Recht der Zugang zu den Gerichten erschwert und die bis dahin bestehenden Verfahrensrechte der Beteiligten eingeschränkt würden. Die formwirksame Einreichung des per beA an das (unzuständige) Amtsgericht übersandten Schriftsatzes wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Fristverlängerungsantrag von dort postalisch an das zuständige Beschwerdegericht weitergeleitet wird. Insoweit fehlt es zwar an einer elektronischen Übermittlung an das zuständige Gericht, so dass aus dessen Sicht die für die Einreichung bei ihm geltenden Übermittlungs- und Formvorschriften nicht erfüllt sind. Dass das Amtsgericht zur Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Beschwerdegericht einen Medienwechsel vornehmen muss, betrifft jedoch lediglich die Kommunikation zwischen den Gerichten.

 

Fazit: Ein von einem Rechtsanwalt mit einfacher Signatur versehener und über das beA) eingereichter Antrag auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist erfüllt auch dann die nach § 130 d Satz 1 ZPO erforderliche elektronische Form, wenn er beim unzuständigen Ausgangsgericht eingegangen ist. Für die fristwahrende Wirkung kommt es hingegen darauf an, wann das Dokument beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Die postalische Weiterleitung eines beim unzuständigen Gericht ordnungsgemäß in elektronischer Form eingereichten Fristverlängerungsantrags führt nicht zur Formunwirksamkeit des Antrags.

 

Fazit: Ein von einem Rechtsanwalt mit einfacher Signatur versehener und über das beA) eingereichter Antrag auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist erfüllt auch dann die nach § 130 d Satz 1 ZPO erforderliche elektronische Form, wenn er beim unzuständigen Ausgangsgericht eingegangen ist. Für die fristwahrende Wirkung kommt es hingegen darauf an, wann das Dokument beim zuständigen Gericht eingegangen ist. Die postalische Weiterleitung eines beim unzuständigen Gericht ordnungsgemäß in elektronischer Form eingereichten Fristverlängerungsantrags führt nicht zur Formunwirksamkeit des Antrags.

Anwaltsblog 46/2024: Ist beim ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist die angeführte Arbeitsüberlastung glaubhaft zu machen?

Mit den Anforderungen an die Begründung eines ersten Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2024 – IV ZB 20/24):

 

Mit einem am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist beim OLG eingegangenen Schriftsatz haben die Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Aufgrund derzeitiger unvorhergesehener Arbeitsüberlastung des sachbearbeitenden Rechtsanwalts sei eine fristgerechte Berufungsbegründung nicht möglich. Das OLG hat mit Beschluss vom Folgetrag den Fristverlängerungsantrag abgelehnt, weil es an einer Glaubhaftmachung der Arbeitsüberlastung fehle, und nach Hinweis mit weiterem Beschluss die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an eine erstmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist überspannt, indem es die Ablehnung des Fristverlängerungsantrags – allein – darauf gestützt hat, der Kläger habe den angezeigten erheblichen Grund nicht glaubhaft gemacht. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Zwar ist der Rechtsmittelführer generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung des ihm eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in die Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Dies ist aber bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist im Allgemeinen der Fall, sofern dieser auf erhebliche Gründe iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt wird. Zu den erheblichen Gründen im Sinne dieser Vorschrift zählt insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Daher reicht der bloße Hinweis auf eine Arbeitsüberlastung zur Feststellung eines erheblichen Grundes iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung oder Glaubhaftmachung bedarf. Auf diese höchstrichterliche Rechtsprechung darf der Anwalt regelmäßig vertrauen; die unteren Instanzen dürfen aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit nicht zum Nachteil der betroffenen Parteien strengere Maßstäbe anlegen.

Von diesen Grundsätzen weicht das Berufungsgericht in entscheidungserheblicher Weise ab, indem es – darüber hinausgehend – verlangt hat, die Prozessbevollmächtigten des Klägers seien auch ohne entsprechende Aufforderung des Gerichts gehalten gewesen, den angezeigten erheblichen Grund glaubhaft zu machen. Eine solche unüblich strenge, über die von der einschlägigen Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen hinausgehende Praxis des Berufungsgerichts bewegt sich nicht mehr im Rahmen zulässiger, am Einzelfall orientierter Ermessensausübung. Auf eine solche Praxis braucht sich der Anwalt daher nicht einzustellen.

 

Fazit: An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Daher reicht der bloße Hinweis auf eine Arbeitsüberlastung zur Feststellung eines erheblichen Grundes aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung oder gar Glaubhaftmachung bedarf (BGH, Beschluss vom 16. März 2010 – VI ZB 46/09 –, MDR 2010, 645).

Blog powered by Zöller: Erstes Leitentscheidungsverfahren schon wieder beendet

Am 31. Oktober 2024 ist das Gesetz in Kraft getreten, welches dem BGH die Möglichkeit gibt, ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren zu erklären – mit der Wirkung, dass er eine in dieser Sache zu erwartende, für eine Vielzahl anderer Verfahren bedeutsame Entscheidung auch dann erlassen kann, wenn die Revision zurückgenommen werden sollte. Noch am selben Tag hat der VI. Senat des BGH von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und einen Rechtsstreit, in dem es um die Entschädigung für eine von Facebook verursachte Verbreitung persönlicher Daten (Daten-Scraping) geht, durch Beschluss nach § 552b ZPO zum Leitentscheidungsverfahren bestimmt (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24; s. Blog v. 7.11.2024).

Nicht einmal drei Wochen später ist dieses Verfahren schon wieder beendet, denn am 18. November hat der Senat bereits durch Urteil über die Revision entschieden. Was auf den ersten Blick als wenig planvolle Verfahrensleitung erscheinen mag, ergibt durchaus Sinn, denn die Erklärung zum Leitentscheidungsverfahren verhinderte, dass die Revision bis zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen und dadurch eine Grundsatzentscheidung verhindert werden konnte (wie in Parallelverfahren bereits praktiziert). Die Bedeutung des neuen § 552b ZPO könnte demnach vor allem in dieser Präventivwirkung, gar nicht so sehr in seiner Durchführung liegen.

Infolge des schnellen Endes des Leitentscheidungsverfahrens konnte auch die neue Vorschrift des § 148 IV ZPO keine Wirkung entfalten. Sie hätte es den vielen mit solchen Fällen befassten Instanzgerichten ermöglicht, ihre Verfahren bis zur Entscheidung des BGH auszusetzen (s. hierzu und zu den neuen §§ 552b und 565 ZPO die aktuelle Kommentierung in der Online-Version des Zöller sowie den Aufsatz von Feskorn in MDR 2024, 1413 ff.).

Dafür können sich die Gerichte aber jetzt schon an dem im streitigen Verfahren ergangenen Urteil orientieren. Diesem zufolge kann schon der kurzzeitige Verlust der Kontrolle über eigene personenbezogene Daten einen immateriellen Schaden im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung begründen und auch Ansprüche auf Unterlassung, Ersatz künftiger Schäden sowie Erstattung von Anwaltskosten rechtfertigen. Des Weiteren gibt der BGH Hinweise zur Bemessung des immateriellen Schadens, den er unter den gegebenen Umständen bei 100 Euro verortet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach einer Entscheidung des EuGH v. 4.10.2024 – C‑507/23, ZIP 2024, 2692, sogar eine Entschuldigung als ausreichenden Schadensersatz nach Art. 82 I DSGVO angesehen werden kann, falls das nationale Recht (hier: Lettlands) diese Form der Wiedergutmachung vorsieht (anders als der deutsche § 253 BGB).

Anwaltsblog 45/2024: Gehen Verzögerungen im Zustellverfahren immer zu Lasten des Klägers?

Soll durch eine Klage die Verjährung des geltend gemachten Anspruchs gehemmt werden, tritt diese Wirkung bereits mit Erhebung der Klage ein, wenn deren Zustellung „demnächst erfolgt“ (§ 167 ZPO). Ob eine Zustellung „demnächst“ auch dann vorliegt, wenn infolge einer nicht mehr zutreffenden Beklagtenanschrift durch das Zustellorgan Verzögerungen verursacht werden, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2024 – VII ZR 240/23):

 

Die Werklohnforderung der Klägerin in Höhe von 197.946,46 € verjährte mit Ablauf des 31. Dezember 2018. Die am 29. November 2018 beim Landgericht eingegangene Klage weist als Zustelladresse die frühere Anschrift der Beklagten aus. Das Gericht hat mit Kostenrechnung vom 27. Dezember 2018 den Vorschuss für die Gerichtskosten angefordert. Der von der Klägerin am 10. Januar 2019 angewiesene Vorschuss ist am Folgetag bei Gericht eingegangen. Die Klage ist am 23. Januar 2019 von dem Zusteller an der früheren Anschrift der Beklagten in den Briefkasten eines Dritten eingelegt worden. Dieser hat mit einem am 4. Februar 2019 bei Gericht eingegangen Schreiben die Klage mit dem Vermerk zurückgesandt, eine Firma mit dem Namen der Beklagten sei dort nicht ansässig. Das Landgericht hat am 5. Februar 2019 anhand des Handelsregisterauszugs die aktuelle Anschrift der Beklagten ermittelt und die Zustellung der Klage verfügt. Die Klage ist der Beklagten am 12. Februar 2019 zugestellt worden. Das Kammergericht hat die Klage auf die Verjährungseinrede der Beklagten abgewiesen. Die Zustellung der Klage am 12. Februar 2019 wirke nicht auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit am 29. November 2018 zurück. Gemäß § 167 ZPO trete die Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bereits mit Eingang der Klage bei Gericht ein, wenn die Zustellung demnächst erfolge. Eine der Partei zuzurechnende Zustellungsverzögerung von bis zu 14 Tagen werde regelmäßig hingenommen. Die der Klägerin zuzurechnenden Verzögerungen überschritten die Grenze von 14 Tagen.

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Die Zustellung der am 29. November 2018 beim Landgericht eingegangenen Klageschrift am 12. Februar 2019 ist noch demnächst iSv. § 167 ZPO erfolgt. Gemäß § 167 ZPO tritt die verjährungshemmende Wirkung der Klageerhebung mit Eingang der Klage bei Gericht ein, wenn ihre Zustellung demnächst erfolgt. Die Zustellung einer Klage ist jedenfalls dann noch demnächst erfolgt, wenn die durch den Kläger zu vertretende Verzögerung der Zustellung den Zeitraum von 14 Tagen nicht überschreitet. Bei der Berechnung der Zeitdauer der Verzögerung ist auf die Zeitspanne abzustellen, um die sich der ohnehin erforderliche Zeitraum für die Zustellung der Klage als Folge der Nachlässigkeit des Klägers verzögert. Dabei wird der auf vermeidbare Verzögerungen im Geschäftsablauf des Gerichts oder der Post zurückzuführende Zeitraum nicht angerechnet. Solche Verzögerungen im Zustellungsverfahren sind der klagenden Partei auch dann nicht zuzurechnen, wenn der fehlerhaften Sachbehandlung des Gerichts eine der Partei zuzurechnende Verzögerung vorausgegangen ist. Nach diesen Maßstäben überschreitet die der Klägerin infolge einer etwaigen Nachlässigkeit zuzurechnende Zustellungsverzögerung den hinnehmbaren Rahmen von bis zu 14 Tagen nicht. Eine der Klägerin zuzurechnende erhebliche Verzögerung der Klagezustellung ist nicht dadurch eingetreten, dass die Klägerin den Gerichtskostenvorschuss am 10. Januar 2019 angewiesen hat und dieser am 11. Januar 2019 bei Gericht eingegangen ist. Dabei ist zugunsten der Klägerin ihre Behauptung als richtig zu unterstellen, dass ihr die Gerichtskostenrechnung – wie sich auch aus dem Datum des Eingangsstempels ergibt – erst am 7. Januar 2019 zugegangen ist. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Auffassung vertreten, dass die Verzögerung von 20 Tagen, die den Zeitraum vom gescheiterten Zustellungsversuch am 23. Januar 2019 bis zur erfolgreichen Zustellung am 12. Februar 2019 betrifft, der Klägerin in vollem Umfang zuzurechnen sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Verzögerung, die dadurch entstanden ist, dass der Zusteller die Klage in den Briefkasten eines Dritten eingelegt hat, anstatt sie an das Gericht zurückzusenden, nicht der Klägerin zuzurechnen, weil es sich um eine Verzögerung im Geschäftsablauf des Gerichts handelt. Zu solchen Verzögerungen gehören auch Versäumnisse, die bei der Ausführung der Zustellung von dem Zustellorgan verursacht worden sind. Denn die von der Geschäftsstelle des Gerichts veranlasste Beauftragung des Zustellorgans mit der Ausführung der Zustellung (§ 168 Abs. 1 Satz 2 ZPO) gehört zum Geschäftsbetrieb des Gerichts, das die Klage von Amts wegen zuzustellen hat. Bei ordnungsgemäßer Zustellung hätte das Zustellorgan die Klage mit einem Vermerk über den Grund der Unzustellbarkeit unverzüglich an das Gericht zurückleiten müssen. Infolge der Angabe der falschen Anschrift der Beklagten ist die Zustellung der Klage allenfalls in der Zeit vom 23. Januar 2019 bis zum 4. Februar 2019 und damit für einen Zeitraum von lediglich zwölf Tagen verzögert worden. Die der Klägerin wegen der Angabe einer falschen Zustellanschrift zuzurechnende Verzögerung ist nach dem hypothetischen Verlauf der Zustellung ab dem Zeitpunkt der fehlgeschlagenen Erstzustellung zu ermitteln. Dabei ist darauf abzustellen, wie die Zustellung ohne die dem Gericht zuzurechnende Verzögerung verlaufen wäre. Für die Ermittlung des hypothetischen Verlaufs der Zustellung ist auf die unerlässlichen Gerichts- und Postlaufzeiten abzustellen, die für den Zeitraum vom ersten Zustellungsversuch bis zum Zeitpunkt der erfolgten Zustellung angefallen wären. Ausgehend hiervon beträgt die auf der Angabe der falschen Zustellanschrift der Beklagten beruhende Verzögerung weniger als 14 Tage. Die Zustellung der Klage ist daher noch demnächst iSd. § 167 ZPO erfolgt. Denn der Zusteller hätte bei ordnungsgemäßem Vorgehen die zuzustellende Klageschrift mit dem Vermerk „Unzustellbar“ unverzüglich zurückgesandt, so dass sie spätestens am übernächsten Tag, Freitag, den 25. Januar 2019, dem Landgericht wieder vorgelegen hätte. Die erneute Zustellung wäre am Montag, den 28. Januar 2019, veranlasst worden. Unter Zugrundelegung der tatsächlich – zwischen der Veranlassung der Zustellung am 5. Februar 2019 und der Zustellung am 12. Februar 2019 – angefallenen Postlaufzeit von 7 Tagen wäre die Klage der Beklagten spätestens am 4. Februar 2019, also 12 Tage nach dem gescheiterten Zustellungsversuch am 23. Januar 2019, zugestellt worden.

 

Fazit: Verzögerungen im Zustellungsverfahren, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung des Gerichts verursacht sind, sind dem Zustellungsbetreiber nicht zuzurechnen. Zu solchen Verzögerungen gehören auch Versäumnisse, die bei der Ausführung der Zustellung von dem Zustellorgan verursacht worden sind (BGH, Urteil vom 21. Juli 2023 – V ZR 215/21 –, MDR 2023, 1372).

Anwaltsblog 44/2024: Bauvertrag – Wann liegt eine Anordnung nach § 2 Abs. 5 VOB/B vor?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob bei einer Verzögerung der Bauausführung die Mitteilung des Auftraggebers an den Auftragnehmer von der dadurch bedingten Störung des Vertrags als Anordnung im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B mit der Rechtsfolge der Vereinbarung eines neuen Preises unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten gewertet werden kann (BGH, Urteil vom 19. September 2024 – VII ZR 10/24):

 

Der Beklagte hatte die Klägerin nach öffentlicher Ausschreibung unter Einbeziehung der VOB/B mit Leistungen des Gewerks „Starkstromanlagen an dem Bauvorhaben Umsetzung museale Neukonzeption“ beauftragt. In den Besonderen Vertragsbedingungen des Beklagten waren ein Ausführungsbeginn am 19. Juni 2018 und eine abnahmereife Fertigstellung der Arbeiten der Klägerin am 10. Januar 2019 vorgesehen. Am 23. August 2018 übergab der Beklagte der Klägerin einen Bauablaufplan, der den Bauablauf ab dem 28. August 2018 abbilden und Grundlage für die weitere Bauausführung der beteiligten Gewerke sein sollte. Wesentliche Leistungen der Klägerin waren danach erst im Jahr 2019 zu erbringen, wobei die Abnahme für den 17. September 2019 geplant war. Am 31. Januar 2019 übermittelte der Beklagte der Klägerin einen korrigierten Bauablaufplan für die weitere Bauausführung; dieser sah nunmehr eine Verschiebung der Abnahme auf den 29. Oktober 2019 vor. Nach Abnahme ihrer Arbeiten im November 2019 machte die Klägerin Mehrkosten von insgesamt 56.729,59 € für Personal und Baucontainer wegen Verlängerung der Bauzeit und wegen gestiegener Tariflöhne ab dem Jahr 2019 geltend. Der Beklagte beglich diesen Betrag nicht. LG wie OLG haben die Zahlungsklage abgewiesen.

Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat einen Mehrvergütungsanspruch der Klägerin gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B wegen Verlängerung der Bauzeit zu Recht verneint. Es hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Übermittlung der Bauablaufpläne am 23. August 2018 und am 31. Januar 2019 an die Klägerin keine Anordnung des Beklagten im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B darstellt. Gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B ist für den Fall, dass durch Änderung des Bauentwurfs oder andere Anordnungen des Auftraggebers die Grundlagen des Preises für eine im Vertrag vorgesehene Leistung geändert werden, ein neuer Preis unter Berücksichtigung der Mehr- oder Minderkosten zu vereinbaren. Kommt eine solche Vereinbarung nicht zustande, kann der Auftragnehmer den sich aus § 2 Abs. 5 VOB/B ergebenden Vergütungsanspruch im Wege der Klage geltend machen. Voraussetzung für einen Mehrvergütungsanspruch gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B ist danach eine Anordnung des Auftraggebers zur Änderung des Bauentwurfs oder eine andere Anordnung. § 2 Abs. 5 VOB/B ist dahin auszulegen, dass eine solche Anordnung eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Auftraggebers erfordert, mit der einseitig eine Änderung der Vertragspflichten des Auftragnehmers herbeigeführt werden soll. Für die Änderung des Bauentwurfs, die der Auftraggeber gemäß § 1 Abs. 3 VOB/B anordnen darf, liegt dies auf der Hand. Mit ihr sollen im Vertrag vereinbarte Leistungspflichten des Auftragnehmers betreffend den „Bauentwurf“ geändert werden. Diese Befugnis des Auftraggebers begründet im Gegenzug den Mehrvergütungsanspruch des Auftragnehmers gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B, wenn hierdurch die Grundlagen des Preises geändert werden. Für die „andere Anordnung“ im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B kann insoweit nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung nichts anderes gelten. Von der Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B sind nach der Systematik der VOB/B Störungen des Vertrags aufgrund von Behinderungen abzugrenzen, die faktisch zu Bauzeitverzögerungen führen. Derartige Störungen können nicht als Anordnung im Sinne des § 2 Abs. 5 VOB/B gewertet werden. Störungen aufgrund von Behinderungen führen nach der Systematik der VOB/B daher nicht zu einem Mehrvergütungsanspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B, sondern zu Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen, wenn der Auftraggeber vertragliche Verpflichtungen oder ihm obliegende Mitwirkungshandlungen nicht erfüllt.

 

Fazit: Eine Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B erfordert eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Auftraggebers, mit der einseitig eine Änderung der Vertragspflichten des Auftragnehmers herbeigeführt werden soll. Liegt eine Störung des Vertrags aufgrund einer Behinderung vor, die faktisch zu einer Bauzeitverzögerung führt, und teilt der Auftraggeber dem Auftragnehmer den Behinderungstatbestand und die hieraus resultierende Konsequenz mit, dass die Leistungen derzeit nicht erbracht werden können, liegt keine Anordnung iSd. § 2 Abs. 5 VOB/B vor.

Blog powered by Zöller: BGH nutzt neues Leitentscheidungsverfahren gleich am ersten Tag

Am 31.10.2024 ist das Gesetz über das sog. Leitentscheidungsverfahren in Kraft getreten (BGBl. 2024 I Nr. 328). Dieses gibt dem BGH die Möglichkeit, über Rechtsfragen, die in einer Vielzahl von Verfahren relevant sind, auch dann zu entscheiden, wenn es nicht zu einem Revisionsurteil kommt, z.B., weil das Rechtsmittel zurückgenommen wird. Von dieser Möglichkeit hat der BGH bereits am ersten Tag Gebrauch gemacht, und zwar in einem Fall, in dem es um die Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung im sog. Scraping-Komplex geht (BGH v. 31.10.2024 – VI ZR 10/24, Pressemitteilung), und in dem die Revision in zwei Parallelverfahren kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen worden war. Einer auf die Verhinderung höchstrichterlicher Entscheidung gerichteten Prozesstaktik ist damit der Boden entzogen. Und Instanzgerichte können jetzt Verfahren aussetzen, deren Entscheidung von den Rechtsfragen abhängt, die der BGH dem Leitentscheidungsverfahren zugeführt hat.

Die neuen Vorschriften (§§ 148 IV, 552b, 555, 565 ZPO) sind in der Online-Aktualisierung des ZÖLLER, die jeder Bezieher des gedruckten Kommentars kostenfrei nutzen kann, bereits kommentiert.


In der nächsten Ausgabe der MDR (Ausgabe 22) finden Sie zudem von Herrn Christian Feskorn einen Aufsatz zum neuen Leitentscheidungsverfahren beim BGH. Sie finden den Aufsatz online bereits vorab in unserer Datenbank.

Anwaltsblog 43/2024: Darf das Gericht dem Sachverständigen das Diktat des Protokolls überlassen?

Dass es verfahrensrechtlich unbedenklich ist, wenn der Richter einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät übergibt, hat das OLG Nürnberg entschieden (OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Oktober 2024 – 8 U 2323/23 –, juris):

 

Es ist üblich und wird als praktikabel empfunden, dass bei mündlichen Anhörungen von Sachverständigen der Vorsitzende Richter dem Sachverständigen das Diktat seiner Ausführungen für das Protokoll überlässt (Jäckel, MDR 2024, 688 Rn. 21). Das hat im vergangenen Jahr das OLG Hamm für verfahrensrechtlich unzulässig erklärt. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst sei in § 159 ZPO nicht vorgesehen, daher verfahrensfehlerhaft, und könne keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein, so dass entweder die Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu wiederholen oder das erstinstanzliche Urteil auf Antrag aufzuheben und das Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen sei (OLG Hamm, Urteil vom 19. Dezember 2023 – I-7 U 73/23 –, juris).

Dem ist jetzt das OLG Nürnberg entgegengetreten: Die vom OLG Hamm formulierten Bedenken gegen die „Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst“ überzeugen weder in der Begründung noch im Ergebnis. Soweit für den erkennenden Senat derzeit ersichtlich, ist dies eine vereinzelt gebliebene obergerichtliche Meinung zu einem konkreten Einzelfall. Der Inhalt der Aussagen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen kann auf zwei Wegen vorläufig aufgezeichnet werden:

a) Bei Tonaufnahme durch Diktat oder Eingabe in ein Textverarbeitungssystem sollte tunlichst der Vorsitzende den Inhalt bestimmen und dies nicht dem Urkundsbeamten übertragen. Überlässt der Vorsitzende einem Sachverständigen das Diktat seiner Aussage, ändert dies nichts an seiner Verantwortlichkeit für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Protokollierung; gegebenenfalls muss er eingreifen.

b) Zulässig ist auch eine vollständige Aufzeichnung durch ununterbrochene Ton- oder Videoaufnahme des Vernommenen und der Fragenden. Sie bedarf keiner Zustimmung der Beteiligten und bietet einige Vorteile, ist aber nicht zwingend.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass – entgegen der vom OLG Hamm vertretenen Auffassung – auch dann ein richterliches Protokoll im Sinne der §§ 159, 160 ZPO vorliegt, wenn der Sachverständige den Wortlaut seiner Aussagen – zu Zwecken der vorläufigen Aufzeichnung – unmittelbar dem Tonträger zuführt und der dabei anwesende Richter dann später das gemäß § 160a Abs. 2 ZPO „unverzüglich“ hergestellte Protokoll ordnungsgemäß unterschreibt (vgl. § 163 Abs. 1 ZPO). Damit übernimmt der Richter die uneingeschränkte Verantwortung für den Inhalt der „Reinschrift“ des gesamten Protokolls und dies rechtfertigt dann auch dessen weitreichende Beweiskraft gemäß § 165 ZPO. Schon diese Differenzierung zwischen „vorläufiger Aufzeichnung“ und abschließender „Erstellung“ des Protokolls lässt die angeführte Entscheidung des OLG Hamm vermissen.

Es kann keinen prozessrechtlich relevanten Unterschied machen, ob der Richter Teile der vorläufigen Aufzeichnung des Sitzungsprotokolls (hier: mündliche Angaben des Sachverständigen) unmittelbar selbst in das Mikrofon des Aufzeichnungsgeräts spricht, ob er das Gerät dem Aussagenden entgegenhält und dessen Sprache unmittelbar ganz oder teilweise aufzeichnet oder ob der Richter dem Sachverständigen das Gerät übergibt mit der Bitte, selbst direkt in das Mikrofon zu sprechen. Denn in all diesen Fällen ist der Aufzeichnungsgegenstand für die im Sitzungssaal anwesenden Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar und damit kontrollierbar. Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut oder Inhalt des Aufgezeichneten können an Ort und Stelle direkt kommuniziert und geklärt werden. Die Gefahr von – entscheidungserheblichen – Unklarheiten oder Lückenhaftigkeiten wird durch diese Handhabung weder geschaffen noch vergrößert.

 

Fazit: Es ist verfahrensrechtlich unbedenklich, einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät zu übergeben, wenn gewährleistet ist, dass Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut und Inhalt der Aufzeichnung unmittelbar geklärt werden können.

Anwaltsblog 42/2024: Anforderungen an elektronischen Fristenkalender

Wie die anwaltliche Fristenkontrolle bei elektronischer Kalenderführung organisiert sein muss, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 26. September 2024 – III ZB 82/23):

 

Die Klägerin hat gegen das am 18. April 2023 zugestellte Urteil am 25. April 2023 Berufung eingelegt. Nach Hinweis des Gerichts vom 23. Juni 2023, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine Berufungsbegründung eingegangen war, hat die Klägerin ihre Berufung begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat ihr Prozessbevollmächtigter ausgeführt, die Fristversäumung beruhe allein auf einem leichten Versehen zweier sehr zuverlässiger und ansonsten beanstandungsfrei arbeitender Kanzleimitarbeiter. Die Berufungsbegründungsfrist und die zugehörige Vorfrist seien aufgrund eines Datenverarbeitungsfehlers im Fristenkalender einer nicht mehr in der Kanzlei tätigen nichtanwaltlichen Mitarbeiterin eingetragen worden und nicht, wie alle anderen Fristen, im Kalender des damals sachbearbeitenden Rechtsanwalts K. Bei der Bearbeitung der Posteingänge seien durch die damalige Auszubildende die Fristen in der Fristerfassung der in der Kanzlei verwendeten Software (RA-Micro) eingetragen worden. Dabei werde durch die Eingabe der Aktennummer automatisch der zuständige Rechtsanwalt ausgewählt, der als Sachbearbeiter hinterlegt sei. Nach einer erneuten Überprüfung der Eintragung der Fristen habe sie in der E-Akte an dem Urteil einen elektronischen Aktenvermerk mit den jeweiligen Fristabläufen angebracht. Eine Überprüfung des Sachbearbeiterkürzels und der Fristeneintragung im Hauptkalender, in dem die für alle Anwälte laufenden Fristen eingetragen seien, sei ihrerseits nicht erfolgt. Anschließend habe ein weiterer Mitarbeiter eine erneute Kontrolle im System vorgenommen. Eine Kontrolle der Fristeneintragung im Hauptkalender habe er nicht vorgenommen. Er habe dies nicht für notwendig erachtet, weil es nach logischen Grundsätzen technisch ausgeschlossen sei, dass das System einen falschen Sachbearbeiter vorschlage. Zu einem Datenverarbeitungsfehler der vorliegenden Art sei es in der sechsjährigen anwaltlichen Tätigkeit von Rechtsanwalt K. nicht gekommen. Am 24. April 2023 habe dieser die Deckungsanfrage bei der Rechtsschutzversicherung gestellt und anhand der Notiz überprüft, dass die Fristen eingetragen seien. Er habe nicht davon ausgehen müssen, dass die Berufungsbegründungs- und die zugehörige Vorfrist nicht in seinem Termin- und Fristenkalender erscheinen würden.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin verworfen. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Verwendung einer elektronischen Kalenderführung darf keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten. Bei der Eingabe von Fristen in den elektronischen Fristenkalender bestehen spezifische Fehlermöglichkeiten, insbesondere auch bei der Datenverarbeitung. Es bedarf daher auch bei einer elektronischen Kalenderführung einer Kontrolle des Fristenkalenders, um Datenverarbeitungsfehler des eingesetzten Programms sowie Eingabefehler oder -versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig erkennen und beseitigen zu können. Danach ist die von der Rechtsbeschwerde als grundsätzlich angesehene Frage, ob eine hinreichende Fristenkontrolle durch den Rechtsanwalt bereits dadurch sichergestellt ist, dass eine auf dem Markt als erprobt und zuverlässig angesehene Kanzleisoftware verwendet und die Eingabe der fristrelevanten Daten in die Fristerfassungsmaske (sowie deren abschließende Bestätigung) geschultem und zuverlässigem Personal überlassen wird, das sie nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ vorzunehmen hat, zum Nachteil der Klägerin bereits geklärt. Die Rechtsbeschwerde sieht selbst, dass hierdurch der in Rede stehende Verarbeitungsfehler nicht erkannt werden kann. Ihre Auffassung, ein Rechtsanwalt dürfe die Korrektheit der Datenverarbeitung ohne weiteren Kontrollschritt voraussetzen, ist mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zu vereinbaren. Dabei bedarf es weiterhin keiner Entscheidung, wie diese Kontrolle im Einzelnen zu erfolgen hat, insbesondere ob es eines Kontrollausdrucks in Papierform bedarf. Denn die Klägerin hat vorgetragen, es sei überhaupt keine Kontrolle des Ergebnisses der Datenverarbeitung in Bezug auf die richtige Zuordnung zu dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt vorgenommen worden.

 

Fazit: Auch bei elektronischer Aktenführung ist der Rechtsanwalt verpflichtet, die ordnungsgemäße Notierung von Fristen in eigener Verantwortung zu überprüfen. Von der Anfertigung von Kontrollausdrucken darf deshalb allenfalls dann abgesehen werden, wenn andere Vorkehrungen getroffen werden, die ein vergleichbares Maß an Sicherheit ermöglichen (BGH, Beschluss vom 2. Februar 2021 – X ZB 2/20 –, AnwBl 2021, 301).

Anwaltsblog 41/2024: Rechtsbeschwerdeverfahren – Unzulässigkeit von Einwendungen nach versäumten Vortrag im Berufungsverfahren

Dass Berufungsführer, die auf Hinweise des Berufungsgerichts nicht angemessen reagieren, dies nicht im Rechtsbeschwerdeverfahren nach Verwerfung der Berufung nachholen können, hat der BGH erneut entschieden (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2024 – VI ZB 30/22):

 

Der Kläger, der an einer pharmakologischen Erstanwendungsstudie des beklagten Forschungsinstitutes an gesunden Probanden teilgenommen hat, nimmt die Beklagte wegen Aufklärungsfehlern in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld und Ersatz des Haushaltsführungsschadens abgewiesen. Ob der Kläger ordnungsgemäß aufgeklärt worden sei, bedürfe keiner Entscheidung, weil er nicht bewiesen habe, dass die Beschwerden durch das Prüfpräparat verursacht worden seien. Die Berufung hat das OLG nach vorherigem Hinweis als unzulässig verworfen. Der Kläger habe zwar die von dem Landgericht fehlerhaft verneinte Kausalität und damit auch die tragende Erwägung für den Aspekt des Aufklärungsmangels mit Erfolg angegriffen, denn der Kausalitätsnachweis zwischen der Gabe des Prüfpräparates und dem im zeitlichen Zusammenhang aufgetretenen Polyneuropathiesyndrom sei nach dem geringeren Beweismaßstab des § 287 ZPO als geführt anzusehen. Er habe aber in der Berufungsbegründung keine Ausführungen dazu gemacht, inwiefern die Rechtsverletzung des Landgerichts entscheidungserheblich gewesen sei. Hierzu habe es zumindest Ausführungen dazu bedurft, dass tatsächlich auch ein Aufklärungsmangel vorgelegen habe. Der Verweis in der Berufungsbegründung auf den erstinstanzlichen Vortrag sei nicht ausreichend, da der Kläger dort die detaillierten Ausführungen der Beklagten zur ordnungsgemäßen Aufklärung nicht erheblich bestritten habe und die Aufklärung nach dem deshalb zugestandenen Vortrag der Beklagten ordnungsgemäß erfolgt sei. Unabhängig davon könne sich die Beklagte auf eine hypothetische Einwilligung des Klägers berufen. Aus den genannten Gründen wäre die Berufung auch unbegründet. In der Stellungnahme des Klägers auf den Hinweisbeschluss fehle es an einer Auseinandersetzung mit der Auffassung des Senates, dass die Berufungsbegründung nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO entspreche.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung entgegen der Auffassung des OLG gerecht. Sie lässt hinreichend erkennen, welche Gründe der Kläger den Erwägungen des Landgerichts entgegensetzt. Der Kläger hat in seiner Berufungsbegründung gerügt, dass das Landgericht rechtsirrig einen Aufklärungsfehler sowie die Kausalität zwischen der Behandlung und dem Schaden verneint habe. Er hat den für die Klageabweisung maßgeblichen Gesichtspunkt angegriffen, dass es ihm nicht gelungen sei, die Kausalität zwischen der Behandlung und den Schäden zu beweisen. Davon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Aus der Berufungsbegründung ergibt sich, dass der Kläger Schmerzensgeld und Schadensersatzansprüche aufgrund der vermeintlich fehlerhaft durch die Beklagte durchgeführten pharmakologischen Studie geltend macht. Weiter hat er als Aufklärungsfehler geltend gemacht, dass es nur eine Gruppenaufklärung gegeben habe, bei der die Risiken bagatellisiert und die speziellen Risiken, die sich bei ihm realisiert hätten, gar nicht angesprochen worden seien. Damit wird in einer für die Zulässigkeit der Berufung hinreichend verständlichen Weise deutlich, dass der Kläger vom Berufungsgericht die Überprüfung der Auffassung des Landgerichts vom Fehlen der Kausalität und – bei deren Bejahung – die Prüfung der geltend gemachten Aufklärungsmängel durch das Berufungsgericht selbst begehrt. Es war nicht geboten, ausdrücklich noch einmal das gesamte erstinstanzliche Vorbringen zu den Voraussetzungen des verfolgten Klageanspruchs – auf das der Kläger in der Berufungsbegründung pauschal verwiesen hat – zu wiederholen und auf diese Weise die Entscheidungserheblichkeit des Berufungsangriffs darzutun. Die Entscheidungserheblichkeit ergibt sich bereits daraus, dass eine inhaltliche Prüfung der geltend gemachten Aufklärungsversäumnisse nicht erfolgt und die Klage allein mangels vermeintlich nicht feststellbarer Kausalität abgewiesen worden ist. Für die Zulässigkeit der Berufung ist ohne Bedeutung, ob diese Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Ob der Vortrag des Klägers gem. § 138 Abs. 2, 3 ZPO genügt, das Vorbringen der Beklagten zu Umfang und Inhalt der Aufklärung substantiiert zu bestreiten, ist eine Frage der Begründetheit der Berufung.

Der Kläger kann sich jedoch wegen des Grundsatzes der materiellen Subsidiarität auf die fehlerhafte Abweisung seiner Berufung als unzulässig nicht mit Erfolg berufen. Der Subsidiaritätsgrundsatz fordert, dass ein Beteiligter über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern. Dieser Grundsatz ist nicht auf das Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit beschränkt, sondern gilt auch im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren. Denn einer Revision kommt bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten auch die Funktion zu, präsumtiv erfolgreiche Verfassungsbeschwerden vermeidbar zu machen. Daher sind für ihre Beurteilung die gleichen Voraussetzungen maßgebend, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfolg einer Verfassungsbeschwerde führten. Nichts Anderes gilt für das Rechtsbeschwerdeverfahren. Gemessen daran hat es der Kläger versäumt, zu den Ausführungen des Berufungsgerichts im Hinweisbeschluss vom 21. Februar 2022, dass und weshalb die Berufungsbegründung den Vorgaben aus § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO nicht gerecht werde, Stellung zu nehmen. In der kursorischen Stellungnahme zum Hinweisbeschluss finden sich keine Ausführungen dazu, weshalb die Berufung entgegen der im Hinweisbeschluss geäußerten Ansicht des Berufungsgerichts dennoch zulässig sei. Indem der Kläger zu der angedrohten Verwerfung der Berufung nicht Stellung genommen hat, hat er die ihm eingeräumte prozessuale Möglichkeit zur Verhinderung der nunmehr mit der Rechtsbeschwerde geltend gemachten Verfahrensgrundrechtsverletzung nicht genutzt.

 

Fazit: Eine auf die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gestützte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, wenn es der Beschwerdeführer im Rahmen des vorinstanzlichen Rechtsmittels versäumt hat, eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (BGH, Beschluss vom 14. September 2021 – VI ZB 30/19 –, MDR 2022, 57).