Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Übergehen eines Beweisangebots.

Erheblichkeit eines Beweisangebots
BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Der VI. Zivilsenat hebt ein OLG-Urteil wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auf. 

Der im Jahr 2007 geborene Kläger verlangt von den Beklagten – einem Klinikum und einer dort tätigen Hebamme – Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro zugesprochen und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller weiteren Schäden festgestellt.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das OLG zurück. 

Das OLG hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es von der Vernehmung von drei behandelnden Ärzten abgesehen hat. Die Beklagten haben die Zeugen zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Mutter des Klägers erst beim Hinzutreten der Ärzte von einer zu Hause aufgetretenen vaginalen Blutung berichtet habe, nicht hingegen schon bei der Aufnahme durch die beklagte Hebamme. Wenn die unter Beweis gestellte Behauptung zutrifft, kann der Hebamme nicht vorgeworden werden, die Ärzte zu spät hinzugezogen zu haben. 

Praxistipp: Lässt das Berufungsgericht schon in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erkennen, dass es bestimmte Beweisangebote nicht berücksichtigen wird, muss dies noch in der Berufungsinstanz gerügt werden, und zwar innerhalb der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine auf diesen Gesichtspunkt gestützte Nichtzulassungsbeschwerde schon aus Gründen der Subsidiarität erfolglos bleibt.

Anwaltsblog: Wann ist eine „Rubrumsberichtigung“ auf Beklagtenseite zulässig?

Mit der Abgrenzung zwischen einer – im Gesetz nicht geregelten – „Rubrumsberichtigung“ und einem für den Kläger mit Kosten belasteten Parteiwechsel hatte sich der XII. Zivilsenat des BGH auseinanderzusetzen:
Der Kläger hat mit seiner – laut Bezeichnung in der Klageschrift – gegen die „Autohaus P. A. GmbH & Co KG“ gerichteten Klage diese auf Räumung des Pachtobjekts verklagt. Der als Anlage beigefügte Pachtvertrag weist P. A. – den Geschäftsführer der Komplementärin der KG – als Pächter aus. Nachdem das Landgericht hat auf Antrag des Klägers durch Beschluss eine „Berichtigung“ des Rubrums auf der Beklagtenseite vorgenommen und darin P. A. als Beklagten bezeichnet hatte, hat es diesen durch Urteil zur Räumung verurteilt. Das OLG hat die Berufung des Beklagten verworfen. Er zeige nicht auf, aufgrund welchen Fehlers das Urteil gegen ihn zu Unrecht ergangen sein solle. Es werde zwar beanstandet, dass das Landgericht verfahrensfehlerhaft lediglich das Passivrubrum berichtigt habe, anstatt eine prozessordnungsgemäße Klageänderung mit Rücknahme der Klage gegenüber der ursprünglich beklagten KG in Verbindung mit der Erhebung einer neuen Klage gegenüber dem Beklagten vorzunehmen. Es sei allerdings die Entscheidungserheblichkeit dieses Verfahrensfehlers nicht dargelegt. Die Verwerfung der Berufung wird vom BGH gebilligt. Die von dem Beklagten ausdrücklich beanstandete „Rubrumsberichtigung“ genügt zur Berufungsbegründung nicht. Bei einer „Rubrumsberichtigung“ vor Urteilserlass handelt es sich um einen im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Beschluss, mit dem das Gericht im Bedarfsfall seine Auffassung darüber mitteilt, wen es aufgrund der von ihm vorgenommenen Auslegung der Klageschrift als Partei ansieht. Ein solcher, vor Urteilserlass ergangener „Berichtigungsbeschluss“ ist kein Fall des § 319 Abs. 1 ZPO, weil nach dieser Vorschrift nur solche offenbaren Unrichtigkeiten berichtigungsfähig sind, die in dem Urteil selbst enthalten sind. Vielmehr handelt es sich um eine in Beschlussform gehaltene prozessleitende Verfügung des Gerichts, die keine Bindungswirkung entfaltet und jederzeit abgeändert werden kann. Wer diejenige Person ist, die durch die Parteibezeichnung als „Beklagter“ in der Klageschrift betroffen werden soll, ist vom Gericht durch eine frei vorzunehmende Auslegung der in der Klageschrift zum Ausdruck gekommenen prozessualen Willenserklärung zu klären. Bei der Auslegung dieser Prozesserklärung ist nicht nur die im Rubrum der Klageschrift gewählte äußere Bezeichnung der Partei, sondern auch der gesamte Inhalt der Klageschrift einschließlich etwaiger beigefügter Anlagen zu berücksichtigen. Entsprechend dem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ darf die Klageerhebung gegen die in Wahrheit gemeinte Partei nicht aufgrund einer objektiv unrichtigen oder mehrdeutigen Parteibezeichnung in der Klageschrift scheitern, solange nur aus deren Inhalt und ihren Anlagen sowie den weiter zu berücksichtigenden Umständen deutlich wird, welche Person tatsächlich von der Parteibezeichnung in der Klageschrift betroffen werden soll. Von der fehlerhaften Parteibezeichnung zu unterscheiden ist die irrtümliche Benennung einer am materiell-rechtlichen Rechtsverhältnis nicht beteiligten Person als Partei. Erlässt das Gericht nach einer fehlerhaften Auslegung der Klageschrift ein Sachurteil gegen eine Person, die von der Parteibezeichnung in der Klageschrift tatsächlich nicht betroffen ist und mit der ein Prozessrechtsverhältnis nicht bestanden hat („Scheinbeklagter“), kann sich diese bis zur Feststellung, nicht verklagt worden zu sein, am weiteren Rechtsstreit beteiligen und insbesondere den Rechtsbehelf ergreifen, der zur Beseitigung des gegen sie ergangenen Titels vorgesehen ist. Ein gegen den Scheinbeklagten ergangenes Sachurteil muss durch das Berufungsgericht aufgehoben und die Sache an das vorinstanzliche Gericht zurückverwiesen werden, um dort die bislang unterbliebene Sachentscheidung gegenüber dem in Wahrheit gemeinten Beklagten herbeizuführen.
(BGH, Beschluss vom 5. Juli 2023 – XII ZB 539/22 – MDR 2023, 1202)

Fazit: Für die Zulässigkeit einer Rubrumsberichtigung kommt es darauf an, ob mit ihr die Identität gewahrt bleibt oder es sich in Wirklichkeit um einen Parteiwechsel handelt (Feskorn in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 319 Rn. 19). Zur Auslegung der Parteibezeichnung ist der gesamte Inhalt der Klageschrift einschließlich Anlagen zu berücksichtigen. Wird daraus unzweifelhaft deutlich, welche Partei wirklich gemeint ist, so steht der entsprechenden Auslegung auch nicht entgegen, dass der Kläger irrtümlich die Bezeichnung einer tatsächlich existierenden, am materiellen Rechtsverhältnis nicht beteiligten Person gewählt hat.

Blog powered by Zöller: Video-Novelle – kein Selbstläufer

Bei der 1. Lesung des Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik im Gerichtsverfahren (BT-Drucks. 20/8095) hat sich gezeigt, dass dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch heiße Debatten in den Ausschüssen bevorstehen.

Für die Unionsfraktion erachtete der Abgeordnete Martin Plum es als unvereinbar mit dem Prozessleitungsermessen des Gerichts, dass es seine Entscheidung, entgegen einem Antrag der Parteivertreter in Präsenz zu verhandeln, trotz Unanfechtbarkeit mit einer besonderen Begründung versehen muss. Kritik übte er auch daran, dass Richter künftig die Sitzungen vom „heimischen Sofa“ aus leiten können; dies entspreche nicht der Rolle der Gerichte als „Zentren unseres Rechtsstaats“. Statt „digitale Leuchtturmprojekte“ zu schaffen, müsse zuerst für eine ausreichende digitale Grundausstattung der Gerichte in der Fläche gesorgt werden.

Die Abgeordnete Luiza Licina-Bode (SPD) befürwortete den Entwurf im Grundsatz, wies aber darauf hin, dass besonders in „sensiblen Verfahren“ die persönliche Anwesenheit der Parteien von großer Bedeutung ist, und sprach sich dafür aus, die Interessenlagen in den Ausschussberatungen noch einmal genau anzuschauen und zusammenzuführen.

In dieselbe Richtung argumentierte Susanne Hennig-Wellsow (Die Linke). In hochsensiblen Lebensbereichen müsse die Präsenzverhandlung weiterhin das übliche Verfahren bleiben. Gegen eine vollvirtuelle Verhandlung brachte sie vor, im Namen des Volkes Recht zu sprechen, erfordere den öffentlichen Raum, also den Gerichtssaal als Ort des Geschehens.

Für die AfD-Fraktion erklärte Fabian Jacobi, es müsse grundsätzlich dabei bleiben, dass das Gericht dem rechtsuchenden Bürger als Person gegenübertritt. Es dürfe nicht dahin kommen, dass er „bei der Verhandlung über für ihn womöglich existenzielle Angelegenheiten auf eine Videokachel auf einem Bildschirm reduziert wird“. An der Möglichkeit, gegen eine entsprechende richterliche Anordnung des Richters Einspruch zu erheben, könne er sich gehindert sehen, um den Richter nicht gegen sich einzunehmen.

Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) monierte, dass der Entwurf nicht weit genug geht. Um unnötigen Aufwand zu reduzieren, zu schnelleren Prozessen zu kommen, die Daseinsvorsorge in der Fläche zu gewährleisten und die Qualität der Rechtspflege zu sichern, müsse man sich wesentlich mehr einfallen lassen. Dazu werde die Fraktion in den Ausschüssen konkrete Vorschläge unterbreiten.

Aus mehreren Redebeiträgen wurde deutlich, dass es zu einer Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss kommen wird. Mit welchem Inhalt das Gesetz den Bundestag eines Tages verlassen wird, ist nicht absehbar. Daher kann die Anfang Dezember erscheinende 35. Auflage des Zöller für den Moment nur Ausblicke auf das künftige Recht geben und es noch nicht in seiner Endfassung kommentieren. Dies wird jedoch in der Online-Version des Kommentars zeitnah geschehen, auf die jeder Erwerber der Printauflage freien Zugriff hat. Das sind gute Aussichten!

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Der Zöller ist das Standardwerk zur ZPO und ein Muss für jeden Prozessualisten. Die Autoren des Zöller informieren im „Blog powered by Zöller“ regelmäßig über einschlägige Gesetzesentwicklungen und aktuelle Rechtsprechung.

Anwaltsblog: Wie muss die Ausgangskontrolle bei Versendung fristgebundener Schriftsätze per beA organisiert sein?

Wieder einmal hatte der BGH Anlass, in einem Wiedereinsetzungsverfahren die Voraussetzungen an die Kanzleiorganisation und insbesondere an die Postausgangskontrolle bei Versendung fristgebundener Schriftsätze per beA zusammenzufassen:
Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Unerlässlich ist die Überprüfung des Versandvorgangs. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erteilt worden ist. Diese Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war. Bleibt sie dagegen aus, muss dies den Rechtsanwalt zur Überprüfung und gegebenenfalls erneuten Übermittlung veranlassen. Der Rechtsanwalt darf nicht von einer erfolgreichen Übermittlung eines Schriftsatzes per beA an das Gericht ausgehen, wenn in der Eingangsbestätigung im Abschnitt „Zusammenfassung Prüfprotokoll“ nicht als Meldetext „request executed“ und unter dem Unterpunkt „Übermittlungsstatus“ nicht die Meldung „erfolgreich“ angezeigt wird. Es fällt deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren.
Die Wiedereinsetzung gegen den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist begehrende Klägerin hat lediglich allgemein behauptet, in der Kanzlei ihres Prozessbevollmächtigten bestehe im Zusammenhang mit der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze die Anweisung, am Ende eines jeden Arbeitstages die Fristenliste mit den erfolgreichen „beA-Versandprotokollen“ abzugleichen und eine endgültige Erledigung nur zu notieren, wenn das „Versandprotokoll“ auf Existenz und Inhalt geprüft worden sei. Es lässt sich insoweit bereits nicht feststellen, ob sich die behauptete Anweisung einer Überprüfung des „Versandprotokolls“ auf die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO oder das Übermittlungsprotokoll bezog. Eine genaue Anweisung durch den Rechtsanwalt ist insbesondere erforderlich, um Verwechslungen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO mit dem Übermittlungsprotokoll zu vermeiden, dessen Vorliegen für die Ausgangskontrolle nicht genügt. Schon an der Darlegung einer solchermaßen eindeutigen Anweisung fehlt es. Zudem fehlen einer solcherart gefassten Anordnung auch hinreichende Anweisungen dazu, wie der zuständige Mitarbeiter die Kontrolle im Einzelfall vorzunehmen hat. Insoweit genügt es nicht, dass zur Organisation der Kanzlei des klägerischen Prozessbevollmächtigten die Weisung an die den Postversand tätigenden Büromitarbeiter gehört, zu prüfen, ob die Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO vorliegt. Der Rechtsanwalt muss dem Mitarbeiter vielmehr vorgeben, an welcher Stelle innerhalb der benutzten Software die elektronische Eingangsbestätigung zu finden ist und welchen Inhalt sie haben muss. Die pauschale Anweisung, das Vorliegen der Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO zu kontrollieren, lässt den Mitarbeiter dagegen schon darüber im Unklaren, welches im Zusammenhang mit der Übermittlung von Schriftsätzen im elektronischen Rechtsverkehr erstellte Dokument eine elektronische Eingangsbestätigung gemäß § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO ist. Wie die Eingangsbestätigung aufgerufen und ihr Inhalt überprüft werden kann, erfordert eine intensive Schulung der mit dem Versand über das beA vertrauten Mitarbeiter. Dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine den Postversand tätigenden Mitarbeiter entsprechend geschult oder angewiesen hat, hat die Klägerin schon nicht vorgetragen.
(BGH, Beschluss vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23).

Fazit: Fristen dürfen erst nach Erhalt und Kontrolle der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs gestrichen werden (BGH MDR 2023, 858; Schwenker MDR 2023, 1161).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts in Bezug auf Tatsachen.

Überprüfung von Tatsachenfeststellungen in der Berufungsinstanz
BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23

Der VIII. Zivilsenat bekräftigt die ständige Rechtsprechung zu § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Der Klägerin hatte ein aus zwei Gebäudeteilen bestehendes Wohnhaus mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² seit Ende 2018 an die Beklagten vermietet. Anfang 2021 verwehrten ihr die Beklagten eine Besichtigung des Objekts durch einen mit dem Verkauf des Objekts betrauten Makler. Im August 2021 kündigte die Klägerin wegen Eigenbedarfs für sich und ihre zwei erwachsenen Söhne mit deren Familien. Die Beklagten widersprachen der Kündigung.

Das AG verurteilte die Beklagten nach Vernehmung der beiden Söhne der Klägerin antragsgemäß zur Räumung und Herausgabe des Anwesens. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos.

Der BGH verweist die Sache auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 und § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO an eine andere Kammer des LG zurück.

Das LG hat angenommen, die Beweiswürdigung durch das AG sei gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend, weil ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche nicht erkennbar seien.

Darin liegt eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG, weil das LG seine Prüfungskompetenz nicht im gebotenen Umfang wahrgenommen hat.

Die Prüfung in der Berufungsinstanz ist anders als die revisionsrechtliche Prüfung nicht auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Das Berufungsgericht ist deshalb zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet, wenn aus seiner Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird.

Im Streitfall hätte sich das LG danach zumindest mit der Frage befassen müssen, ob in der Berufungsbegründung geltend gemachte Widersprüche in den Angaben der Zeugen und der Klägerin zum zeitlichen Ablauf bezüglich der Aufgabe von ursprünglichen Verkaufsabsichten und dem Entschluss zur Eigennutzung die Wahrscheinlichkeit einer abweichenden Feststellung begründen. Diese Würdigung wird die nunmehr mit der Sache befasste Kammer nachzuholen haben.

Praxistipp: Der Berufungskläger muss in der Berufungsbegründung die Umstände, die aus seiner Sicht eine abweichende Feststellung gebieten, möglichst konkret benennen.

Anwaltsblog: Kein Vertrauen auf (erstmalige) Fristverlängerung von mehr als einem Monat ohne Zustimmung Gegenseite!

Darf der Rechtsmittelführer bei einem erstmaligen Fristverlängerungsantrag von mehr als einem Monat auf die Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist vertrauen und braucht nicht bei Gericht nachzufragen?

Das Familiengericht hat die Antragsgegnerin durch am 3. Januar 2022 zugestellten Beschluss zur Auskunftserteilung verpflichtet. Die Antragsgegnerin hat Beschwerde eingelegt und am 3. März 2022 beantragt, die Frist zur Begründung um sechs Wochen bis einschließlich 14. April 2022 zu verlängern. Mit am 14. April 2022 beim OLG eingegangenem Schriftsatz hat sie ihre Beschwerde begründet. Nach Hinweis hat die Antragsgegnerin beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihre zuverlässige und erfahrene Rechtsanwaltsfachangestellte habe den Ablauf der Begründungsfrist, nachdem ein erster, auf Verlängerung bis zum 4. April 2022 gerichteter Fristverlängerungsantrag abgefasst worden sei, weisungsgemäß zunächst auf dieses Datum in den elektronischen Kalender eingetragen. Da allerdings dann eine weitergehende Fristverlängerung bis 14. April 2022 für nötig befunden worden sei, habe die Kanzleiangestellte die Frist auf den 14. April 2022 umgetragen. Die Verfahrensbevollmächtigte habe auf eine zeitnahe Entscheidung über das Fristverlängerungsgesuch vertraut und erst durch den gerichtlichen Hinweis bemerkt, dass die Beschwerdebegründung nicht zu dem von ihr vorgegebenen Fristende am 4. April 2022 eingereicht worden sei.
Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Beschwerde verworfen. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Gründe für eine unverschuldete Fristversäumung sind nicht offenkundig. Die Sorgfaltspflicht verlangt in Fristsachen von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen zwar einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Der Rechtsanwalt hat jedoch durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen. Für den Fall eines Fristverlängerungsantrags bestehen zudem weitere Anforderungen an das Fristenwesen. In diesen Fällen muss als zusätzliche Fristensicherung auch das hypothetische Ende der beantragten Fristverlängerung bei oder alsbald nach Einreichung des Verlängerungsantrags im Fristenbuch eingetragen, als vorläufig gekennzeichnet und rechtzeitig – spätestens nach Eingang der gerichtlichen Mitteilung – überprüft werden, damit das wirkliche Ende der Frist festgestellt werden kann. Dass diese Anforderungen erfüllt waren, hätte der konkreten Darlegung und Glaubhaftmachung bedurft.
Dass das OLG über den Fristverlängerungsantrag nicht vor Ablauf der ohne Einwilligung des Gegners verlängerbaren Frist entschieden hat, war nicht verfahrensfehlerhaft. Es war auch nicht aufgrund seiner gerichtlichen Fürsorgepflicht gehalten, die Antragsgegnerin vor Ablauf des ohne Einwilligung des Gegners bewilligungsfähigen Zeitraums auf die mangels Einwilligung fehlende Möglichkeit einer weitergehenden Fristverlängerung hinzuweisen. Denn das Rechtsmittelgericht darf grundsätzlich davon ausgehen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten eines Beteiligten die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung von mehr als einem Monat bekannt sind. Grundsätzlich ist es Sache der Verfahrensbeteiligten, für die Wahrung der Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfristen Sorge zu tragen, eine etwa erforderliche Einwilligung des Gegners zu einer Fristverlängerung beizubringen und Unklarheiten rechtzeitig auszuräumen. Darf der Beteiligte auf die Gewährung einer beantragten Fristverlängerung vertrauen, weil deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, bedarf es keiner Nachfrage beim Gericht. Anderes gilt jedoch, wenn mit der beantragten Fristverlängerung nicht gerechnet werden kann. In einem solchen Fall ist es Sache des Beteiligten, sich rechtzeitig nach dem Schicksal des von ihm gestellten Antrags auf Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist zu erkundigen, um die Begründung fristwahrend einreichen zu können.
(BGH, Beschluss vom 2. August 2023 – XII ZB 96/23)

Fazit: Regressfälle wie dieser können durch die ordnungsgemäße Notierung von Vorfristen vermieden werden. Für Rechtsmittelbegründungen muss außer dem Fristablauf noch (mindestens) eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist notiert werden (BGH vom 21.06.2023 – XII ZB 418/22).

Anwaltsblog: Wann ist die bei einer Ersatzeinreichung per Fax erforderliche Darlegung und Glaubhaftmachung der Störung der elektronischen Übermittlungsmöglichkeit rechtzeitig?

Die Berufungsschrift der Beklagten gegen ein Urteil des Patentgerichts ist am letzten Tag der Berufungsfrist, dem 20. April 2023 um 15:15 Uhr per Telefax beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist. In einem am gleichen Tag um 20:09 Uhr per Telefax eingegangenen Schriftsatz hat die Beklagte dargelegt, weshalb ihre Prozessbevollmächtigten die Berufungsschrift nicht über das beA eingereicht haben.
Der BGH erklärt die Berufung durch Zwischenurteil für zulässig. Die Übermittlung der Berufungsschrift per Telefax war gemäß § 130d Satz 2 ZPO ausnahmsweise ausreichend. Die Beklagte hat dargelegt und anwaltlich versichert, dass zwei ihrer Prozessbevollmächtigten am 20. April 2023 zwischen 12:56 Uhr und 18:34 Uhr insgesamt zwölfmal versucht haben, die Berufungsschrift aus ihrem beA zu übermitteln, und dass alle Übermittlungsversuche mit der Meldung geendet haben, die Nachricht habe nicht an den Intermediär des Empfängers übermittelt werden können. Sie haben ferner dargelegt, dass am 20. April 2023 auf den Internetseiten des EGVP eine als „aktuell“ gekennzeichnete Meldung veröffentlicht war, wonach (u.a.) die Bundesgerichte seit dem 19. April 2023 um 14:12 Uhr „vorläufig nicht erreichbar“ seien. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Glaubhaftmachung rechtzeitig erfolgt. Gemäß § 130d Satz 3 ZPO ist die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung hat danach möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen. Eine unverzügliche Nachholung kommt ausschließlich dann in Betracht, wenn der Rechtsanwalt das technische Defizit erst kurz vor Fristablauf bemerkt und ihm daher nicht mehr genügend Zeit für die gebotene Darlegung und Glaubhaftmachung in dem ersatzweise einzureichenden Schriftsatz verbleibt. Eine noch am gleichen Tag wie die Ersatzeinreichung bei Gericht eingegangene Darlegung und Glaubhaftmachung ist als gleichzeitig im Sinne dieser Grundsätze anzusehen. Der Regelung in § 130d Satz 3 ZPO ist allerdings zu entnehmen, dass die Gründe für die Ersatzeinreichung so schnell wie möglich darzulegen und glaubhaft zu machen sind. Bei Anlegung dieses Maßstabes darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Frist für die Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels grundsätzlich bis zum Ende des betreffenden Tages ausgenutzt werden darf. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn die Ersatzeinreichung und die Darlegung und Glaubhaftmachung am gleichen Tag mit zwei getrennten Schriftsätzen übermittelt werden.
Aus der Rechtsprechung zu den Sorgfaltspflichten bei dem früher zulässigen Einreichen fristgebundener Schriftsätze per Telefax ergibt sich keine abweichende Beurteilung. Danach darf die Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax nicht vorschnell abgebrochen werden, wenn eine Übersendung zunächst nicht gelingt. Danach ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch dann zu versagen, wenn schon um 20 Uhr von weiteren Sendeversuchen abgesehen worden ist. Diese Rechtsprechung ist auf § 130d Satz 2 ZPO nicht übertragbar. Ein Rechtsanwalt, der aus technischen Gründen gehindert ist, einen fristwahrenden Schriftsatz elektronisch einzureichen, und deshalb eine zulässige Ersatzeinreichung veranlasst hat, ist nicht gehalten, sich vor Fristablauf weiter um eine elektronische Übermittlung zu bemühen. Diese Unterscheidung ist konsequent, weil § 130d Satz 2 ZPO nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumen einer Frist betrifft, sondern die Möglichkeit zur Einhaltung einer Frist in einer von der Vorgabe aus § 130d Satz 1 ZPO abweichenden Form vorsieht. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass ein Telefaxgerät wegen Belegung mit anderweitigen Sendungen vorübergehend nicht erreichbar ist, auch bei ordnungsgemäßer Funktion aller Komponenten. § 130d Satz 2 ZPO betrifft demgegenüber Fälle, in denen die zur Übermittlung eingesetzten Systeme eine Störung aufweisen.
(BGH, Zwischenurteil vom 25. Juli 2023 – X ZR 51/23)

Fazit: Der Grund für eine Ersatzeinreichung muss möglichst zeitgleich mit der Übermittlung glaubhaft gemacht werden. Eine Darlegung in einem gesonderten Schriftsatz am selben Tag ist als „gleichzeitig“ und damit rechtzeitig zu werten.

Anwaltsblog: Erkennbar falsches Datum in Rechtsmittelschrift schadet nicht!

Wie genau muss in einer Rechtsmittelschrift die angegriffene Entscheidung bezeichnet werden?

Das Familiengericht hat mit am 12. Mai 2021 verkündetem Beschluss den Antragsgegner zur Zahlung von Betreuungsunterhalt verpflichtet. Mit am 14. Mai 2021 erlassenem Beschluss hat es den Verfahrenswert festgesetzt. Beide Beschlüsse sind den Verfahrensbevollmächtigten am 17. Mai 2021 zugestellt worden. Mit Anwaltsschriftsatz vom 7. Juni 2021 hat der Antragsgegner gegen den „Beschluss des AG Neuss – Familiengericht – vom 14.05.2021, zugestellt am 17.05.2021“ Beschwerde eingelegt. Mit weiterem Schriftsatz vom 30. Juni 2021 hat er klargestellt, dass sich die Beschwerde gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 richte. Das OLG hat die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 verworfen. Der innerhalb der Beschwerdefrist eingegangene Schriftsatz vom 7. Juni 2021, nach dessen Wortlaut Beschwerde gegen einen am 17. Mai 2021 zugestellten Beschluss vom 14. Mai 2021 eingelegt werde, könne nicht als Beschwerde gegen die Entscheidung in der Hauptsache vom 12. Mai 2021 ausgelegt werden.
Das sieht der BGH anders. Nach § 64 Abs. 2 Satz 3 FamFG muss die Beschwerdeschrift die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Wie bei der für das zivilprozessuale Berufungsverfahren maßgeblichen Regelung in § 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift allerdings nicht, auf welche Weise die angefochtene Entscheidung bezeichnet werden muss. Da § 64 Abs. 2 Satz 3 FamFG dem Zweck dient, dem Beschwerdegericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten Klarheit über den Gegenstand und die Beteiligten des Rechtsmittelverfahrens zu verschaffen, ist in der Beschwerdeschrift die angegriffene Entscheidung in der Regel durch eine vollständige Bezeichnung der Verfahrensbeteiligten, des Gerichts, das den angefochtenen Beschluss erlassen hat, des Verkündungsdatums und des Aktenzeichens zu bezeichnen. Verfahrensrechtliche Formvorschriften sind jedoch kein Selbstzweck. Daher dürfen keine übermäßigen Anforderungen an die Beachtung der Förmlichkeiten der Beschwerdeschrift gestellt werden. Ausreichend ist, wenn aufgrund der Angaben in der Beschwerdeschrift und den sonstigen aus den Verfahrensakten erkennbaren Umständen vor Ablauf der Beschwerdefrist für das Gericht nicht zweifelhaft bleibt, welche Entscheidung angefochten wird, und es anhand der im Übrigen richtigen und vollständigen Angaben in der Rechtsmittelschrift nicht daran gehindert ist, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen. Gemessen hieran hat der Antragsgegner rechtzeitig Beschwerde gegen den Beschluss vom 12. Mai 2021 eingelegt. Zwar hat er den Erlasstermin der Entscheidung, gegen die sich das Rechtsmittel richten sollte, unzutreffend angegeben. Aus dem Inhalt der Verfahrensakten ergaben sich für das Gericht jedoch schon vor Ablauf der Beschwerdefrist hinreichende Anhaltspunkte, aus denen erkennbar war, dass der Antragsgegner die Entscheidung in der Hauptsache und nicht den Beschluss über die Festsetzung des Verfahrenswerts anfechten wollte. So befand sich in den Verfahrensakten bereits die Verfahrenshilfeliquidation des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners, die er am Tage der Abfassung der Beschwerdeschrift beim Amtsgericht eingereicht und der er die in dem Beschluss vom 14. Mai 2021 festgesetzten Verfahrenswerte unbeanstandet zugrunde gelegt hatte. Trotz der fehlerhaften Angaben in der Beschwerdeschrift zum Erlassdatum war das Beschwerdegericht auch seit Beginn seiner Befassung mit der Sache nicht gehindert, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen. Das Verfahren wurde von der Geschäftsstelle des OLG ohne weitere Beanstandung als Rechtsmittel gegen eine Hauptsacheentscheidung unter dem „UF“-Registerzeichen und nicht – wie bei einer Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Festsetzung des Verfahrenswerts – unter dem „WF“-Registerzeichen eingetragen.
(BGH, Beschluss vom 2. August 2023 – XII ZB 432/22)

Fazit: Ein Rechtsmittel ist formgerecht eingelegt, wenn trotz fehlerhafter Bezeichnung der angegriffenen Entscheidung aufgrund der Angaben in der Rechtsmittelschrift und den sonstigen aus den Verfahrensakten erkennbaren Umständen vor Ablauf der Rechtsmittelfrist für das Gericht nicht zweifelhaft bleibt, welche Entscheidung angefochten wird, und es anhand der im Übrigen richtigen und vollständigen Angaben in der Rechtsmittelschrift nicht daran gehindert ist, seine verfahrensvorbereitende Tätigkeit aufzunehmen.

BGH: Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten

Ein LKW der Beklagten war an einem LKW der Klägerin vorbeigefahren und hatte letzteren dabei am (Spezial)Aufbau gestreift. Die Klägerin holte ein Sachverständigengutachten über die Höhe des Schadens ein und verlangte u. a. diesen Betrag von der Beklagten. Die Klage war in den Tatsacheninstanzen erfolglos. Letztlich wurde die Auffassung vertreten, dass der Kläger einen abgrenzbaren Schaden nicht dargelegt hätte, weil der gerichtliche Sachverständige festgestellt habe, dass die Beschädigungen an dem LKW der Klägerin nur teilweise dem Unfall zugeordnet werden könnten. Demgegenüber hatte die Klägerin zuletzt geltend gemacht, dass es sich bei dem Aufbau ihres LKW um einen Spezialaufbau handele, bei dem einzelne Arbeitsschritte nicht abgegrenzt werden könnten, vielmehr müsse der Aufbau insgesamt ersetzt werden. Eine eventuelle Wertverbesserung sei durch einen Abzug-neu-für-alt zu kompensieren.

Der BGH (Beschl. v. 6.6.2023 – VI ZR 197/21, MDR 2023, 1046) hebt die Entscheidung des KG auf und verweist die Sache zurück. Ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör liegt vor. Das KG hätte sich mit dem erwähnten Vortrag der Klägerin befassen müssen. Entweder hätte das KG die Einwände der Klägerin dem Sachverständigen zur erneuten Begutachtung zuleiten müssen oder es hätte nach § 412 ZPO ein neues Gutachten einholen müssen. Jedenfalls müssen die Tatsacheninstanzen Einwände der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten ernst nehmen.

Auch ein Ausforschungsbeweis liegt hier nicht vor. Die Klägerin ist nicht gehalten, zur Substantiierung ihres Vortrags zunächst ein außergerichtliches Gutachten einzuholen. § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung.

Fazit: Wird ein erhebliches Beweisangebot, z. B. auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, nicht berücksichtigt, liegt regelmäßig ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Eine Partei ist regelmäßig nicht verpflichtet, ein eigenes Gutachten zur Frage der Höhe eines Schadens einzuholen, sondern kann einen Schaden behaupten und dafür ein Sachverständigengutachten als Beweis anbieten. Das Gericht wird einem solchen Beweisantritt regelmäßig nachzugehen haben.

 

BGH: Übertragung vom Einzelrichter auf die Kammer

Im Rahmen eines Mobiliarzwangsvollstreckungsverfahrens hatte das Amtsgericht eine Erinnerung des Gläubigers zurückgewiesen. Der Gläubiger legte gegen den entsprechenden Beschluss sofortige Beschwerde ein. Die Beschwerdekammer beschloss in der Besetzung mit drei Richtern, die Sache in die Kammer zu übernehmen, und wies später die sofortige Beschwerde zurück, ließ jedoch die Rechtsbeschwerde zu.

Anstatt die sicherlich vom LG erhoffte Entscheidung in der Sache zu treffen, hob der BGH (Beschl. v. 12.4.2023 – VII ZB 33/22) den Beschluss des LG auf und verwies die Sache zurück! Das Gericht war nämlich nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen §§ 576 Abs. 3, 547 Abs. 1 ZPO). In einem solchen Fall ist der ergangene Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 ZPO).

Hier hatte ein Richter am Amtsgericht über die Erinnerung entschieden. Demgemäß hätte gemäß § 568 S. 1 ZPO bei dem LG als Beschwerdegericht gleichfalls ein Einzelrichter entscheiden müssen. Die Kammer in vollständiger Besetzung mit drei Berufsrichtern darf nur entscheiden, wenn der Einzelrichter durch eine besondere Entscheidung die Sache der Kammer übertragen hat. An einem solchen Beschluss fehlte es hier. Da dieser Beschluss in die alleinige Entscheidungskompetenz des bei dem LG tätigen Einzelrichters fällt, ist es auch unerheblich, dass der originär zuständige Einzelrichter hier an der Kammerentscheidung mitgewirkt hat, zumal es sein kann, dass er überstimmt wurde.

Fazit: Es sollte allseits versucht werden, derartige Verfahrensfehler zu vermeiden, die weder für die Gerichte noch für die Parteien irgendwelche Vorteile bringen. Die Beschwerdekammern sollten sich vielmehr an den klaren Gesetzeswortlaut halten und nicht experimentieren, möglicherweise hat es sich aber auch nur um ein Versehen gehandelt.