Montagsblog: Neues vom BGH

Gewährleistungsrechte vor Abnahme des Werks
Urteil vom 19. Januar 2017 – VII ZR 301/13

Eine sehr umstrittene Frage beantwortet der VII. Zivilsenat in drei für BGHZ bestimmten Entscheidungen (VII ZR 301/13, VII ZR 193/15 und VII ZR 235/15), von denen die erste jetzt zugänglich ist.

Der später verstorbene Schwiegersohn des Klägers hatte die Beklagte mit Fassadenarbeiten an zwei unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden betraut. Nach Fertigstellung verweigerte der Besteller die Abnahme mit der Begründung, das zum Anstrich verwendete Material entspreche nicht den vertraglichen Anforderungen. Ein selbständiges Beweisverfahren bestätigte den erhobenen Vorwurf. Die daraufhin erhobene Klage auf Zahlung eines Vorschusses auf die Kosten der Mängelbeseitigung hatte in den beiden ersten Instanzen Erfolg.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er entscheidet, dass die in § 634 BGB vorgesehenen Gewährleistungsrechte grundsätzlich erst mit Abnahme des Werks entstehen, und zwar auch dann, wenn der Besteller die Abnahme nach Fertigstellung des Werks in Hinblick auf Mängel zu Recht verweigert. Vor der Abnahme kann der Besteller nach allgemeinen Regeln die mängelfreie Herstellung des Werks und nach Maßgabe von § 280 und § 281 BGB Schadensersatz verlangen. Gewährleistungsrechte darf er nur dann geltend machen, wenn der Vertrag in ein Abrechnungsschuldverhältnis übergegangen ist. Letzteres setzt voraus, dass der Besteller nur noch Schadensersatz statt der Leistung oder Minderung des Werklohns verlangt oder wenn er zum Ausdruck bringt, unter keinen Umständen mehr mit dem Unternehmer zusammenarbeiten zu wollen. Das bloße Verlangen eines Vorschusses auf die Kosten der Mängelbeseitigung reicht dafür nicht aus.

Praxistipp: Trotz der aufgezeigten Beschränkungen ist es für einen Besteller, der einen der Abnahme entgegenstehenden Werkmangel rechtzeitig erkannt hat, in der Regel vorteilhaft, die Abnahme zu verweigern.

Doppelte (qualifizierte) Schriftformklausel und Schriftformheilungsklausel in langfristigem Gewerbemietvertrag
Beschluss vom 25. Januar 2017 – XII ZR 69/16

Mit den Konsequenzen des Formerfordernisses aus § 550 BGB befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Parteien stritten über die vorzeitige Kündigung eines auf zwei Jahre fest abgeschlossenen Mietvertrags über Gewerberäume. Der ursprüngliche Mietvertrag war vom früheren Eigentümer mit einem anderen Mieter auf unbestimmte Zeit abgeschlossen worden. Als Nutzungszweck waren darin Lagerung und Verkauf von Stoffen und Kurzwaren vereinbart worden. Wenig später hatten sich die Vertragsparteien formlos darauf geeinigt, dass der Mieter auch einen Getränkehandel betreiben darf. Nach einiger Zeit trat der Beklagte, der ebenfalls einen Getränkehandel betrieb, anstelle des ersten Mieters in das Mietverhältnis ein. Nach der Veräußerung des Anwesens an die Klägerin vereinbarte diese mit dem neuen Mieter in einem schriftlichen Nachtrag eine feste Laufzeit bis 31.12.2016. Wenig später kündigte sie den Mietvertrag fristlos und hilfsweise fristgerecht zum nächstmöglichen Kündigungstermin. Die Räumungsklage hatte in den beiden ersten Instanzen Erfolg, vor dem OLG allerdings nur aufgrund der ordentlichen Kündigung.

Der BGH, der gemäß § 91a ZPO nur noch über die Kosten zu entscheiden hatte, tritt dem OLG in Ergebnis und Begründung bei. Die vereinbarte Befristung genügt nicht dem Formerfordernis des § 550 BGB, weil die von den Parteien geschlossene Nachtragsvereinbarung und der darin in Bezug genommene ursprüngliche Mietvertrag nicht den gesamten Inhalt des Mietverhältnisses wiedergeben. Die zwischen dem früheren Vermieter und dem früheren Mieter getroffene Vereinbarung über die Änderung des Nutzungszwecks hätte ebenfalls schriftlich geschlossen werden müssen. Der BGH sieht die formlose Änderungsvereinbarung als wirksam an, obwohl der ursprüngliche Mietvertrag eine „doppelte“ Schriftformklausel enthält, wonach jede Vertragsänderung der Schriftform bedarf und dies auch für eine Änderung der Schriftformklausel gilt. Der BGH lässt offen, ob eine solche Vereinbarung in AGB wirksam getroffen werden kann, und sieht eine nicht dem Formerfordernis genügende Vertragsänderung jedenfalls aufgrund des Vorrangs von Individualabreden als wirksam an. Im Ergebnis ebenfalls wirkungslos blieb eine im ursprünglichen Vertrag daneben enthaltene Klausel, wonach die Vertragsparteien jederzeit verpflichtet sind, alle Erklärungen abzugeben, die erforderlich sind, um dem Schriftformerfordernis des § 550 BGB gerecht zu werden. Eine solche Heilungsklausel darf nach Sinn und Zweck des § 550 BGB jedenfalls nicht einem Vermieter entgegengehalten werden, der als Erwerber des Grundstücks in einen bestehenden Mietvertrag eingetreten ist. Dies gilt auch dann, wenn er die längere Laufzeit selbst vereinbart hat.

Praxistipp: Um Zweifel an der Wirksamkeit zu vermeiden, sollte eine Laufzeitverlängerung nicht durch Bezugnahme auf den früheren Vertrag, sondern durch vollständige Neubeurkundung des gesamten Vertragsverhältnisses erfolgen.

Gesetzentwurf zur Erhöhung der Betreuervergütung veröffentlicht

In einer am 15.2.2017 veröffentlichten Formulierungshilfe der Bundesregierung für einen Änderungsantrag der Regierungsfraktionen zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates für ein Gesetz zur Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten unter Ehegatten und Lebenspartnern in Angelegenheiten der Gesundheitssorge und in Fürsorgeangelegenheiten wird vorgeschlagen, die Vergütungssätze in §§ 3, 4 VBVG anzuheben (vgl. Art. 7):

„§ 3 Absatz 1 wird wie folgt geändert:
a) In Satz 1 wird die Angabe „19,50“ durch die Angabe „22,50“ ersetzt.
b) Satz 2 wird wie folgt geändert:
aa) In Nummer 1 wird die Angabe „25“ durch die Angabe „29“ ersetzt.
bb) In Nummer 2 wird die Angabe „33,50“ durch die Angabe „38,50“ ersetzt.

§ 4 Absatz 1 wird wie folgt geändert:
a) In Satz 1 wird die Angabe „27“ durch die Angabe „31“ ersetzt.
b) Satz 2 wird wie folgt geändert:
aa) In Nummer 1 wird die Angabe „33,50“ durch die Angabe „38,50“ ersetzt.
bb) In Nummer 2 wird die Angabe „44“ durch die Angabe „50,50“ ersetzt.“

Der Rechtsanwalt als Betreuer würde also künftig nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VBVG einen Stundensatz von EUR 50,50 brutto erhalten.

Die Formulierungshilfe ist erreichbar unter:

http://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/FH_Betreuerverguetung.pdf?__blob=publicationFile&v=1

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Beweislastumkehr für Schadensursachen im Verantwortungsbereich des Schuldners
Urteil vom 12. Januar 2017 – III ZR 4/16

Eine allgemeine Frage der Beweislastverteilung behandelt der III. Zivilsenat im Zusammenhang mit einem Pferdepensionsvertrag.

Die Klägerin hatte ein vierjähriges Pferd bei dem Reitstall des Beklagten in Vollberitt gegeben. Nach einigen Monaten erlitt das Tier eine schwere Verletzung, als es beim Freilauf unter Aufsicht einer Praktikantin mit dem Kopf gegen eine Stahlstütze stieß. Die auf Schadensersatz gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Mit dem OLG ist er allerdings der Ansicht, dass der Schwerpunkt des Vertrags nicht im Verwahrungsrecht, sondern im Dienstvertragsrecht liegt, weil die Ausbildung des Pferdes im Streitfall deutlich im Vordergrund stand. Deshalb obliegt es grundsätzlich der Klägerin, eine Pflichtverletzung des Beklagten zu beweisen. Im Streitfall tritt aber eine Beweislastumkehr ein, weil der Schaden im Gefahren- und Verantwortungsbereich des Beklagten entstanden ist und die ungewöhnlichen Umstände, unter denen es zu dem Schaden kam, auf einen Pflichtenverstoß hindeuten.

Praxistipp: Um die Beweislastumkehr zu erreichen, muss der Geschädigte darlegen und erforderlichenfalls beweisen, weshalb die Schadensursache aus dem Gefahren- und Verantwortungsbereich des Schuldners hervorgegangen ist und weshalb ein ungewöhnlicher Kausalverlauf vorliegt.

Handlungsort bei unerlaubter Kapitalanlagevermittlung
Urteil vom 18. Oktober 2016 – VI ZR 618/15

Mit der internationalen Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der Kläger nahm den in der Schweiz wohnhaften Beklagten als Alleinaktionär und Vorstand einer in Liechtenstein ansässigen Aktiengesellschaft wegen unerlaubter Erbringung von Finanzdienstleistungen in Anspruch. Die als Finanzdienstleister fungierende Aktiengesellschaft hatte in Deutschland kein Büro und keine festen Angestellten. Als Vermittler war ein in Deutschland ansässiger Versicherungsmakler aufgetreten. Der Vertragsschluss fand in der Schweiz statt. Das LG wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit als unzulässig ab. Das OLG sah die Klage als zulässig an und verwies die Sache in die erste Instanz zurück.

Der BGH stellt die erstinstanzliche Entscheidung wieder her. Mit dem OLG kommt er zu dem Ergebnis, dass kein inländischer Erfolgsort vorliegt, weil der Vertragsschluss in der Schweiz erfolgte und die Anlagesumme von einem Schweizer Konto des Klägers überwiesen wurde. Abweichend vom OLG verneint der BGH auch einen inländischen Handlungsort. Die Handlungen des in Deutschland aufgetretenen Vermittlers können dem Beklagten nicht zuständigkeitsbegründend zugerechnet werden. Wenn ein Schaden von mehreren Personen verursacht wurde, dürfen nach der Rechtsprechung des EuGH nur diejenigen Personen im Inland verklagt werden, die dort selbst tätig geworden sind.

Praxistipp: Ein die Zuständigkeit begründender Erfolgsort liegt schon dann vor, der Anlagebetrag von einem deutschen Konto überwiesen wird.

Automatisiertes Fahren: Und wenn’s rummst, dann war’s diesmal wirklich keiner?!

Eine Vision wie aus einem Science-Fiction-Film: Fahrzeuge, die wie von Geisterhand gesteuert auf unsichtbaren Schienen durch die Luft zwischen riesigen Gebäuden gleiten, Fahrgäste und Piloten, die sich inzwischen mit weitaus angenehmeren Dingen als der Fahrzeugführung beschäftigen können… ganz soweit hat es die moderne Verkehrstechnik zwar noch nicht gebracht. Doch mit der computergesteuerten Elektronik des autonomen Fahrens dringt das Automobil in Sphären vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

So wie – einem Sprichwort nach – in jedem Risiko zugleich eine Chance liegt, liegt in jeder Chance aber auch ein Risiko. Im modernen Rechtsstaat ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, durch neue Technologien bedingte Risiken im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zu minimieren und abzufedern.

Einen aktuellen Versuch dazu hat nun Bundesverkehrsminister Dobrindt unternommen: Ein Gesetzentwurf sieht die Zulassung von Fahrzeugen vor, in denen „Kollege Computer“ für eine bestimmte Zeit und in bestimmten Situationen die Kontrolle über das Fahrzeug übernimmt. Damit soll der Sprung von reinen Fahrerassistenzsystemen zum teilautomatisierten Fahren (Der Fahrer muss das System dauerhaft überwachen und jederzeit zur vollständigen Übernahme der Fahraufgabe bereit sein) und dann zum hochautomatisierten Fahren (Der Fahrer muss das System nicht dauerhaft überwachen. Das System warnt den Fahrer aber rechtzeitig, wenn dieser eingreifen muss) geschafft werden. Als nächste Stufen sollen folgen:

  • das vollautomatisierte Fahren: Der Fahrer muss das System nicht überwachen. Das System ist in allen Situationen in der Lage, einen „risikominimalen“ Zustand herzustellen

und zu guter Letzt:

  • das autonome („fahrerloses“) Fahren: Das System übernimmt das Fahrzeug vollständig vom Start bis zum Ziel; alle im Fahrzeug befindlichen Personen sind nur Passagiere.

Das voll-autonome Fahren soll nicht vor 2030 Realität werden. So bleibt vorerst noch der Mensch verantwortlich. Er bestimmt, wann und in welchen Situationen er dem Computer „das Steuer überlässt“. Und er muss auch jederzeit dazu in der Lage sein, in kritischen Situationen die Kontrolle wieder an sich zu reißen. Zwar darf sich der Fahrer während der Fahrt mit anderen Dingen beschäftigen – wie eine traurige Bilanz es allerdings beweist, tun dies viele Handy- und Smartphone-Nutzer ohnehin schon jetzt – im Falle eines Falles muss aber er „sofort und unverzüglich“ das Heft wieder selbst in die Hand nehmen. Daran entzündet sich auch ein Großteil der Kritik: wie abgelenkt darf der Fahrer und wie aufmerksam muss er sein? Und kann er sich auf ein Versagen der Technik berufen? Um eine Abgrenzung zur Produzentenhaftung zu ermöglichen, soll – wie im Flugzeug – eine „Blackbox“ die wesentlichen Daten der Fahrt aufzeichnen. Eine wirkliche Lösung scheint das Gesetz nicht zu bieten; damit bleibt wohl für die Rechtsprechung viel zu tun. Eindeutig sind nur die Fälle, in denen entweder der Mensch oder der Computer die alleinige Verantwortung trägt: sonst wird’s immer der eine auf den anderen schieben.

LG Essen: Routerzwang auch Bestandskunden aufgehoben

Das Gesetz mit dem sperrigen Namen Gesetz über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen (FTEG) brachte im Januar 2016 eine Neuerung auf den – in diese Hinsicht verkrusteten – deutschen Markt der Internetzugangsanbieter: Die bis dahin weit verbreitete Praxis des Routerzwangs wurde untersagt, dem Teilnehmer die Wahl des Endgerätes gestattet mit einem Recht auf Zugang zu den erforderlichen Zugangsdaten, die bis dahin oft in den Endgeräten vor einem Zugriff Dritter „versteckt“ wurden:

§ 11 Abs. 3 FTEG lautet:

Die Betreiber öffentlicher Telekommunikationsnetze und die Anbieter von öffentlich zugänglichen Telekommunikationsdiensten dürfen den Anschluss von Telekommunikationsendeinrichtungen an das öffentliche Telekommunikationsnetz nicht verweigern, wenn die Telekommunikationsendeinrichtungen die grundlegenden Anforderungen nach § 3 Absatz 1 erfüllen. Sie können dem Teilnehmer Telekommunikationsendeinrichtungen überlassen, dürfen aber deren Anschluss und Nutzung nicht zwingend vorschreiben. Notwendige Zugangsdaten und Informationen für den Anschluss von Telekommunikationsendeinrichtungen und die Nutzung der Telekommunikationsdienste haben sie dem Teilnehmer in Textform, unaufgefordert und kostenfrei bei Vertragsschluss zur Verfügung zu stellen.

Ein Teilnehmer wollte nun im vergangenen Jahr von diesem Recht Gebrauch machen und forderte die Zugangsdaten von seinem Internetprovider heraus, der dies mit Verweis auf die Bestandskundeneigenschaft verweigerte. Aus dem Wortlaut der Norm („bei Vertragsschluss“) bezöge sich diese Verpflichtung nur auf Neukunden. Hiergegen wandte sich die Verbraucherzentrale NRW mit Erfolg vor dem LG Essen. Die Regelung sei vom Wortlaut her (eher fraglich), aber auch von dem europarechtlichen Hintergrund so auszulegen, dass sie auch Bestandskunden eine freie Endgerätewahl ermöglich soll.

 

LG Essen Urteil vom 23.09.2016 Az.: 45 O 56/16

Berufen des Gerichtskostenschuldners auf § 10 Kostenverfügung?

Das BSG hatte sich in einer Entscheidung vom 3.11.2016 (B 13 SF 18/16 S) mit der Frage zu befassen, ob sich ein Gerichtskostenschuldner auf § 10 Kostenverfügung (KostVfg) berufen kann. Die Vorschrift regelt, in welchen Fällen das Gericht von einem Gerichtskostenansatz (bzw. Erteilung einer Gerichtskostenrechnung) bei Unvermögen des Kostenschuldners absehen kann oder muss. Bei der Kostenverfügung handelt es sich um eine Verwaltungsvorschrift. Dementsprechend hat das BSG die Rechtmäßigkeit des Kostenansatzes nicht im Hinblick auf § 10 KostVfG in Frage gestellt. Der Kostenansatz sei nach § 1 Abs. 2 Nr 3, § 19 Abs. 1 S 1 Nr 2 GKG eine gebundene Entscheidung, die als Verwaltungsakt im Verhältnis zum Bürger als Kostenschuldner ergehe. § 10 KostVfg betreffe als Verwaltungsvorschrift nur das Innenverhältnis zwischen dem Kostengläubiger und dem Kostenbeamten, lasse jedoch im Außenverhältnis die Existenz des Kostenanspruchs unberührt. Ein Recht des Kostenschuldners aus § 10 KostVfG auf Beachtung dieser Vorschrift durch den Kostenbeamten bestehe nicht.

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Ablehnung eines Sachverständigen wegen vorheriger Tätigkeit als Privatgutachter oder Schlichter
Beschluss vom 13. Dezember 2016 – VI ZB 1/16
Beschluss vom 10. Januar 2017 – VI ZB 31/16

Mit den Voraussetzungen für die Ablehnung eines gerichtlichen Sachverständigen befasst sich der VI. Zivilsenat in zwei kurz aufeinander ergangenen und zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichten Beschlüssen.

Im ersten Fall hatte der in einem selbständigen Beweisverfahren vom Gericht bestellte medizinische Sachverständige den Antragsteller bereits in einem vorangegangenen Verfahren vor der Gutachter- und Schlichtungsstelle der Landesärztekammer begutachtet. Im zweiten Fall, in dem es um eine nach Auffassung des Klägers schon ihrer Bauart nach fehlerhafte Hüftprothese ging, hatte der vom Gericht bestellte Sachverständige anlässlich eines Rechtsstreits des Beklagten mit einem anderen Kläger im Auftrag des Beklagten ein Privatgutachten gestellt, das sich nach dem Vortrag des Klägers mit einer Hüftprothese desselben Typs befasste. In beiden Fällen hielten LG und OLG das Ablehnungsgesuch des Antragstellers bzw. Klägers für unbegründet.

Der BGH hebt beide Beschwerdeentscheidungen auf.

Im ersten Fall hält er das Ablehnungsgesuch schon deshalb gemäß § 41 Nr. 8 ZPO für begründet, weil das Verfahren vor der Landesärztekammer der außergerichtlichen Konfliktbeilegung diente. Diese Vorschrift ist kraft der Verweisung in § 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO auch für Sachverständige anwendbar. Für eine teleologische Reduktion besteht kein Anlass, auch wenn dem Gesetzgeber der Zusammenhang zwischen den beiden Vorschriften nicht vor Augen gestanden haben mag. § 41 Nr. 8 ZPO soll eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre im außergerichtlichen Verfahren gewährleisten. Dieses Ziel wäre gefährdet, wenn ein Beteiligter befürchten müsste, dass der Sachverständige seine in diesem Verfahren gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse ins spätere gerichtliche Verfahren transportiert.

Im zweiten Fall verweist der BGH die Sache an das OLG zurück. Wenn ein gerichtlicher Sachverständiger in derselben Sache bereits ein Privatgutachten für eine Prozesspartei oder deren Versicherer erstellt hat, besteht regelmäßig die Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 42 Abs. 2 ZPO. Dasselbe gilt, wenn der Sachverständige für einen nicht unmittelbar oder mittelbar am Rechtsstreit beteiligten Dritten ein entgeltliches Privatgutachten zu einem gleichartigen Sachverhalt erstattet. Entgegen der Auffassung des OLG besteht in solchen Fällen auch dann ein Ablehnungsgrund, wenn auf dem betroffenen Sachgebiet nur wenige qualifizierte Sachverständige zur Verfügung stehen. Das OLG wird deshalb nach Zurückverweisung zu klären haben, ob das Privatgutachten tatsächlich eine Hüftprothese desselben oder zumindest eines vergleichbaren Typs betraf.

Praxistipp: Gemäß § 406 Abs. 2 ZPO ist ein Ablehnungsgesuch gegen einen gerichtlichen Sachverständigen innerhalb von zwei Wochen nach Ernennung anzubringen. Ein späteres Gesuch ist nur zulässig, wenn der Antragsteller ohne sein Verschulden gehindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen.

Anscheinsbeweis bei Auffahrunfall auf der Autobahn
Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16

Mit den Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises befasst sich ebenfalls der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin fuhr mit ihrem Motorrad auf der Autobahn auf einen Kastenwagen auf. Nach dem Vortrag der Klägerin hatte der Kastenwagen auf der Überholspur plötzlich stark abgebremst und war dann ruckartig auf die rechte Fahrspur gewechselt, auf der die Klägerin fuhr. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH weist die Revision der Klägerin zurück. Mit dem OLG ist er der Auffassung, dass ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden der Klägerin spricht, weil diese auf das andere Fahrzeug aufgefahren ist. Dieser Anscheinsbeweis wäre zwar erschüttert, wenn der Unfallgegner kurz zuvor die Spur gewechselt hätte. Die Beweislast für diesen Umstand liegt aber bei der Klägerin. Im Streitfall vermochte das OLG nach Beweisaufnahme einen Spurwechsel nicht festzustellen. Deshalb ist der Anscheinsbeweis nicht erschüttert.

Praxistipp: Angesichts der aufgezeigten Beweislastverteilung sollte die Partei, zu deren Ungunsten ein Anscheinsbeweis in Betracht kommt, darauf achten, schon denjenigen Tatsachenbehauptungen, die einen typischen Geschehensablauf nahelegen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten.

BGH: Unterlassung im Wettbewerbsrecht kann Rückruf von Produkten erfordern

Ein Unterlassen umfasst nicht nur das schlichte Nichttun. Wie weit aber Handlungspflichten reichen können, war im Lauterkeitsrecht nach der Rechtsprechung nicht klar, wobei durch eine jüngere BGH-Entscheidung der Umfang der möglichen Handlungspflichten erweitert wird.

Der BGH führt aus:

Ist der Unterlassungsschuldner danach zur Vornahme von Handlungen verpflichtet, kann dies, wie das Beschwerdegericht mit Recht angenommen hat, die Verpflichtung umfassen, auf Dritte einzuwirken, um diese zu einem Tun oder einem Unterlassen anzuhalten. Der Schuldner eines Unterlassungsanspruchs hat zwar für das selbständige Handeln Dritter grundsätzlich nicht einzustehen. Er ist jedoch gehalten, auf Dritte, deren Handeln ihm wirtschaftlich zugutekommt, einzuwirken, wenn er mit einem Verstoß ernstlich rechnen muss und zudem rechtliche und tatsächliche Einflussmöglichkeiten auf das Verhalten der Dritten hat (vgl. BGH, GRUR 2014, 595 Rn. 26 – Vertragsstrafenklausel). Er ist verpflichtet, im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren auf Dritte einzuwirken, soweit dies zur Beseitigung eines fortdauernden Störungszustands erforderlich ist (BGH, GRUR 2015, 258 Rn. 70 – CT-Paradies). Danach muss ein Schuldner, dem gerichtlich untersagt worden ist, ein Produkt mit einer bestimmten Aufmachung zu vertreiben oder für ein Produkt mit bestimmten Angaben zu werben, grundsätzlich durch einen Rückruf des Produkts dafür sorgen, dassbereits ausgelieferte Produkte von seinen Abnehmern nicht weiter vertrieben werden[…].

Praxistipp

Dem Unterlassungsgläubiger ist daher nach Zustellung eines Unterlassungstitels (oder Zustandekommen einer vertraglichen Unterlassungsverpflichtung) dazu zu raten, sofort auch an seine Abnehmer heranzutreten, um Produkte zurückzurufen. Dies sollte unbedingt auch gewissenhaft dokumentiert werden. Gelingt ein vollständiger Produktrückruf trotz ausreichender Bemühungen nicht, dürfte die Festsetzung eines Ordnungsgeldes oder die Fälligstellung einer Vertragsstrafe am fehlenden Verschulden scheitern. Vor Abgabe einer Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung sollten, wenn dem Schuldner durch ein unbefristetes Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstünden und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung der Wettbewerbswidrigkeit nicht unzumutbar beeinträchtigt werden,mit dem Unterlassungsgläubiger auch die Möglichkeiten einer angemessenen Aufbrauchfrist erörtert werden.

BGH Beschluss vom 29.09.2017 I ZB 34/15

Vom „Zer-entscheiden“ von neuen Gesetzen

Im Rahmen eines Rechtsstreites wegen Schadensersatzes aufgrund eines angeblich nur vorgeschobenen Eigenbedarfs hat der BGH (Beschl. v. 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, MDR 2017, 21) – obwohl im Rahmen dieser Entscheidung eigentlich gar nicht unbedingt veranlasst (!) – folgende Ausführungen vorgelegt:

„Für das weitere Berufungsverfahren sieht der Senat Anlass zu folgenden Hinweisen im Hinblick auf die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts und auf die Darlegungslast des Vermieters bei einem im Anschluss an den Auszug des Mieters nicht verwirklichten Eigenbedarf:

  1. Die bisherigen Ausführungen des Berufungsgerichts zum Umfang seiner Prüfungskompetenz lassen besorgen, dass es verkannt hat, dass diese nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt ist. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles besteht (…). Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, anders als das Berufungsgericht offenbar gemeint hat, auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (…). Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es somit zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (…). Hält es das Berufungsgericht – wie hier – für denkbar, dass die von der Berufung aufgeworfenen Fragen zu einer anderen Würdigung führen können, besteht Anlass für die Überlegung, ob für die andere Würdigung zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht und deshalb Anlass zu einer Wiederholung der Beweisaufnahme besteht.“

Mit diesem Begründungsmuster lässt sich praktisch jede Entscheidung eines Berufungsgerichts – entsprechenden Vortrag durch den Revisionsanwalt unterstellt – unproblematisch aufheben. Jede Beweisaufnahme ist notwendig immer nur eine Momentaufnahme. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei einer Wiederholung etwas anderes herauskommt, besteht immer. Dies liegt – wie es so schön heißt – in der Natur der Sache.

Diese Sichtweise ist ein gutes Beispiel dafür, wie es der höchstrichterlichen Rechtsprechung immer wieder gelingt, echte Reformen im Sande verlaufen zu lassen. Mit der einschränkenden Prüfungskompetenz durch die Berufungsgerichte wird es in einigen Jahre voraussichtlich genauso ergehen, wie mit der Zurückweisung des verspäteten Vorbringens heute: Der Gesetzgeber hatte diese Vorschriften seinerzeit vor Jahrzehnten mit Bedacht eingeführt, um die Prozesse zu beschleunigen. Das Ergebnis nach mehreren Jahren und unzähligen Entscheidungen des BGH sowie des BVerfG: Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens ist faktisch nicht mehr möglich. Eine Zurückweisung findet in der Praxis demgemäß überwiegend auch gar nicht mehr statt. Die Prognose: In spätestens zehn Jahren werden die Berufungsgerichte vom BGH, vor allem von dem Mietsenat, dazu verpflichtet werden, alle Beweisaufnahmen erster Instanz zu wiederholen. Man weiß ja schließlich nie …

So werden sinnvolle Reformversuche durch die höchstrichterliche Rechtsprechung immer wieder aufs Neue „zer-entschieden“. Der Gesetzgeber kann machen, was er will. Es bleibt im Laufe der Zeit alles beim Alten.

Unterschrift auf Gerichtskostenrechnung?

Bei schriftlichen Urteilen und Beschlüssen muss die Urschrift von den erlassenden Richtern unterzeichnet sein. Die Ausfertigungen oder beglaubigten Abschriften müssen erkennen lassen, dass die Urschrift unterzeichnet wurde.

Anders liegt es aber bei der Gerichtskostenrechnung, so der VGH München (Beschluss vom 28.12.2016 – 13 M 6.2464) zur Rechtslage im Bundesland Bayern. Bei der Kostenrechnung handele es sich um einen Kostenansatz nach § 19 GKG, der seiner Rechtsnatur nach ein Verwaltungsakt sei. Nach Art. 2 Abs. 3 Nr. 1 und 37 Abs. 5 BayVwVfg können Unterschrift und Namenswiedergabe des Kostenbeamten fehlen. Die erlassende Behörde muss aber erkennbar sein.