Hervorstehendes Gehwegpflaster als Stein des Anstoßes: Das OLG Hamm zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gegenüber Fußgängern

Unebenes Pflaster als „Stolperfalle“: gar kein seltener Fall

Es ist wohl jedem schon passiert: man geht – oder schlendert – dahin, oft in Gedanken versunken, da stößt man mit den Fuß auf einen (mehr oder minder leicht) hervorstehenden Pflasterstein. Meist geht es ja gut (und man schimpft über sich selbst, weil man nicht besser auf den Weg geachtet hat). Tatsächlich scheint die Stolperfalle Pflaster gar nicht so selten aufgestellt zu sein: Recherchen im Internet ergeben jedenfalls ohne Aufwand pressewirksame Fälle  aus Lohr am Main (2013), Ebrach (2016), Ratingen (2016), Germering (2019) oder Meschede (2019).

OLG Hamm: Urt. v. 16.10.2019 – 11 U 72/19

Auch in einem jüngst vom OLG Hamm entschiedenen Fall wurde ein hervorstehender Pflasterstein einer Passantin zum Verhängnis. Die damals 64jährige Klägerin fiel im August 2017 auf dem Alten Markt in Bochum-Wattenscheid hin und brach sich dabei mehrfach den linken Oberarmknochen.

Sie warf der beklagten Stadt vor, ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben, weil sie einen 4 bis 5 cm über das Straßenniveau hinausragenden Pflasterstein, der nicht ohne weiteres erkennbar war, nicht beseitigt hat. Die Stadt dagegen berief sich darauf, dass sie die Pflasterung und den Plattenbelag auf dem Alten Markt regelmäßig (einmal pro Woche) durch geschultes Personal überprüfen lasse.

Das LG Bochum hatte die Klage mit Urt. v. 7.6.2019 – 5 O 338/18 abgewiesen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass es nicht darauf ankomme, in welcher Höhe der Pflasterstein herausgestanden habe, weil die beklagte Stadt den Markplatz jedenfalls ausreichend kontrolliert habe.

Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil war nicht erfolgreich. Zwar bestünden – so das OLG Hamm – keine Zweifel daran, dass die Klägerin zur angegebenen Zeit an der angegebenen Stelle über einen hochstehenden Pflasterstein gestolpert sei und sich durch den Sturz eine Fraktur des linken Oberarmknochens zugezogen habe. Auch sei klar, dass dieser Pflasterstein eine Gefahrenstelle dargestellt habe, die zu beseitigen gewesen sei. Dennoch hafte die beklagte Stadt nicht, weil sie ihre Kontrollpflicht nicht verletzt habe. Dabei müsse eine Stadt oder Gemeinde allerdings Straßen und Wege auf ihrem Gebiet überprüfen, um neue Schäden oder Gefahren zu erkennen und die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Hierzu gehöre es, die Straßen und Wege – in Abhängigkeit von ihrer Verkehrsbedeutung – regelmäßig zu beobachten und in angemessenen Zeitabschnitten zu befahren oder zu begehen. Nicht verlangt werden könne aber, dass eine Straße oder ein Weg ständig völlig frei von Mängeln und Gefahren sei, da sich ein solcher Zustand nicht erreichen lasse. Diesen Anforderungen habe die beklagte Stadt genügt, indem sie rund fünf Tage vor dem Unfall die spätere Unfallstelle bei einer ihrer wöchentlichen Kontrollen noch durch einen Straßenbegeher habe überprüfen lassen. Für eine nicht ausreichende Kontrolle der Wegstrecke bestünden keine Anhaltspunkte. Der Pflasterstein könne sich auch kurz vor dem Unfall der Klägerin gelockert haben. Die Ungewissheit bezüglich der Ursache und dem Zeitpunkt der Lockerung gehe zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Klägerin.

Der Kontext der Entscheidung

Wer sein Grundstück der Öffentlichkeit zugänglich macht, muss auch dafür sorgen, dass die Benutzung ohne Gefahren möglich ist – er hat eine Verkehrssicherungspflicht. Ausgangspunkt für die Anerkennung von Verkehrssicherungspflichten ist die Überlegung, dass ein Geschädigter grundsätzlich nur dann Ansprüche hat, wenn seine Rechtsgüter aktiv durch Handlungen eines Anderen verletzt wurden. Nur in Ausnahmefällen kann ein Unterlassen zum Schadensersatz verpflichten, nämlich dann, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Eine solche (Verkehrssicherungs-)Pflicht ergibt sich daraus, dass der Verfügungsberechtigte seine Gefahrenquelle beherrscht und deshalb auch entsprechende Vorkehrungen für eine (möglichst) gefahrlose Benutzung zu sorgen hat.

Die praktisch völlige Gefahrlosigkeit von Straßen oder Plätzen kann allerdings mit zumutbaren Mitteln nicht erreicht und deshalb vom Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden. Die Verkehrssicherungspflicht geht deshalb auch nicht weiter, als dass der Verpflichtete in geeigneter und zumutbarer Weise diejenigen Gefahren auszuräumen hat oder gegebenenfalls vor ihnen warnen muss, die der „normale“ Verkehrsteilnehmer nicht erkennen kann und auf die er sich auch nicht einstellen muss. Es werden also nur die Vorkehrungen geschuldet, die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von den Verkehrsteilnehmern abzuwehren.

Die Rechtsprechung zu „Stolperfallen“

Fußgänger etwa müssen kleinere Mängel des Pflasters in Form von Unebenheiten hinnehmen, weil sie sich durch eine entsprechende Gehweise darauf einrichten können. Sind die Unebenheiten vom Fußgänger nicht mehr zu beherrschen, muß der Verkehrssicherungspflichtige sie beseitigen (OLG Thüringen, Urt. v. 29.7.1997 – 3 U 1464/96, juris). Eine Erhebung von lediglich 1,2 cm hat der BGH nicht als Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht angesehen (BGH, Urt. v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, MDR 1989, 1084). Unter Berücksichtigung des Gesamtbilds wurde bei einem Gehweg eine Unebenheit von 2 cm als hinnehmbar angesehen (OLG Hamm v. 2208.1989 – 9 U 318/88, VersR 1991, 1415). Allgemein kann einem Fußgänger, wenn keine besonderen Umstände hinzukommen, eine Unebenheit von 2 cm zugemutet werden (OLG Celle, Urt. v. 23.12.1997 – 9 U 120/97, MDR 1998, 1031). Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht liegt aber vor, wenn ein Pflasterstein auf von Fußgängern benutzten Verkehrsräumen mehr als 4 cm über das sonstige Niveau hinausragt (OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.12.1989 – 14 U 159/88,  MDR 1990, 722). Bei scharfkantigen Unebenheiten können bereits Höhenunterschiede von mehr als 2 cm vom Verkehrssicherungspflichtigen die Beseitigung dieses Zustands verlangen (OLG Hamm v. 18.7.1986 – 9 U 328/85, VersR 1988, 467 f.; OLG Hamm v. 7.5.1993 – 9 U 227/921, VersR 1993, 1030; ebenso OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 52/91, VersR 1992, 355, für eine 2,5 cm hohe Aufkantung). Besteht die Gefahr einer Ablenkung durch Schaufenster kann bereits eine Vertiefung von 1,5 cm für den Fußgänger unzumutbar sein (BGH v. 27.10.1966 – III ZR 132/65, MDR 1967, 387).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Verkehrssicherungspflichtige gehalten ist, Straßen und Wege in einem Zustand zu erhalten, der verhindert, dass durch Schadstellen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Dieser Pflicht trägt die Gemeinde Rechnung, indem sie Straßen, Wege und Gehwege regelmäßigen Kontrollen unterzieht und Schadstellen ausbessert (zum Ganzen: LG Essen, Urt. v. 12.05.2005 – 4 O 370/04, juris)

LG Frankfurt a.M.: Befugnis des Vorsitzenden, das Tragen einer besonderen Maske anzuordnen

In einem Beschluss hatte ein Richter am Amtsgericht für die durchzuführende mündliche Verhandlung u. a. folgendes angeordnet: „Anwesende Personen müssen durchgängig einen geeigneten Mund-Nase-Schutz tragen (OP-Maske oder höhere Schutzklasse, notfalls dichtes Baumwolltuch).“ Dagegen legte der Beklagte eine Beschwerde ein und führte aus: Er wolle sich nicht gegen das Tragen einer Maske an sich, sondern nur dagegen beschweren, eine Maske mit höherer Schutzklasse tragen zu müssen. Diese stelle eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Wahrnehmung rechtlicher Interessen und einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Berufsfreiheit dar.

Das LG (LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 5.11.2020 – 2-03 T 4/20) lässt dahinstehen, ob die Beschwerde zulässig ist, sondern hält diese auf jeden Fall für unbegründet. Bei der getroffenen Maßnahme handelt es sich um eine gemäß § 176 GVG zulässig sitzungspolizeiliche Anordnung. Eine solche umfasst auch Maßnahmen des Infektionsschutzes. Wegen der aktuellen Verbreitung des Corona-Virus darf auch das – ohnehin weit verbreitete – Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (vulgo als Maske bezeichnet) angeordnet werden. Der Vorsitzende darf sich dabei an den Empfehlungen des Robert Koch-Institutes orientieren. Dem Beklagten ist es auch mit Maske ohne weiteres zumutbar, mündlich vorzutragen. Auch die weitere Beschreibung bzw. Konkretisierung der Maske ist nicht zu beanstanden, zumal sie den Anforderungen entspricht, die in der einschlägigen Corona-VO gleichfalls gestellt werden. Weitergehend wäre sogar eine Anordnung zum Tragen von Masken nach den Standards FFP2 oder KN95 auch von dem Ermessen des Vorsitzenden gedeckt gewesen. Derartige Masken sind für geringe Beträge zu erwerben und stellen einen besseren Schutz dar. Da damit die Gefahr einer Infektion reduziert werden kann, liegt auch kein unzulässiger Eingriff in die Berufsfreiheit vor.

Es ist daher festzuhalten: Der Vorsitzende ist gemäß § 176 GVG nach seinem Ermessen dazu berechtigt, Anordnungen zum Infektionsschutz zu treffen, insbesondere zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, auch mit einer höheren Schutzklasse.

 

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Diese Woche geht es um das Verhältnis zweier von derselben Partei in derselben Sache eingelegter Rechtsmittel.

Mehrfache Einlegung eines Rechtsmittels
Beschluss vom 26. November 2020 – V ZB 151/19

Der V. Zivilsenat sorgt für Entlastung in einem haftungsträchtigen Bereich.

Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Klägerin verlangt vom Beklagten Schadensersatz wegen Rodung einer Weide und eines Holunderstrauchs, mit der Begründung, an der betroffenen Grundstücksfläche stehe ihr ein Sondernutzungsrecht zu. Die Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Die Klägerin legte fristgerecht sowohl bei dem allgemein zuständigen LG als auch bei dem für Wohnungseigentumssachen zuständigen LG Berufung ein. Das allgemein zuständige LG verwarf die Berufung als unzulässig, weil es sich um eine Wohnungseigentumssache handle.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin führt zur Abgabe der Sache an das für Wohnungseigentumssachen zuständige LG. Der BGH nimmt Bezug auf seine ständige Rechtsprechung, wonach mehrere von derselben Partei in derselben Sache eingelegte Rechtsmittel als Einheit zu behandeln sind – auch dann, wenn sie bei unterschiedlichen Gerichten anhängig sind. Das LG, dem die doppelte Berufungseinlegung bekannt war, hätte die bei ihm eingelegte und von ihm zutreffend wegen fehlender Zuständigkeit als unzulässig beurteilte Berufung deshalb nicht verwerfen dürfen. Vielmehr hätte es die Sache an das zuständige LG abgeben müssen. Diese Entscheidung holte der BGH nunmehr nach. Das für Wohnungseigentumssachen zuständige LG – bei dem die Sache noch anhängig ist – wird nunmehr eine einheitliche Entscheidung über das Rechtsmittel treffen müssen.

Praxistipp: Die aufgezeigten Grundsätze eröffnen einen sicheren und kostengünstigen Weg in Fällen, in denen nicht eindeutig beurteilt werden kann, welches Gericht für die Entscheidung über die Berufung zuständig ist. Gerichts- und Anwaltsgebühren fallen in dieser Situation grundsätzlich nur einmal an (§ 4 GKG, § 15 Abs. 2 RVG).

Corona-Pandemie: Schweigen einer Partei ersetzt nicht die Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren

Das OLG Düsseldorf hat  entschieden, dass das Schweigen einer Partei auf die Anordnung des schriftlichen Verfahrens auch unter Berücksichtigung der im März 2020 bestehenden COVID-19-Situation nicht als Zustimmung gedeutet werden kann (Beschl. v. 16.07.2020 – I-12 U 26/20).

Das LG hatte im schriftlichen Verfahren nach § 128 ZPO ein klageabweisendes Urteil verkündet. Die erforderliche eindeutige Einverständniserklärung des Klägers hierfür lag nicht vor. Der Kläger beantragte nunmehr Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren und rügte u. a. diesen Verfahrensfehler. Das OLG lehnte die beantragte Prozesskostenhilfe gleichwohl ab.

Allerdings lag hier ein Verfahrensfehler vor. Für die Anordnung des schriftlichen Verfahrens gemäß § 128 ZPO ist eine klare und eindeutige Erklärung beider Parteien erforderlich. Die Corona-Virus-Pandemie und der Umstand, dass die Gerichte teilweise nur im „Notbetrieb“ gelaufen sind, ändert daran nichts. Zwar hatte der Kläger nach der Anordnung des schriftlichen Verfahrens dazu geschwiegen, aber auch dieses Schweigen ersetzt keine Zustimmung. Dieser Verfahrensfehler nötigt jedoch nicht zur Aufhebung und Zurückverweisung, die der Kläger hier erreichen wollte. Dabei kann dahinstehen, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit überhaupt als wesentlicher Verfahrensmangel gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO angesehen werden kann. Denn im konkreten Fall drohte keine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme, wie sie für eine Aufhebung und Zurückverweisung Voraussetzung ist. Vielmehr hätten die erforderlichen Feststellungen, wenn es auf sie ankäme, unproblematisch von dem OLG selbst getroffen werden können. Das OLG Düsseldorf betont in diesem Zusammenhang erneut, dass es für eine Aufhebung und Zurückverweisung gerade nicht ausreichend ist, wenn den Parteien noch Gelegenheit zu weiterem Vortrag zu geben wäre und alsdann möglichweise eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderlich werden sollte (vgl. BGH, Urt. v. 2.3.2017 – VII ZR 154/15, MDR 2017, 842; s. a. Frank O. Fischer MDR 2020, 832 ff.).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat weiterhin deshalb keinen Erfolg, weil es – gerade in der Berufungsinstanz – immer auf die Erfolgsaussicht in der Sache ankommt. Dies bedeutet: Wenn es trotz eines Verfahrensfehlers der ersten Instanz letztlich bei der getroffenen Entscheidung bleiben wird, ist keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen. So aber lagen die Dinge im konkreten Fall.

Fazit: Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 128 ZPO setzt – auch angesichts der gegenwärtigen Corona-Virus-Pandemie – voraus, dass beide Parteien ausdrücklich und vorbehaltlos ihr Einverständnis mit dem schriftlichen Verfahren erklärt haben. Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz kann nicht bewilligt werden, wenn es letztlich bei der angefochtenen Entscheidung bleiben wird, obwohl der ersten Instanz ein Verfahrensfehler unterlaufen ist. Etwas leichter ist es allerdings bei dem Amtsgericht im Verfahren nach § 495a ZPO: Dort kann von Amts wegen im schriftlichen Verfahren entschieden werden. Davon sollte die Praxis derzeit großzügig Gebrauch machen.

OLG Düsseldorf: Versehentliche Doppelanlage einer Akte

In einem Verfahren vor dem OLG Düsseldorf (Beschl. v. 18.7.2019 – I-10 W 75/19) reichte ein Rechtsanwalt bei einem LG eine Klageschrift ein. Vorsichtshalber war diese Klage zuvor gefaxt worden. Das Faxexemplar enthielt den Vermerk „per Fax vorab“, nicht aber das Original. Auf der Geschäftsstelle wurden zwei Akten angelegt. Für beide Vorgänge wurden die Verfahrensgebühren nach Nr. 1210 Anlage I GKG in Rechnung gestellt. Gegen die Kostenrechnung wurde Erinnerung eingelegt, der das LG nicht abhalf. Die Beschwerde nach § 66 Abs. 2 Satz 1 GKG war bei dem OLG Düsseldorf erfolgreich. Den Klägervertreter hat hier der Vermerk „per Fax vorab“ gerettet. Bei derartigen Vorgängen ist nämlich auf den Empfängerhorizont abzustellen. Aus diesem ergibt sich, dass der Rechtsschutz hier nur einmal begehrt wurde. Die Schriftstücke waren erkennbar miteinander verknüpft und gingen im kurzen Abstand ein. Unschädlich ist dabei sogar, dass das Original der Klageschrift nicht mehr den Vermerk „per Fax vorab“ erhielt.

Fehlt allerdings ein solcher Vermerk, handelt es sich um eine fahrlässig verursachte versehentliche Klageeinreichung. In einem solchen Fall fällt die Gebühr zwei Mal an (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.5.1999 – 10 W 45/99, MDR 1999, 1156). Natürlich können die Gebühren durch eine Rücknahme reduziert werden (Nr. 1211 Anlage 1 GKG). Man muss also genau darauf achten, dass man diesen Vermerk anbringt, am besten natürlich sowohl auf dem „Fax-vorab“ als auch auf dem Original.

Es ist verständlich, dass viele Rechtsanwälte ihre Schriftsätze vorsorglich vorab faxen, wenngleich dies für die Geschäftsstellen sehr aufwändig ist und die Akten unnötig dick werden lässt. Es kommt allerdings vor, dass Schriftsätze nicht nur „per Fax vorab“, sondern darüber hinaus noch mit dem beA und auch im Original versandt werden. Davon sollte wirklich Abstand genommen werden. An sich reicht das beA alleine! Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass es in manchen Gerichten durchaus länger dauern kann, bis ein solcher Schriftsatz tatsächlich dem Richter bzw. dem Spruchkörper mit der richtigen Akte vorgelegt wird. In besonderen eiligen Fällen kann es daher ausnahmsweise tatsächlich Sinn ergeben, auch – trotz beA-Versendung – vorab zu faxen. Im Zweifel kann auch einmal ein Anruf bei der Geschäftsstelle helfen.

 

 

 

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Diese Woche geht es um eine eher selten einschlägige Vorschrift aus dem Wohnungsmietrecht – und um den Umgang einer Kirche mit langjährigen Bediensteten

Auflösende Bedingung in einem Wohnungsmietvertrag
Urteil vom 11. November 2020 – VIII ZR 191/18

Mit § 572 Abs. 2 BGB und der Geschäftsgrundlage einer Räumungsvereinbarung befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die Klägerin, eine kirchliche Organisation, vermietete im Jahr 1977 an die Beklagte und deren Ehemann, der seit 1969 als Diakon im Dienst der Klägerin tätig war, ein Reihenhaus. In einer Anlage zum Mietvertrag war vermerkt, das Mietverhältnis ende ohne weiteres mit dem Ausscheiden aus dem kirchlichen Dienst. Als der Ehemann im Jahr 2002 in den Ruhestand trat, wurde das Mietverhältnis fortgesetzt, weil die Beklagte ebenfalls im kirchlichen Dienst tätig war. Im März 2015 bat die Klägerin im Hinblick auf den am 31. Mai desselben Jahres anstehenden Eintritt der Beklagten in den Ruhestand um baldige Vereinbarung eines Rückgabetermins. Ende April unterschrieb die Beklagte anlässlich eines Besichtigungstermins eine Vereinbarung, wonach das Mietverhältnis bis 31.05.2016 zu denselben Konditionen fortgesetzt wird. In der Folgezeit trat sie von der Vereinbarung wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage zurück. Ferner erklärte sie deren Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung. Die Räumungsklage hatte in den beiden ersten Instanzen Erfolg.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Die Vorinstanzen haben die geschlossene Vereinbarung zwar ohne Rechtsfehler als verbindlich angesehen. Mit der vom LG gegebenen Begründung kann aber weder ein wirksamer Rücktritt wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage noch eine wirksame Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung verneint werden.

Aus den Feststellungen des LG ergibt sich, dass beide Parteien davon ausgingen, der Mietvertrag ende mit dem Eintritt in den Ruhestand. Diese Annahme war unzutreffend, weil sich der Vermieter von Wohnraum gemäß § 572 Abs. 2 BGB auf eine Vereinbarung, nach der das Mietverhältnis auflösend bedingt ist, nicht berufen kann. Entgegen der Auffassung des LG gehörte die Frage, ob das Mietverhältnis über den 31.05.2015 hinaus fortbesteht, nicht zum Inhalt der getroffenen Räumungsvereinbarung (was einen Rücktritt gemäß § 779 Abs. 1 BGB ausgeschlossen hätte). Die gemeinsame Fehlvorstellung über das bevorstehende Ende bildete vielmehr die Geschäftsgrundlage der Räumungsvereinbarung.

Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich ferner eine widerrechtliche Drohung seitens der Klägerin. Die von der Beklagten behauptete Ankündigung der Klägerin, ohne Einigung werde sie am 31.05.2015 mit einem Rechtsanwalt vor der Türe stehen und die Beklagte müsse ausziehen, ist angesichts der kurzen Zeit, die der Beklagten bis zu der angedrohten Räumung verblieben wäre, und der angespannten Situation auf dem betreffenden Wohnungsmarkt als widerrechtlich anzusehen.

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LG zu prüfen haben, ob der Beklagten trotz Fehlens der Geschäftsgrundlage ein Festhalten an der Räumungsvereinbarung zumutbar ist und ob die Klägerin die behauptete Drohung tatsächlich ausgesprochen hat.

Praxistipp: Einen Mietvertrag über Wohnraum, der mit Rücksicht auf ein Dienstverhältnis abgeschlossen worden ist, kann der Vermieter nach Beendigung des Dienstverhältnisses gemäß § 576 BGB mit relativ kurzer Frist kündigen. Ansonsten gelten die allgemeinen Bestimmungen, d.h. der Vermieter muss ein berechtigtes Interesse an der Kündigung haben (typischerweise Bedarf für einen neuen Mitarbeiter) und der Mieter kann der Kündigung nach Maßgabe von § 574 BGB widersprechen.

BVerfG: Rechtliches Gehör bei unterbliebener Parteianhörung zu „gerichtskundiger“ Tatsache im Zivilprozess

Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG ist in der oberstgerichtlichen Praxis eine beständige Aufhebungsgrundlage. Im konkreten Fall hat das BVerfG mit Beschl. v. 17.9.2020 – 2 BvR 1605/16, MDR 2020, 1524 eine Entscheidung eines Amtsgerichts wegen mehrfachem Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs aufgehoben. Wichtig für die alltägliche Praxis erscheinen hinsichtlich dieses Beschluss folgende Aspekte:

Nachdem Art. 103 Abs. 1 GG das Recht gibt, sich sowohl zum Sachverhalt als auch zur Rechtslage zu äußern, sind für beide Aspekte dieselben Grundsätze maßgeblich. Dabei muss sich das Gericht nicht mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich befassen. Der wesentliche Kern des Tatsachenvortrages, der von zentraler Bedeutung ist, muss allerdings beschieden werden. Wenn dazu in der angefochtenen Entscheidung nichts geschrieben wurde, muss von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ausgegangen werden.

Die Gerichtskundigkeit einer relevanten Tatsache ist ein Unterfall der Offenkundigkeit nach § 291 ZPO. Wenn das Gericht eine Tatsache als gerichtskundig ansehen möchte, muss es diese jedoch zuvor in den Prozess einführen und darf der betroffenen Partei nicht dadurch den Gegenbeweis abschneiden, dass es erst in der Entscheidung die Gerichtskundigkeit behauptet.

Im konkreten Fall hatte das AG übereinstimmenden Vortrag der Parteien zum Vorliegen von AGB übergangen und war demgegenüber von einer Individualvereinbarungen ausgegangen. Darüber hinaus war das AG von der Angemessenheit einer Forderung der Höhe nach ausgegangen, ohne vorher darauf hinzuweisen, dass die einschlägigen Preise bekannt seien. So hatte die betroffene Partei keine Möglichkeit mehr, diese Erwägungen in Frage zu stellen bzw. einen Gegenbeweis anzutreten.

Fazit: Die Anforderungen an die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs werden immer höher. Als Richter muss man sich bei fast jedem Satz, den man schreibt, die Frage stellen, ob damit nicht schon eine Verletzung des rechtlichen Gehörs verbunden ist.

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Diese Woche geht es um die Folgen einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung in einem Rechtsstreit zwischen Wohnungseigentümern.

Einlegung der Berufung beim unzuständigen Gericht
Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 45/20

Mit dem Verhältnis zwischen § 281 und § 233 ZPO befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Sie streiten über die Berechtigung zur Nutzung einer Terrasse und die Pflicht zur Erstellung von Jahresrechnungen. Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Die Beklagte legte Berufung bei dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen LG ein. Dieses hatte das AG in seiner Rechtsmittelbelehrung als zuständig bezeichnet. Auf einen Hinweis des LG, dass gemäß § 72 Abs. 2 GVG das Gericht am Sitz des OLG zuständig sei, beantragte die Beklagte, den Rechtsstreit entsprechend § 281 ZPO dorthin zu verweisen. Das LG kam dem nicht nach und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Die Voraussetzungen, unter denen eine bei einem unzuständigen Gericht eingelegte Berufung ausnahmsweise entsprechend § 281 ZPO an das zuständige Gericht zu verweisen sind, liegen nach Auffassung des BGH nicht vor, weil es keinem Zweifel unterliege, dass Streitigkeiten der hier in Rede stehenden Art unter den Tatbestand von § 72 Abs. 2 GVG fielen. Die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung des AG führe in solchen Fällen nicht zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 281 ZPO, sondern lediglich dazu, dass der Berufungskläger beim zuständigen Gericht erneut Berufung einlegen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen könne.

Praxistipp: Auch wenn dies mit zusätzlichen Kosten verbunden sein kann, stellt es in der Regel den sichersten Weg dar, die Berufung bei dem Gericht einzulegen, das in der Rechtsbehelfsbelehrung als zuständig bezeichnet wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig zu Tage tritt; wenn dies in Betracht kommt, ist es am sichersten, bei beiden in Frage kommenden Gerichten fristgerecht Berufung einzulegen.

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Diese Woche geht es um einen Mietvertrag mit besonderem Gegenstand.

Vertrag über die Aufstellung eines Geldautomaten als Mietvertrag
Urteil vom 4. November 2020 – XII ZR 104/19

Mit unterschiedlichen Arten von Automatenaufstellverträgen befasst sich der XII. Zivilsenat.

Der Betreiber einer Pizzeria hatte im Juni 2015 eine Teilfläche seines Lokals gegen eine monatliche Miete von 350 Euro zum Betrieb eines Geldautomaten an die Beklagte vermietet. Die Vertragslaufzeit beträgt fünf Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit. Im August 2017 kündigte der Vermieter das Mietverhältnis zum Jahresende. Die Beklagte wies die vorzeitige Kündigung zurück und bestätigte eine fristgerechte Kündigung zum 31.03.2020. Die Klägerin, die die Fläche für die Aufstellung eines eigenen Geldautomaten nutzen will, begehrt aus abgetretenem Recht des Vermieters die Räumung. Das LG verurteilte die Beklagte antragsgemäß. Das OLG wies die Klage ab.

Die Revision der Klägerin führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Räumungsurteils – allerdings nur deshalb, weil die fünfjährige Laufzeit des Vertrags mittlerweile beendet ist.

Der BGH tritt dem OLG darin bei, dass der Vertrag über die Aufstellung des Geldautomaten als Raummietvertrag zu qualifizieren ist. Anders als bei Verträgen über die Aufstellung von Spielautomaten – bei denen die Eingliederung des Automaten in den Betrieb der Gaststätte im Vordergrund steht und die deshalb als Gestattungsvertrag eigener Art anzusehen sind – geht es bei Geldautomaten im Wesentlichen um die Überlassung der benötigten Fläche.

Der BGH tritt dem OLG auch darin bei, dass die Vereinbarung über die Mindestlaufzeit von fünf Jahren formwirksam ist. Beim Abschluss des Vertrags haben die Vertragsparteien die in § 550 Satz 1 BGB vorgeschriebene Form zwar nicht gewahrt, weil sie nur die Vorderseite des beidseitig bedruckten Vertragsformulars unterschrieben haben. Ein wenige Monate später vereinbarter Nachtrag, der inhaltlich auf den ursprünglichen Vertrag Bezug nimmt, ist aber ordnungsgemäß unterschrieben. Dies reicht für die Einhaltung der – weniger strengen Anforderungen als nach § 126 BGB – unterliegenden Schriftform nach § 550 Satz 1 BGB aus.

Die Revision bleibt im Ergebnis dennoch erfolglos, weil die vereinbarte Laufzeit mittlerweile beendet ist. Dieser Umstand ist zwar erst während des Revisionsverfahrens eingetreten. Der BGH darf ihn aber berücksichtigen, weil er unstreitig ist und schützenswerte Belange einer Partei nicht entgegenstehen. Das Vorbringen der Beklagten, sie habe während des Revisionsverfahrens mit dem Vermieter einen neuen Vertrag geschlossen und sei deshalb wieder zum Besitz berechtigt, lässt der BGH demgegenüber unberücksichtigt, weil es streitig geblieben ist.

Praxistipp: Will der Beklagte in der gegebenen Konstellation ein allein aufgrund des Zeitablaufs ergehendes Räumungsurteil vermeiden, muss er den neuen Mietvertrag vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz abschließen und den Abschluss des Vertrags spätestens in dieser Verhandlung vortragen.

Stichtag 1.12.2020: Inkrafttreten der WEG-Refom

Am 1.12.2020 tritt die wohl umfassendste Reform des Wohnungseigentumsrechts seit seiner Schaffung im Jahr 1951 in Kraft. Kaum ein Stein bleibt auf dem anderen. Der Verband der Wohnungseigentümer – in Zukunft: die „Gemeinschaft der Wohnungseigentümer“ – wird voll rechtsfähig und ist Träger der Verwaltung. Er entsteht bereits mit der Anlegung der Wohnungsgrundbücher, so dass im Fall der Teilung des Grundstücks eine „Ein-Personen-Gemeinschaft“ existiert. Der Verwalter erhält fast unbeschränkte und unbeschränkbare Vertretungsmacht für die Gemeinschaft und kann jederzeit von den Wohnungseigentümern abberufen werden. Sondereigentum ist jetzt auch an Freiflächen möglich. Bauliche Veränderungen können zukünftig grundsätzlich mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Jeder Wohnungseigentümer kann verlangen, dass ihm der Bau einer Ladestation für sein E-Auto gestattet wird. Für Versammlungen gibt es kein Quorum für die Beschlussfähigkeit mehr.  Beschlussanfechtungsklagen sind gegen die Gemeinschaft zu richten. Die Liste der tiefgreifenden Änderungen ließe sich noch ein gutes Stück fortsetzen.

In den Wohnungseigentumsanlagen wird sich daher in Zukunft vieles ändern. Aber nicht nur praktisch, sondern auch dogmatisch ist ein Umdenken angesagt. Das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz (WEMoG) nähert das WEG dem übrigen Verbandsrecht an, wenn es um die Rechtsstellung der  Gemeinschaft im Rechtsverkehr oder die Binnenrechtsbeziehungen zwischen Gemeinschaft, Wohnungseigentümern, Verwalter und Beirat geht. Hier hat der Gesetzgeber sich an die Strukturen von GmbH, AG und Verein angelehnt, so dass die dort entwickelten Lösungen auch für das WEG fruchtbar gemacht werden können. Auch wenn das WEG so für die meisten Juristen klarer wird, ist dies für Wohnungseigentümer und Verwalter nicht unbedingt der Fall. Mit der konzeptionellen Klarheit einher geht nämlich eine „Bereinigung von Selbstverständlichkeiten“, also die Streichung vermeintlich überflüssiger Regelungen. So findet sich die bisher in § 27 Abs. 1 Nr. 1 WEG geregelte Aufgabe des Verwalters, Beschlüsse der Wohnungseigentümer durchzuführen, im neuen WEG nicht mehr. Damit wollte der Gesetzgeber ihn aber keineswegs von der Pflicht entbinden. Er war nur der Ansicht, es bedürfe der Regelung nicht, weil sich diese Pflicht des Verwalters unmittelbar aus seiner Stellung als Vollzugsorgan ergebe.  Dies mag zwar so sein, sorgt aber nicht unbedingt für Rechtssicherheit.

Trotzdem lässt sich als erstes Fazit sagen, dass das neue WEG einen erheblichen und dringend notwendigen Fortschritt darstellt. Die neuen zahlreichen Rechtsfragen werden aber die Gerichte in der nächsten Jahren gut beschäftigen.

Hinweis: Ein zweiteiliger Beitrag, der die Neuregelungen vorstellt, beginnt in MDR 2020, 1409 und wird in Heft 24/2020 fortgesetzt.