Thesenpapier zur umfassenden Modernisierung des Zivilprozesses

Jedes Jahr treffen sich die Präsidentinnen und Präsidenten der ordentlichen Obergerichte (OLG, KG, BayObLG und BGH) an wechselnden Orten zu einer Tagung, zuletzt zur 71. Jahrestagung im Mai 2019 in Bamberg. Dort wurde die altehrwürdige ZPO in den Blick genommen. Diese nutzt bisher die vorhandenen  technischen Möglichkeiten kaum aus, um Gerichtsverfahren bürgerfreundlich und effizient zu gestalten. Der elektronische Rechtsverkehr und die e-Akte bilden letztlich nur die Papierwelt digital nach. Um eine echte Transformation zivilgerichtlicher Verfahren ins digitale Zeitalter zu ermöglichen, bedarf es grundlegenderer Überarbeitungen des Verfahrensrechts. Diesen Reformbedarf haben die Präsidentinnen und Präsidenten erkannt und die Einsetzung einer mit Richterinnen und Richtern aller Ebenen besetzten Arbeitsgruppe beschlossen, die nunmehr ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Auch wenn es sich hierbei nur um einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem rechtspolitischen Forderungskatalog handelt, lohnt sich doch ein Blick in das vom Präsidenten des OLG Nürnberg Dr. Dickert als Vorsitzendem der Arbeitsgruppe veröffentlichte Thesenpapier.

Dieses enthält eine ganze Reihe von weitreichenden Vorschlägen, die – im Falle ihrer Umsetzung – die zivilprozessuale Welt ganz erheblich umkrempeln werden. Die folgende Aufzählung ist längst nicht abschließend:

  • Ein neues Beschleunigtes Online-Verfahren soll für „massenhaft auftretende Streitigkeiten“ – hier wird an Fluggastrechte oder Mieterhöhungen zu denken sein – ein formularbasiertes Verfahren anbieten, das vollständig online durchgeführt wird. Es werden spezielle Online-Gerichte eingerichtet werden können, die nötigenfalls im Wege der Video- oder Telefonkonferenz verhandeln.
  • Der seit Jahrzehnten diskutierte „strukturierte Parteivortrag“ kann (im Anwaltsprozess) endlich Wirklichkeit werden. Der Parteivortrag zum Lebenssachverhalt wird von den Parteivertretern in einer Relationstabelle niedergelegt. Dazu bearbeiten die Rechtsanwälte ein gemeinsames elektronisches Dokument, das sog. Basisdokument. Dieses soll später die Funktion des Tatbestands übernehmen.
  • Nicht nur in Pandemiezeiten interessant wird die Möglichkeit sein, „virtuelle Verhandlungen“ im Wege der Videokonferenz zu führen, bei denen sich auch das Gericht nicht mehr in einem Sitzungssaal aufhalten muss.
  • Auch die Protokollierung soll moderner, d.h. genauer und einfacher werden. Zu diesem Zweck soll ab 2026 das schriftliche Wortprotokoll von Beweisaufnahmen zwingend sein. Die Verschriftlichung soll computergestützt – auch auf Grundlage von vorläufigen Videoaufzeichnungen – erfolgen.
  • Erweitert werden sollen auch die Kommunikationsmöglichkeiten: Für den Bürger soll ein Online-Portal eingerichtet werden, dass die Funktion einer Rechtsantragsstelle wahrnimmt und zugleich dem Zugang zum Mahnverfahren und Beschleunigten Online-Verfahren dient. Rechtsanwälte und Gericht sollen auch über einen elektronischen Nachrichtenraum – ähnlich der bekannten Messenger-Dienste – kommunizieren können, z.B. Terminsabsprechen treffen, Verzögerungen mitteilen oder Vergleichsverhandlungen anregen oder sich darüber austauschen.

Die Thesen werden nunmehr zunächst mit der Richterschaft dann mit Anwaltschaft und Rechtspolitik diskutiert werden. Man kann gespannt sein, wie es weiter geht!

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die analoge Anwendbarkeit von § 839a BGB.

Haftung des gerichtlichen Sachverständigen bei Verfahrensbeendigung durch Vergleich
Urteil vom 25. Juni 2020 – III ZR 119/19

Mit der Möglichkeit einer analogen Anwendung von § 839a BGB befasst sich der III. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte in einem Vorprozess gegen Gewährleistungsansprüche wegen Sachmängeln einer Druckmaschine geltend gemacht. Das LG hatte den Beklagten mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens betraut. Der Beklagte kam zu dem Ergebnis, die Druckgeschwindigkeit der Maschine sei entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu beanstanden. Das LG wies die Klage daraufhin ab. In der Berufungsinstanz äußerte das OLG Zweifel an der Verwertbarkeit des Gutachtens. Auf Vorschlag des Gerichts einigten sich die Parteien darauf, dass die Klägerin Eigentümerin der Maschine wird und alle anderen Ansprüche erledigt sind. Die Klägerin nahm daraufhin den Beklagten wegen Erstattung eines unrichtigen Gutachtens auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klage blieb in den ersten beiden Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er tritt dem OLG darin bei, dass die Haftung eines gerichtlichen Sachverständigen für fehlerhafte Gutachten in § 839a BGB abschließend geregelt ist. Deshalb kommen konkurrierende Ansprüche aus § 823 oder § 826 BGB nicht in Betracht. Eine unmittelbare Anwendung von § 839a BGB setzt voraus, dass das Verfahren durch eine gerichtliche Entscheidung erledigt wird. Ein Vergleich wird davon auch dann nicht erfasst, wenn er auf einem Vorschlag des Gerichts beruht. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kommt im Falle eines Vergleich aber eine entsprechende Anwendung von § 839a BGB in Betracht. Wie im Falle einer gerichtlichen Entscheidung setzt die Haftung voraus, dass der Inhalt des Vergleichs durch das Gutachten beeinflusst worden ist. Ob diese und die weiteren Voraussetzungen vorliegen, wird das OLG im wieder eröffneten Berufungsverfahren zu prüfen haben.

Praxistipp: Bei einer Verfahrensbeendigung durch Vergleich wird sich in der Regel die Frage stellen, ob der Geschädigte den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels – d.h. durch Weiterführen des Prozesses – hätte abwenden können, was nach § 839a Abs. 2 und § 839a Abs. 3 BGB zum Wegfall des Ersatzanspruchs führt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Beweislast für eine arglistige Täuschung.

Keine Umkehr der Beweislast für Arglist aufgrund von vertraglichen Erklärungen
Urteil vom 6. März 2020 – V ZR 2/19

Mit den Voraussetzungen einer arglistigen Täuschung befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Beklagten hatten den Klägern ein Grundstück mit einem Wochenendhaus und einer ebenfalls zu Wohnzwecken genutzten Motorradgarage verkauft. Der notarielle Vertrag enthält die Erklärung, den Verkäufern seinen keine unsichtbaren Mängel bekannt. Nach Veräußerung und Übergabe teilte die Baubehörde den Klägern mit, die Garage dürfe nicht zu Wohnzwecken genutzt werden. Die Kläger fochten daraufhin den Kaufvertrag an. Ihre Klage auf Rückzahlung des Kaufpreises und Zahlung von Schadensersatz war in den beiden ersten Instanzen erfolgreich.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Wie auch die Vorinstanz im Ansatz zutreffend angenommen haben, liegt die Beweislast dafür, dass die Beklagten ihnen bekannte Mängel verschwiegen haben, bei den Klägern. Entgegen der Auffassung des OLG rechtfertigt die in dem Vertrag enthaltene Erklärung, den Verkäufern seinen keine unsichtbaren Mängel bekannt, keine Abweichung von diesem Grundsatz. Wenn die Beklagten die Kläger vor Vertragsschluss über die baurechtliche Unzulässigkeit informiert haben, liegt es nahe, dass sie nicht länger von einem unsichtbaren Mangel ausgegangen sind. Der Grundsatz der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Vertragsurkunde führt nicht zu einer abweichenden Erklärung. Er gilt nur für den Inhalt der getroffenen Vereinbarungen, nicht aber für Informationen, die bei Besichtigungen und Vertragsverhandlungen erteilt wurden.

Praxistipp: Den Verkäufer trifft in solchen Fällen eine sekundäre Darlegungslast bezüglich des Inhalts der erteilten Informationen sowie des Orts und des Zeitpunkts ihrer Erteilung.

OLG Frankfurt: Übersendung von Schriftsätzen an die Anwaltskammer

In einem Lauterkeitsverfahren vor dem OLG Frankfurt (OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 19.2.2020 – 6 W 19/20, MDR 695) stritten zwei Rechtsanwälte über Unterlassungsansprüche. Der Antragsgegner nahm dies zum Anlass, mehrere Schriftsätze des Antragstellers an die Anwaltskammer zu schicken und auf das seiner Ansicht nach standeswidriges Verhalten des Antragstellers hinzuweisen. Später erteilte der Vorstand der Anwaltskammer dem Antragsteller tatsächlich eine Rüge.

Der Antragsteller beantragte, nunmehr gegen den Antragsgegner eine einstweilige Verfügung, und zwar wie folgt: „Dem Antragsgegner wird bei Meidung gesetzlicher Ordnungsmittel untersagt, personenbezogene Daten des Antragstellers (Name, Privatanschrift, Sachverhalt, rechtliche Ausführungen, Behauptungen etc.) einschließlich Geschäftsgeheimnissen (Abmahnung, Vertragsstrafenforderung, Streitwert, Gebührenbestimmung), die in der Abmahnung des Antragstellers vom … nebst Anlagen (vorgefertigte Unterlassungserklärung und Werbe-E-Mail an das private E-Mail Postfach des Antragstellers) in dem Schriftsatz des Antragstellers vom … ohne vorherige ausdrückliche Einwilligung des Antragstellers oder ohne überwiegende berechtigte Interessen des Antragsgegners bzw. seiner Mandantschaft durch Übermittlung offenzulegen, wie geschehen am … und … gegenüber der Rechtsanwaltskammer in …“

Das LG wies diesen Antrag zurück, die sofortige Beschwerde des Antragstellers hatte keinen Erfolg. Weder aus § 3 UWG noch aus Art. 79 DS-GVO noch aus den §§ 823, 1004 Abs. 1 BGB ergibt sich hier ein Unterlassungsanspruch. Es fehlt an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, und zwar, weil die Äußerung des Antraggegners gegenüber der Anwaltskammer hier als sogenannte privilegierte Äußerung anzusehen ist. Es besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Unterlassung von Behauptungen, wie z. B. auch ehrverletzenden Äußerungen, wenn diese – ungeachtet ihres Wahrheitsgehaltes – der Rechtsverfolgung in einem Verfahren dienen. In der Bejahung eines Anspruchs läge nämlich eine unzulässige Einengung der Äußerungsfreiheit von Verfahrensbeteiligten. Diese müssen in einem rechtsstaatlichen Verfahren vortragen können, was sie zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung für erforderlich halten. Diese Rechtsprechung gilt auch für verfahrensbezogene Handlungen, wie hier die Übersendung von Schriftsätzen.

Zwar ist grundsätzlich noch eine Interessenabwägung geboten. Das Interesse des Betroffenen überwiegt aber nur dann, wenn es sich um bewusst unwahre oder leichtfertig aufgestellte falsche Behauptungen handelt, die in dem eingeleitete Verfahren gar nicht geklärt werden können. Dies scheidet hier jedoch schon deswegen aus, weil der Antragsteller tatsächlich von der Anwaltskammer gerügt wurde.

Schließlich hält das OLG Frankfurt den Antrag auch für unbegründet. Eine Übermittlung der Daten war jedenfalls nach § 6 Abs. 1 f DS-GVO zulässig. Der Antragsteller unterliegt damit also „in Bausch und Bogen“.

 

BGH: Gehörsverletzung durch unterbliebene Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

Der BGH hat mit Beschl. v. 21.1.2020 – VI ZR 346/18, MDR 2020, 751 über die Gehörsverletzung wegen unterbliebener Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz nach erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteiltem Hinweis entschieden.

Sachverhalt

Die Entscheidung betrifft nur einen kleinen Ausschnitt eines sehr umfangreichen Prozesses. Der über 80 Jahre alte Kläger bezog von dem Beklagten, einem Apotheker, ein in der Apotheke hergestelltes Medikament. Eine pharmazeutisch-technische Assistentin verwendete bei der Herstellung des Medikamentes Methadon anstatt Meprobamat (bei beiden Arzneimitteln handelt es sich um Betäubungsmittel). Nachdem der Kläger das fehlerhaft hergestellte Medikament eingenommen hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin im Koma liegend auf. Der Kläger erlitt letztlich einen schweren Hirnschaden.

Bezüglich des von dem Kläger geltend gemachten Haushaltsführungsschadens hatte das LG der Klage in Höhe von 162.513,64 Euro stattgegeben. Der Beklagte legte Berufung ein. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wies das OLG darauf hin, dass seitens des Klägers weiterer Vortrag dazu erforderlich sei, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für Pflege und Betreuung sowie – in Abgrenzung dazu – für die Haushaltsführung geltend mache. Entsprechender Vortrag des Klägers erfolgte im Termin nicht mehr. Ein Schriftsatznachlass (§ 139 Abs. 5 ZPO) wurde von dem Kläger nicht beantragt. Das OLG bestimmte einen Verkündungstermin. Der Kläger trug vor diesem Termin schriftsätzlich noch weiter zu den Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin vor. Das OLG wies dann die Klage bezüglich des Haushaltsführungsschadens ab und vertrat die Auffassung, eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht geboten gewesen.

Die Gründe des BGH

Der BGH nimmt diese Entscheidung nicht hin, sondern hebt das Urteil des OLG insoweit auf und verweist die Sache zurück.

Zentraler Punkt der Entscheidung ist einmal wieder das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Bleibt der Vortrag einer Partei ohne Stütze im Prozessrecht unberücksichtigt, stellt dies eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs dar. Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass eine erstinstanzlich siegreiche Partei darauf vertrauen darf, sie werde von dem Berufungsgericht einen Hinweis erhalten, wenn es der erstinstanzlichen Entscheidung nicht folgen möchte oder dafür weiteren Vortrag oder einen zusätzlichen Beweisantritt für erforderlich hält. Dabei muss der Hinweis so rechtzeitig erfolgen, dass die Partei noch vor einem Termin reagieren kann. Wird dann ein Hinweis – entgegen § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO (!) – erst im Termin erteilt, muss die betroffene Partei die Gelegenheit haben, darauf zu reagieren. Wenn offensichtlich ist, dass eine Reaktion nicht sofort erfolgen kann, muss der Partei die Gelegenheit gegeben werden, noch vorzutragen, und zwar entweder durch einen Übergang in das schriftliche Verfahren oder eine Vertagung. Dies gilt auch dann, wenn die betroffene Partei keinen Schriftsatznachlass beantragt. Daraus folgt dann die Pflicht, aufgrund eines noch eingehenden Schriftsatzes gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.

Das Verfahren des Berufungsgerichts entsprach nicht diesen Grundsätzen. Der Hinweis erfolgte erst im Termin. Der Kläger hatte sich rechtzeitig geäußert, nämlich durch einen Schriftsatz, der vor dem Verkündungstermin einging. Die Verhandlung hätte vorliegend demgemäß wiedereröffnet werden müssen.

Der Beklagte wollte dem noch entgegenhalten, ein Hinweis wäre nicht erforderlich gewesen, da er bereits in erster Instanz den von dem OLG aufgegriffenen Einwand erhoben habe. Insofern könne es für den Kläger nicht überraschend gewesen sein, dass das OLG so entschieden habe. Darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, dass das Berufungsgericht darauf hinweisen muss, wenn es den Vortrag der erstinstanzlich siegreichen Partei für nicht ausreichend hält.

Der Gehörsverstoß ist auch erheblich. Der Kläger hatte in dem erwähnten Schriftsatz weiter erheblich vorgetragen, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG bei Berücksichtigung des Vortrages abweichend entschieden hätte.

Das OLG muss sich also mit dem Haushaltsführungsschaden erneut befassen. Im Übrigen hatte das Rechtsmittel keinen Erfolg. Der BGH verfuhr insoweit nach § 544 Abs. 6 S. 2 Hs. 2.

Folgerungen für die Praxis

Die Entscheidung stellt, wie überhaupt die gesamte Rechtsprechung des BGH, sehr strenge Anforderungen an die Beachtung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Um Verfahrensfehler zu vermeiden, bleibt den Gerichten nichts anderes übrig als auf Vortrag, der auf verspätete Hinweise noch erfolgt, stets noch zu reagieren. Der BGH nimmt den Parteien die Verantwortung ab, indem sogar auf einen Antrag auf Schriftsatznachlass verzichtet wird.

Hinweis für die Beratungspraxis

Die Gerichte sollten bestrebt sein, erforderliche Hinweise, wie dies das Gesetz auch vorsieht, möglichst früh zu erteilen, jedenfalls vor einem Termin. Das praktische Problem besteht jedoch darin, dass dies wegen der hohen Arbeitsbelastung oftmals nicht möglich ist. Gerade in der zweiten Instanz ist eine sachgerechte Vorbereitung der Akte überwiegend erst kurz vor dem Termin möglich.

Wenn vom Gericht in einem Termin ein Hinweis erfolgt und eine sofortige Reaktion nicht möglich ist, muss der Rechtsanwalt darauf hinwirken, dass er noch eine Möglichkeit zur Reaktion erhält. Entweder durch Vertagung oder durch Übergang in das schriftliche Verfahren oder – wenigstens – durch einen Schriftsatznachlass. Mit dem Schriftsatznachlass sollte vorsorglich auf die geschilderte Rechtsprechung hingewiesen werden, damit der Vortrag auch berücksichtigt wird. Besonders gefährlich wird es natürlich, wenn das Gericht keinen Verkündungstermin bestimmt, sondern eine Entscheidung am Schluss der Sitzung ankündigt. Dann muss sofort im Termin reagiert werden!

BGH: Verwerfung einer Berufung ohne Berücksichtigung eines angeblichen Fristverlängerungsantrages

Der BGH hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Der Beklagte hatte rechtzeitig Berufung eingelegt, jedoch die Frist zur Begründung derselben versäumt. Das OLG wies den Beklagten darauf hin. Der Beklagte beantragte einige Tage später, die Frist zur Begründung der Berufung nachträglich zu verlängern. Mit Beschluss vom selben Tage verwarf das OLG die Berufung. Wiederum einige Tage später trug der Beklagte erstmals vor, er habe bereits vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist deren Verlängerung beantragt. Gegen die Verwerfung wurde Rechtsbeschwerde eingelegt.

Die Rechtsbeschwerde wurde von dem BGH (Beschl. v. 26.2.2020 – XII ZB 402/19)  verworfen, da kein Zulassungsgrund vorliegt. Zunächst weist der BGH darauf hin, dass bei Verwerfungsentscheidungen lediglich Ausführungen zu den die Verwerfung tragenden Umständen erforderlich sind. Weiterhin weist der BGH darauf hin, dass auch vor einer Verwerfung nach § 522 Abs. 1 ZPO rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zu gewähren ist. Dieser Pflicht war das OLG hier nachgekommen. Der Beklagte hat sich auch geäußert. Er hat jedoch bei seiner Äußerung nicht darauf hingewiesen, dass er bereits vor Ablauf der Begründungsfrist deren Verlängerung beantragt haben will. Das OLG durfte daher davon ausgehen, dass sich der Beklagte erschöpfend geäußert hat. Weiteren Ermittlungen brauchte es nicht anzustellen.

Wenn aber der Rechtsmittelführer trotz eines entsprechenden Hinweises erst nach der Verwerfung der Berufung darlegt, dass er rechtzeitig eine Fristverlängerung beantragt hatte, lässt dies die Rechtmäßigkeit der ergangenen Entscheidung unberührt. Eine nachträgliche Verlängerung der Frist ist nicht möglich. Demgemäß hat das OLG die Berufung zu Recht verworfen.

Damit musste sich der BGH nur noch mit der Frage befassen, ob eventuell eine Wiedereinsetzung zu gewähren ist. Diese Frage ist jedoch gar nicht Gegenstand des Rechtbeschwerdeverfahrens geworden! Das OLG hat hierzu auch noch keine Entscheidung getroffen. Vorsorglich erwähnt der BGH noch, dass eine – grundsätzlich zulässige – Wiedereinsetzung aufgrund eines rechtzeitig gestellten Antrages auch noch nach der Verwerfung einer Berufung möglich ist. Eine solche Wiedereinsetzung wird jedoch vorliegend daran scheitern, dass die versäumte Prozesshandlung entgegen § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO von dem Beklagten nicht rechtzeitig nachgeholt wurde. Ansonsten gilt: Eine nachträgliche Wiedereinsetzung macht die Verwerfung dann gegenstandslos.

 

 

Montagsblog: 2. Sonderausgabe

Diese Woche geht es erneut um ein Corona-Thema.

Video-Verhandlungen beim Bundesgerichtshof
§ 128a ZPO

Einen neuen Weg zur Aufrechterhaltung des Sitzungsbetriebs in Corona-Zeiten hat der X. Zivilsenat beschritten.

Wie bei vielen anderen Gerichten beginnt auch beim Bundesgerichtshof allmählich wieder der Sitzungsbetrieb. Die infolge des Abstandgebots reduzierte Aufnahmekapazität der Sitzungssäle stellt die Senate vor allem in Verfahren mit hoher Öffentlichkeitswirkung vor große Herausforderungen. In besonderer Weise betroffen sind zudem Senate mit Zuständigkeit für Spezialmaterien, in denen eine Vertretung durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt nicht erforderlich ist. In solchen Verfahren sind die Parteien häufig durch mehrere Prozessbevollmächtigte vertreten. In Patentnichtigkeitsverfahren, für die der X. Zivilsenat als Berufungsgericht zuständig ist, treten darüber hinaus häufig technische Beistände auf, die gemäß § 113 Satz 2 PatG ebenfalls teilnahmeberechtigt sind. Dieser Personenkreis muss nicht selten aus dem Ausland anreisen, was in Corona-Zeiten kaum möglich ist.

Um Terminsaufhebungen und eine daraus resultierende Verlängerung der Verfahrensdauer von kaum vorhersehbarem Ausmaß zu vermeiden, hat der X. Zivilsenat am 23. April 2020 erstmals von der in § 128a ZPO vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, Bevollmächtigte und technische Beistände per Videoschaltung an der mündlichen Verhandlung zu beteiligen. Hierzu wurde kurzfristig die Möglichkeit geschaffen, Videokonferenzen mit dem System „Microsoft Teams“ durchzuführen. Die Klägerin und die Beklagte waren je durch einen Rechtsanwalt und einen Patentanwalt vor Ort vertreten. Weitere Patentanwälte, die technischen Beistände der Parteien sowie zwei Simultandolmetscher waren über die Videokonferenz zugeschaltet.

Die Teilnehmer haben sich mit dem Verlauf der Verhandlung zufrieden gezeigt. Dies hat den Senat darin bestärkt, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Er stellt es den Parteien frei, eine begrenzte Anzahl von Vertretern vor Ort auftreten zu lassen, sieht aufgrund der ersten Erfahrungen aber auch mit großer Zuversicht Verhandlungen entgegen, bei denen nur die Richter im Sitzungssaal präsent sind. Die erfolgreiche Premiere lässt auf jeden Fall hoffen, dass der Senat das Entstehen einer Bugwelle an aufgeschobenen Verhandlungsterminen auch dann vermeiden kann, wenn die jetzigen Einschränkungen noch lange Zeit bestehen bleiben sollten.

Praxistipp: Für die spontane Fernkommunikation zwischen Bevollmächtigen und Beiständen einer Partei während der Verhandlung bietet sich die Einrichtung eines separaten Kanals zum Austausch von Textnachrichten an, etwa über Smartphones, Tablets oder Notebooks.

Verkündungstermine in Corona-Zeiten

Wegen der Corona-Pandemie ist die Bestimmung von Terminen derzeit mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Daher dürfte es sich empfehlen, vor der Terminsbestimmung mit den Parteivertretern ein telefonisches Einvernehmen herbeizuführen, ob der Termin durchgeführt werden soll. Im Sitzungssaal ist sicherzustellen, dass der Mindestabstand eingehalten werden kann.

Allerdings geht es dabei nicht nur um Verhandlungstermine. Zahlreiche Verkündigungstermine sind ebenfalls bestehen geblieben. Die Situation wirft die Frage auf, ob bei diesen Verkündungsterminen derzeit der Grundsatz der Öffentlichkeit gewahrt ist.

Bekanntlich muss eine Urteilsverkündung in Zivilsachen in öffentlicher Sitzung erfolgen (§ 310 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Zahlreiche Gerichtspräsidenten haben jedoch Anordnungen bezüglich des Betretens der Gerichte erlassen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob eine Verkündung tatsächlich noch öffentlich wäre. Zwar erhalten Personen, die von dem Verkündungstermin Kenntnis haben, an dem Verfahren beteiligt sind und/oder sich erkundigen wollen, regelmäßig Zutritt. Aber dies alleine reicht nicht aus, um die Verkündung tatsächlich zu einer öffentlichen Verkündung zu machen. Notwendig ist dafür vielmehr, dass jedermann jederzeit grundsätzlich Zutritt haben könnte.

Dem Grundsatz der Öffentlichkeit ist große Bedeutung beizumessen. Das BAG hat ein Urteil eines LAG nur deswegen aufgehoben, weil der Grundsatz der Öffentlichkeit bei der Verkündung desselben infolge einer Nachlässigkeit nicht gewahrt wurde (§ 547 Nr. 5 ZPO; BAG, Beschl. v. 22.9.2016, 6 AZN 376/16)! Glücklicherweise gibt es nur absolute Revisionsgründe, jedoch keine absoluten Berufungsgründe. Die Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit ist in § 538 Absatz 2 ZPO als Grund für eine notwendige Aufhebung und Zurückverweisung nicht genannt.

Gleichwohl stellt sich die Frage: Wie kann man gegenwärtig sicherstellen, dass eine Verkündung tatsächlich dem Grundsatz der Öffentlichkeit genügt? Folgender Weg könnte das Problem lösen: Direkt am Eingang des Gerichts wird deutlich sichtbar eine Nachricht angebracht, worin vermerkt ist, dass alle Verkündungstermine in einem dort bezeichneten Saal stattfinden. Dieser Saal muss so beschaffen sein, dass durch ein Fenster zur Straße hin verkündet werden kann. Auf der Nachricht muss beschrieben sein, wie man von außen zu dem Saal gelangen kann. Wer also einem Verkündungstermin beiwohnen will, kann sich zur genannten Zeit vor dem Fenster positionieren. Es muss mit der Verkündung einige Minuten gewartet werden, damit eventuelles Publikum den Saal von außen finden kann. Am ursprünglich vorgesehenen Verkündungsort muss ein Hinweis auf den neuen Verkündungsort angebracht worden sein. Auf diesem Wege dürfte der Grundsatz der Öffentlichkeit jedenfalls gewahrt sein.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Kostenentscheidung im Falle eines Anerkenntnisurteils.

Keine Schlüssigkeitsprüfung nach Anerkenntnis
Beschluss vom 16. Januar 2020 – V ZB 93/18

Mit den Voraussetzungen des § 93 ZPO befasst sich der V. Zivilsenat.

Der Kläger ist seit 1994 alleiniger Erbe eines landwirtschaftlichen Hofs. Rund zwanzig Jahre nach dem Erbfall verlangte er vom Beklagten, der als Testamentsvollstrecker bestellt ist, außergerichtlich die Freigabe einiger zum Hof gehörender Grundstücke. Der Beklagte reagierte darauf nicht. Nach Klageerhebung zeigte der Beklagte seine Verteidigungsbereitschaft an und behielt sich ein Anerkenntnis vor. Eine Klageerwiderung reichte er nicht ein. Im Termin zur mündlichen Verhandlung erkannte er den Klageanspruch unter Verwahrung gegen die Kostenlast an. Das LG erließ Anerkenntnisurteil und legte die Kosten dem Beklagten auf. Die gegen die Kostenentscheidung gerichtete Beschwerde blieb erfolglos.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

Der Beklagte hat Veranlassung zur Klage gegeben, weil er auf die außergerichtliche Aufforderung nicht reagiert hat. Als Testamentsvollstrecker war er gehalten, auf das Verlange des Erben zu reagieren und zu erklären, weshalb er die Freigabe verweigert. Der Beklagte hat den Anspruch auch nicht sofort anerkannt, weil er das Anerkenntnis nicht innerhalb der Frist zur Klageerwiderung abgegeben hat.

Ob die Klage schlüssig und begründet war, ist unerheblich. Ein nach Ablauf der Klageerwiderungsfrist abgegebenes Anerkenntnis ist nach der Rechtsprechung des BGH allerdings als rechtzeitig anzusehen, wenn die Klage zunächst nicht schlüssig war, der Kläger später nachbessert und der Beklagte den Anspruch daraufhin sofort anerkennt. Diese Grundsätze gelten indes nicht, wenn sich das Klagevorbringen im Zeitraum zwischen Klageerhebung und Anerkenntnis nicht ändert.

Praxistipp: Die Anzeige der Verteidigungsbereitschaft im schriftlichen Vorverfahren steht einem sofortigen Anerkenntnis im Sinne von § 93 ZPO grundsätzlich nicht entgegen. Etwas anderes gilt allerdings, wenn der Beklagte schon in diesem Stadium einen Antrag auf Klageabweisung ankündigt oder dem Klagebegehren in sonstiger Weise inhaltlich entgegentritt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um ein Thema, das in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Subsidiaritätsgrundsatz bei Geltendmachung von Gehörsverstößen
Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19

Ein Einzelfall aus dem Bereich des so genannten Dieselskandals findet ein abruptes Ende.

Der Kläger hatte geltend gemacht, sein Auto verfüge über eine unzulässige Abschalteinrichtung. Das OLG sah von der Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil der Kläger nicht schlüssig dargetan habe, wie er zu dieser Einschätzung gelangt sei, und weil es an jeglichen Anhaltspunkten für eine Abgasmanipulation fehle. Die im Internet abrufbare Liste der von einem Rückruf des Kraftfahrtbundesamts betroffenen Fahrzeuge führe keine Fahrzeuge des betreffenden Herstellers auf.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.

Der BGH bescheinigt dem OLG allerdings einen klaren Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Einer Partei ist es grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Unbeachtlich ist eine Behauptung nur dann, wenn sie ohne jeglichen greifbaren Anhaltspunkt willkürlich ins Blaue hinein aufgestellt wird. Im Streitfall hat der Kläger hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit seiner Behauptung vorgetragen, indem er auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart hingewiesen hat, das ergeben habe, dass die Motoren des in seinem Fahrzeug verbauten Typs eine unzulässige Thermosoftware enthielten. Ein Einschreiten des Kraftfahrtbundesamts ist bei dieser Ausgangslage nicht zwingend erforderlich.

Der BGH weist die Nichtzulassungsbeschwerde dennoch zurück, weil der Kläger es versäumt hat, den Gehörsverstoß bereits im Berufungsverfahren geltend zu machen. Er stützt diese Bewertung auf den Subsidiaritätsgrundsatz, demzufolge ein Beteiligter alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um die Korrektur einer geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern, und auf den damit in Einklang stehenden Rechtsgedanken des § 295 ZPO. Im Streitfall war für den Kläger aus dem gemäß § 522 Abs. 2 ZPO erteilten Hinweis ersichtlich, dass das OLG seinen Vortrag für unbeachtlich hält. Deshalb hätte der Kläger das OLG innerhalb der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Beachtlichkeit eines Beweisangebots in solchen Fällen hinweisen müssen.

Praxistipp: Eine Partei, die sich nach einem gemäß § 522 Abs. 2 ZPO erteilten Hinweis die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde offenhalten will, sollte ihre Angriffe gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts stets innerhalb der gewährten Frist zur Stellungnahme vorbringen.