Kein elektronischer Rechtsverkehr beim Bundesverfassungsgericht – aber bei allen anderen Gerichten

Der elektronische Rechtsverkehr scheint kurioserweise dort besonders beliebt zu sein, wo ihn das Gesetz noch nicht zugelassen hat.

Kurz vor Weihnachten sah sich das BVerfG veranlasst, durch Pressemitteilung (Nr. 84/2018 vom 7.12.2018) auf einen Beschluss hinzuweisen, in dem eine per DE-Mail eingelegte Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen wurde (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2018 – 1 BvR 2391/18; dazu Wöbbeking, CR 2019 Heft 1 R7). Der entschiedene Einzelfall gab dazu nicht unbedingt Veranlassung, denn das BVerfG sah die in Rede stehende Verfassungsbeschwerde auch wegen ausreichender Substantiierung als unzulässig an. Die im Beschluss enthaltenen Ausführungen, dass der Rechtsbehelf schon deshalb unzulässig ist, weil das Gesetz den elektronischen Rechtsverkehr beim BVerfG bislang nicht vorsieht, haben vor diesem Hintergrund eher generalpräventiven Charakter.

Anlass zu dieser Klarstellung dürfte der Umstand gegeben haben, dass das BVerfG mittlerweile das einzige deutsche Gericht ist, bei dem der elektronische Rechtsverkehr nicht eröffnet ist. Bei allen anderen Gerichten sind elektronische Einreichungen seit gut einem Jahr zulässig. Rechtsanwälten steht mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA; dazu etwa Bacher MDR 2017, 613) hierfür ein besonders sicherer Kommunikationsweg zur Verfügung.

Allerdings ist die Zahl der elektronischen Eingänge bei den meisten Gerichten bislang eher gering. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die Angst vor technischen Komplikationen und dadurch verursachten Fristversäumnissen sein. Dass diese Gefahr besteht, belegt der Umstand, dass seit Inkrafttreten der neuen Regeln bereits drei oberste Gerichtshöfe des Bundes elektronische Einreichungen wegen Verwendung einer sog. Containersignatur als unwirksam angesehen haben (BSG, Beschl. v. 9.5.2018 – B 12 KR 26/18 B, NJW 2018, 2222; BAG, Beschl. v. 15.8.2018 – 2 AZN 269/18, MDR 2018, 1519; BVerwG, Beschl. v. 7.9.2018 – 2 WDB 3/18, NVwZ 2018, 1880). Diese Risiken dürften aber weitaus geringer wiegen als das Risiko, dass eine kurz vor Fristablauf begonnene Übermittlung per Telefax scheitert. Bezeichnenderweise gewährten das BSG und das BVerwG in den zitierten Entscheidungen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, und das BAG ließ die Frage nur deshalb offen, weil es das Rechtsmittel aus anderen Gründen als unzulässig ansah. Bei missglückten Übermittlungsversuchen per Telefax ist die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hingegen fast die Regel (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 67/17, MDR 2019, 82 [Bacher]).

Die formellen Anforderungen an elektronisch übermittelte Schriftsätze ergeben sich aus der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr (ERVV, dazu Bacher, MDR 2019, 1). Um sie einzuhalten – und um im Falle eines Fehlers Aussicht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu haben – bedarf es in der Anwaltskanzlei einiger organisatorischer Vorkehrungen (näher dazu Bacher in: Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 11. Aufl. 2019, Kapitel 28 Rn. 72 ff.). Der Aufwand dafür dürfte sich aber in überschaubaren Grenzen halten und durch die zusätzliche Sicherheit im Vergleich zum Telefaxversand mehr als aufgewogen werden.

Praxistipp: Auch wenn dies beim Versand aus dem beA nicht mehr zwingend erforderlich ist, sollte jeder elektronische Schriftsatz mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen werden.

BGH: Kostenerstattung im Befangenheitsverfahren

Im Rahmen einer Erbstreitigkeit erstattete ein Sachverständiger ein Gutachten zur Testierfähigkeit der Erblasserin. Die Kläger lehnten den Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Die Beklagten nahmen Stellung. Das LG wies den Befangenheitsantrag zurück. Die von den Klägern gegen diesen Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde wies das OLG zurück und legte den Klägern die Kosten des sofortigen Beschwerdeverfahrens auf.

Im Rahmen des Rechtsbeschwerdeverfahrens bezüglich des anschließenden Kostenfestsetzungsverfahrens stellte sich jetzt die Frage, ob die Beklagten von den Klägern die ihnen im sofortigen Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten erstattet verlangen können. Dies ist nach Auffassung des BGH (Beschl. v. 7.11.2018 – IV ZB 13/18, MDR 2019, 189) der Fall.

Das Ablehnungsverfahren bezüglich Richter und Sachverständige gehört für den Rechtsanwalt gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 RVG zur Instanz. Im sofortigen Beschwerdeverfahren entsteht jedoch eine 0,5 Verfahrensgebühr nach Nr. 3500 VV RVG. Dies ist noch klar. Es wird allerdings darüber diskutiert, ob diese Gebühr zu den erstattungsfähigen notwendigen Kosten des Rechtsstreites zählt (§ 97, § 91 ZPO). Teilweise wird dies nur bejaht, wenn sich die Gegenpartei am sofortigen Beschwerdeverfahren auch tatsächlich beteiligt hatte. Der BGH geht hingegen – mit der h. M. – davon aus, dass grundsätzlich ein Erstattungsanspruch besteht. Für die Richterablehnung wurde dies bereits in einer Grundsatzentscheidung bejaht (Beschl. v. 6.4.2005 – V ZB 25/04, MDR 2005, 1016). Diese Entscheidung ist auf die hier vorliegende Fallgestaltung übertragbar. Das Befangenheitsverfahen berührt nicht nur die Interessen der ablehnenden Partei. Vielmehr kann auch der Gegner ein berechtigtes Interesse daran haben, dass die Feststellungen des Sachverständigen bestehen bleiben.

Der Umstand, dass bei einer erfolgreichen sofortigen Beschwerde umgekehrt kein Kostenerstattungsanspruch besteht, ändert daran nichts. Ob ein Rechtsanwalt die von ihm vertretene Partei darauf hinweisen muss, dass bei einer Vertretung im Rechtbeschwerdeverfahren gesonderte Gebühren entstehen (was wohl eher zu verneinen ist), ist eine Frage, die im hiesigen Zusammenhang der Kostenerstattung nicht relevant ist.

Der Anfall der Gebühr setzt im Übrigen lediglich eine Beauftragung für die Beschwerdeinstanz voraus. Davon ist regelmäßig auszugehen, wenn der Rechtsanwalt die Partei auch im Ausgangsverfahren vertritt. Die Entgegennahme der Beschwerdeschrift ist dabei ausreichend. Es ist nicht erforderlich, dass der Rechtsanwalt auch Stellung nimmt. Es kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass der Rechtsanwalt nach der Entgegennahme der Beschwerdeschrift prüft, ob nunmehr etwas veranlasst werden muss, insbesondere ob eine Stellungnahme abgegeben werden muss oder nicht.

Für die Praxis ist diese Rechtsfrage nunmehr verbindlich entschieden: Die außergerichtlichen Kosten der Gegenpartei des erfolglosen Beschwerdeführers im Verfahren über die Ablehnung eines Sachverständigen gemäß § 406 ZPO gehören zu den erstattungsfähigen notwendigen Kosten des Rechtsstreits im Sinne von § 91 Abs. 1 1 i.V.m. § 97 Abs. 1 ZPO.

Keine Spezialzuständigkeit nach § 72a S. 1 Nr. 4 GVG bei Streitigkeit aus Versicherungsagenturvertrag

Nach § 72a S. 1 Nr. 4 GVG sind für Streitigkeiten aus Versicherungsvertragsverhältnissen bei den Landgerichten Spezialkammern einzurichten. Das OLG München hat entschieden, dass eine Streitigkeit aus einem Versicherungsagenturvertrag dieser Spezialkammer nicht zuzuordnen ist (Beschl. v. 07.02.2019 – 34 AR 114/18). Zwar ergebe sich aus der Gesetzeshistorie, dass § 72a S. 1 Nr. 4 GVG (entsprechend § 348 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. h ZPO) Streitigkeiten über Ansprüche aus Versicherungsverhältnissen zwischen dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Bezugsberechtigten einerseits und dem Versicherer anderseits und – nach dem Willen des Gesetzgebers – daneben, wegen der Sachnähe, auch Streitigkeiten aus Versicherungsvermittlung und -beratung i.S.d. § 59 VVG umfasse. Ein Versicherungsagenturvertrag unterfalle dieser Regelung jedoch nicht. Eine uferlose Ausdehnung der Regelung würde die Gefahr mit sich bringen, dass die mit ihrer Einführung von dem Gesetzgeber erhofften Spezialisierungseffekte wieder zunichte gemacht werden würden. Dass auch Fragestellungen versicherungsvertraglicher Art von Bedeutung sein können, könne allein die Anwendung des § 72a S. 1 Nr. 4 GVG noch nicht rechtfertigen.

Zuständigkeit für die Entscheidung über die Anhörungsrüge

Vorschlag von Gravenhorst

Im Reportteil der MDR 2/2019 (S. R6 f.) führt Gravenhorst aus, es sei verfehlt, dass der iudex a quo, dessen Entscheidung angegriffen wird, selbst zur Entscheidung über die Anhörungsrüge berufen sei, dies überschätze die Bereitschaft der Richter, einen begangenen Verfassungsverstoß einzuräumen. Nur für die Pannenfälle (z.B. Einordnung eines Schriftsatzes in einer falschen Akte durch die Geschäftsstelle) sei praktisch regelmäßig mit einer Selbstabhilfe zu rechnen. Da in der näheren Zukunft nicht mit einer Lösung durch den Gesetzgeber zu rechnen sei, schlägt Gravenhorst eine Lösung durch die Geschäftsverteilungspläne vor. Es „dürften keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken dagegen bestehen, dass das Präsidium eines Gerichts im jährlichen Geschäftsverteilungsplan … [festlege], dass Anhörungsrügen zunächst durchaus beim iudex a quo anlanden, er sie aber nicht zurückweisen, sondern [ihnen] nur stattgeben“ könne. Komme es nicht zu einer Abhilfeentscheidung, sei dann der Spruchkörper, dem der Gerichtspräsident bzw. -direktor angehört, zur Entscheidung berufen, im Fall einer Stattgabe solle das Verfahren zwingend vor einem anderen Spruchkörper nach Maßgabe des Geschäftsverteilungsplans fortgeführt werden.

Gesetzgeberische Entscheidung

Diesem Vorschlag ist, auch wenn sein Grundanliegen durchaus anerkennenswert ist, zu widersprechen. Ein Blick in die Gesetzgebungsmaterialien zeigt, dass der Gesetzgeber sich bewusst für eine Zuständigkeit des iudex a quo entschieden hat. So heißt es in der Regierungsbegründung des Entwurfs zum Anhörungsrügengesetz (BR-Drucks. 663/04, S. 32), die Anhörungsrüge orientiere sich am Modell des bisherigen § 321a ZPO; nach dessen Vorbild sei die Rüge beim iudex a quo zu erheben, bei erfolgreicher Rüge sei das Verfahren in der Lage fortzusetzen, in der es sich vor der mit der Anhörungsrüge angefochtenen Entscheidung befand. Zu § 321a ZPO a.F. war aber allgemein anerkannt, dass er eine Selbstkontrolle durch den iudex a quo selbst vorsieht (vgl. z.B. Reichold, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 321a Rn. 1). Explizit wird die Zuständigkeit des Ausgangsgerichts – auch – damit begründet, dass durch die Zuständigkeit des mit dem Verfahren vertrauten Ausgangsgerichts keine Verzögerung zu erwarten sei (BR-Drucks. 663/04, S. 33). Im Rahmen der zweiten Lesung im Bundestag führte MdB Manzewski für die SPD (und damit für die Regierungskoalition, mit deren Stimmenmehrheit – neben Oppositionsstimmen – das Gesetz letztendlich beschlossen wurde) aus, der Beschluss halte sich eng an die Vorgaben des nach dem BVerfG zwingend Erforderlichen (die eine Entscheidung durch den Ausgangsrichter explizit zugelassen hatten); die Rüge sei bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat (BT-Plenarprotokoll 15/135 v. 28.10.2004, S. 12430). Mit der Paktentheorie (vgl. dazu z.B. Bydlinski/Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl. 2018, S. 41 ff.) ist der Wille des historischen Gesetzgebers dahingehend zu konstruieren, dass er sich die Begründung und die Äußerungen der Mehrheitskoalition zu eigen gemacht hat, soweit sich keine entgegenstehenden Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren finden lassen.

Gerade dass die Frage, ob die Zuständigkeit des Ausgangsrichters sachgerecht ist, noch vor der zweiten Lesung, in der noch einmal inhaltlich über den Entwurf diskutiert wurde, bereits auf dem Deutschen Juristentag behandelt (und verneint) worden war (vgl. Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages 2004 in Bonn, 2004, Band II/2, S. M212, Antrag 7.1 und die Diskussionsbeiträge von Gravenhorst, Graßhof und Nassall, ebendort S. M 161, M163 f. und M 166 f. sowie Äußerungen in den Gutachten von Huber und Gottwald, ebendort Band I, S. A 22 und A 112), zeigt, dass die Problematik dem Gesetzgeber bei Verabschiedung des Gesetzes bewusst war. Und selbst, wenn man den Gesetzgebungsmaterialien, weil sie nicht in Gesetzeskraft erwachsen (vgl. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 3. Aufl. 2014, S. 144 ff.), keinerlei Einfluss auf die Auslegung zubilligen wollte (was in dieser Rigorosität nur selten vertreten wird – auch die größten Anhänger einer objektiven Theorie der Gesetzesauslegung wollen ja nicht der historischen Auslegung jede Bedeutung absprechen), spräche eine systematische Auslegung immer noch gegen die Annahme, dass das Gesetz nicht den iudex a quo zur Entscheidung bestellt wissen wollte, wenn man sich vor Augen führt, dass in anderen Fällen, in denen nicht der ursprüngliche Spruchkörper die Entscheidung trifft, das im Gesetz explizit geregelt ist (vgl. z.B. § 45, § 563 Abs. 1 ZPO).

Bindung des Rechtsanwenders an die gesetzgeberische Interessenabwägung

An die Entscheidung des Gesetzgebers für die Zuständigkeit des iudex a quo ist die Justiz grundsätzlich gebunden, und zwar nicht nur der Richter, sondern selbstverständlich auch das Präsidium bei der Gestaltung des Geschäftsverteilungsplans. Aufgabe des Rechtsanwenders in der Justiz ist es, dem Willen des Gesetzgebers in denkendem Gehorsam zum Durchbruch zu verhelfen. An Wertentscheidungen des Gesetzgebers ist das Gericht – Spruchrichter wie Präsidium – grundsätzlich gebunden. Allein, dass der Rechtsanwender eine andere Regelung für vorzugswürdig hält, genügt dafür nicht: Vermeintlich bessere Einsicht reicht nicht aus, um die Gewaltenteilung dahingehend auszuhebeln, dass gesetzgeberische Entscheidungen unbeachtlich werden. Und das gilt sogar, wenn es sich bei der „vermeintlich besseren Einsicht“ um tatsächlich bessere Einsicht handelt, was im konkreten Fall durchaus denkbar ist: Dass die Entscheidung durch denjenigen, der die angegriffene Entscheidung erlassen hat, in vielen Fällen nicht zu einer ergebnisoffenen Prüfung führen wird, ist ja schwerlich zu bestreiten.

Keine planwidrige Regelungslücke als Voraussetzung einer Rechtsfortbildung

Raum für eine Abweichung vom ersichtlichen Willen des Gesetzgebers ist erst dort, wo die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen. Eine planwidrige Regelungslücke hat Gravenhorst aber nicht dargelegt. Sie besteht auch nicht, hat sich doch der Gesetzgeber für die abschließende Zuständigkeit des iudex a quo entschieden. Man mag die zugrundeliegende Interessenabwägung zwischen Kostengesichtspunkten (die Zuständigkeit des Ausgangsrichters ist diejenige, die der Justiz am wenigsten Kosten verursacht) und Rechtsschutzgewährleistung kritisieren. Aber das ändert nichts daran, dass zuständig für die Korrektur dieser Interessenabwägung allein der Gesetzgeber oder hilfsweise, wenn die jetzige Regelung sogar verfassungswidrig wäre, das BVerfG ist. Eine eigenmächtige Gesetzeskorrektur durch die Gerichtspräsidien, nur weil sie – mit Gründen, die sich durchaus hören lassen –, die Abwägung anders getroffen hätten, ist jedenfalls nicht zulässig.

 

Höchstgerichte zwischen Rechtsschutzgewährleistung und Rechtsfortbildung – Schwerpunkt der neuen Ausgabe der „Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht (GVRZ)”

Höchstgerichten kommt eine kaum zu überschätzende Rolle zu, wenn es darum geht, Recht zu sprechen, fortzubilden, Rechtsfrieden zu schaffen und dadurch Rechtssicherheit und -klarheit zu bewahren oder überhaupt erst herzustellen. Die Bedeutung höchstrichterlicher Entscheidungen reicht häufig über den Einzelfall hinaus – sie werden rechtsgebietsübergreifend in vielfältiger Weise rezipiert. „Höchstgerichte zwischen Rechtsschutzgewährleistung und Rechtsfortbildung“ war das Thema der 4. Tagung junger ProzessrechtswissenschaftlerInnen im September 2018 in Wien, deren Beiträge nun Eingang in die vorliegende „Wiener Ausgabe“ gefunden haben.

Die Abhandlungen gruppieren sich zum ersten auf europäischer Ebene: Die im Spannungsfeld zwischen EuGH und den nationalen Höchstgerichten – mit ihren je unterschiedlichen Ausgangspositionen und Interessenlagen – stattfindende unionsrechtliche Rechtsfortbildung sieht PD Dr. Attila Vincze im Wechselspiel zwischen Mythos und Realität. Dr. Sina Fontana stellt am Beispiel des europäischen Asylsystems methodische Erwägungen zur Doppelrolle des EuGH bei Rechtsschutzgewährleistung und Rechtsfortbildung an, mit der der EuGH sich zwischen rechtspolitischen Impulsen und Stärkung der Rechtsdogmatik bewege. Der europäischen Entwicklungen im kollektiven Rechtsschutz nehmen sich Lukas Klever und Sebastian Schwamberger an, die damit die Hoffnung auf ein europäisches kollektives Rechtsschutzinstrument und wirkungsvolle nationale Umsetzungen verbinden.

Eine zweite Gruppe an Beiträgen widmet sich dem Widerstreit um die Zulassung(-sbeschränkungen) an die Höchstgerichte: Ass.-Prof. Dr. Nina Marlene Schallmoser geht den Rechtsprechungslinien des österreichischen Obersten Gerichtshofs auf dem Weg zu einem ausdehnenden, in anderen Bereichen zugleich einschränkenden Verständnis des strafrechtlichen Rechtsmittel- bzw. Rechtsbehelfsrechts nach. Einen besonderen dieser Rechtsbehelfe, die „Wahrungsbeschwerde“, untersucht Dr. Martin Stricker auf seine Bedeutung für Einzelfallgerechtigkeit und Systembildung. Lukas Hussmann blickt in die Schweiz und findet am dortigen Bundesgericht Beispiele für gelebte Transparenz zivilgerichtlicher Entscheidungsfindung, die trotz Beratungsgeheimnis und (noch) ohne dissenting opinions erreicht wird. Der öffentlichen Wahrnehmung gerichtlicher Verhandlungen nimmt sich auch Christian Trentmann an, der die neuen gesetzlichen Vorschriften zur Medienöffentlichkeit an deutschen obersten Bundesgerichten einer Analyse und Kritik unterzieht. Möglichen tektonischen Verschiebungen im Gefüge des österreichischen Grundrechtsschutzes durch den Parteiantrag auf Normenkontrolle („Gesetzesbeschwerde“) zum Verfassungsgerichtshof spürt schließlich Lukas Reiter nach. Abschließend bietet Prof. Dr. Olaf Muthorst eine Literaturdokumentation aktueller Beiträge zum Verfahrensrecht.

Im Sommer 2019 wird das Folgeheft erscheinen und sich neben den Höchstgerichten und ihrer Rolle in der Rechtsordnung auch weiteren aktuellen Fragen des Zivil-, Verwaltungs- und Strafverfahrensrechts widmen. Die GVRZ ist als Online-Zeitschrift über das juris-Zusatzmodul Hochschulen verfügbar.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um zwei äußerst unterschiedliche, aber wohl gleichermaßen praxisrelevante Fragen geht es in dieser Woche.

Rechtskraftwirkung zwischen Gesamtschuldnern
Urteil vom 20. November 2018 – VI ZR 394/17

Mit den subjektiven Grenzen der Rechtskraft befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der damals 13 Jahre alte Beklagte befand sich im Jahr 2006 wegen Verhaltensauffälligkeiten in stationärer Behandlung in einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Während eines Ferienaufenthalts seiner Therapiegruppe vergewaltigte er einen ebenfalls minderjährigen Mitpatienten. In einem ersten Rechtsstreit wurden der Beklagte und die Betreiberin der Klinik antragsgemäß als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 4.000 Euro an den Geschädigten verurteilt. Der Haftpflichtversicherer der Klinikbetreiberin zahlte das Schmerzensgeld und nahm den Beklagten im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs auf vollständigen Regress in Anspruch. Das AG wies die Klage ab, das LG verurteilte den Beklagten antragsgemäß.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz entfaltet das Urteil aus dem ersten Rechtsstreit im Verhältnis zwischen den damaligen Beklagten keine Rechtskraftwirkung. Wenn ein Kläger mehrere Personen gemeinsam verklagt und diese – wie insbesondere im Falle der Inanspruchnahme als Gesamtschuldner – nur einfache Streitgenossen sind, kann Rechtskraftwirkung nur innerhalb der einzelnen Prozessverhältnisse entstehen, also nur zwischen dem Kläger und dem jeweiligen Beklagten, nicht aber im Verhältnis der beiden Beklagten untereinander. Das LG muss nach Zurückverweisung deshalb klären, ob der Beklagte entsprechend seinem nunmehrigen Vorbringen im Zeitpunkt der Tat schuldunfähig war.

Praxistipp: Jeder Gesamtschuldner kann eine weitergehende Bindungswirkung herbeiführen, indem er im ersten Rechtsstreit den jeweils anderen Gesamtschuldnern den Streit verkündet.

Keine abstrakte Nutzungsausfallentschädigung bei gewerblich genutzten Fahrzeugen
Urteil vom 6. Dezember 2018 – VII ZR 285/17

Eine seit langem diskutierte Frage entscheidet der VII. Zivilsenat.

Der Kläger, der ein Beton- und Natursteinwerk betreibt, hatte einen betrieblich genutzten Lkw in der Werkstatt des Beklagten reparieren lassen. Wegen mangelhafter Durchführung der Reparatur entstand ein Motorschaden, der einen weiteren Werkstattaufenthalt erforderlich machte. Der Kläger konnte das Fahrzeug über einen Zeitraum von vierzehn Monaten (!) hinweg nicht nutzen. Ungefähr für die Hälfte der Zeit stand ihm ein Ersatzfahrzeug zur Verfügung. Die auf Zahlung einer Nutzungsausfallentschädigung in Höhe von rund 10.000 Euro für die gesamten vierzehn Monate gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Die Revision des Klägers, mit der er seinen Anspruch nur noch für die sieben Monate ohne Ersatzfahrzeug weiterverfolgte, hat ebenfalls keinen Erfolg. Der vorübergehende Entzug der Gebrauchsmöglichkeit eines ausschließlich gewerblich genutzten Fahrzeugs kann zwar einen Schaden darstellen, wenn der Ausfall mit einer fühlbaren wirtschaftlichen Beeinträchtigung einhergeht. Dem Geschädigten steht aber nur dann ein Ersatzanspruch in Geld zu, wenn er ein Ersatzfahrzeug anmietet, wenn er den Verlust durch Rückgriff auf ein Reservefahrzeug auffängt oder wenn der Verlust zu einer sonstigen Vermögensminderung geführt hat. Anders als bei privat genutzten Fahrzeugen darf der Schaden hingegen nicht abstrakt anhand einer pauschalierten Nutzungsausfallentschädigung berechnet werden.

Praxistipp: Wenn weder ein Ersatzfahrzeug angemietet noch ein Reservefahrzeug eingesetzt wird, ist es empfehlenswert, alle aufgrund des Ausfalls entstandenen Mehraufwendungen, etwa für die Beauftragung Dritter oder für den Einsatz anderer Geräte oder Arbeitskräfte, zeitnah zu dokumentieren.

Verlag Dr. Otto Schmidt bringt neue „Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht (GVRZ)“ heraus

Der Verlag Dr. Otto Schmidt hat sein Programm um eine Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht (GVRZ) erweitert. Im Fokus der GVRZ steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Prozessrechts der großen Teilbereiche des Öffentlichen Rechts, Strafrechts und Zivilrechts. Die Online-Zeitschrift erscheint 2-mal jährlich und ist über das juris Zusatzmodul Hochschulen verfügbar.

Die rechtswissenschaftliche Forschung beschränkt sich ganz überwiegend auf ihr jeweiliges Fachgebiet. Intradisziplinäre Auseinandersetzungen finden demgegenüber selten, wenn auch in zunehmendem Maße statt. Dabei sind alle oder zumindest mehrere Verfahrensordnungen vielen Herausforderungen gleichermaßen ausgesetzt, so dass ein Blick auf die Lösung des anderen Rechtsgebiets oder gar gleich die verfahrensrechtsübergreifende Betrachtung lohnt. Dementsprechend stellt die Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht (GVRZ) den Dialog zwischen den mittlerweile nahezu ausschließlich in den jeweiligen Fachsäulen verankerten Prozessrechtswissenschaftlern her.

Entsprechend diesem Anliegen haben Organisatoren/-innen der bisherigen Jahrestagungen der jungen Prozessrechtswissenschaftler die Herausgeberschaft der Zeitschrift übernommen. Das Öffentliche Recht wird von Prof. Dr. Birgit Peters und Dr. Ralph Zimmermann vertreten, für das Strafrecht sind Prof. Dr. Anna H. Albrecht, Prof. Dr. Paul Krell und PD Dr. Anne Schneider zuständig, und der Bereich des Zivilrechts wird von PD Dr. Daniel Effer-Uhe, Prof. Dr. Olaf Muthorst, Prof. Dr. Jens Prütting und Dr. Dominik Schäfers abgedeckt.

Die ersten Veröffentlichungen der GVRZ sind seit Oktober 2018 verfügbar. Folgende Beiträge bilden den Auftakt: Prof. Dr. Reimer zeigt die Relevanz des Verfahrens für die Rechtswissenschaften auf. Prof. Dr. Popp liefert einen Beitrag zur Theorie des Strafverfahrens und der Verfahrenswissenschaft. Prof. Dr. Heiderhoff erläutert, wie allgemeine verfahrensrechtliche Erwägungen über den Instanzenzug für das Familienverfahrensrecht fruchtbar gemacht werden können, und PD Dr. Effer-Uhe widmet sich der fachsäulenübergreifenden Frage des digitalen Verfahrens. Einem ähnlichen säulenübergreifenden, verfahrensrechtlichen Thema widmet sich Dr. Korves mit seinem Beitrag über die Zwecke von Formularzwängen. Mit Beweisverboten im Arbeitsrecht und Strafrecht nach der Videoüberwachung von Arbeitnehmern befasst sich Prof. Dr. Mitsch Hüttmann beschäftigt sich mit dem Bayes-Theorem und damit einer Grundlagenfrage der Beweiswürdigung, die in jedem Rechtsgebiet relevant werden kann. Die Beitragsauswahl endet rechtsvergleichend mit einem Blick auf Polen, der sich der polnischen Umsetzung der Vorgaben des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zur überlangen Verfahrensdauer widmet (Dr. Łukańko und Zboralska). Ergänzt werden die Aufsätze durch umfassende Entscheidungsanmerkungen (Dr. Walser), eine Übersicht relevanter, verfahrensrechtlicher Literatur (Prof. Dr. Muthorst) sowie durch die Rezension einer Neuerscheinung zu gebietsübergreifend relevanten Fragen der Beweiswürdigung (Mohnert).

Weitere Informationen zur Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht (GVRZ) finden Sie hier: www.otto-schmidt.de/gvrz