Anwaltsblog 32/2024: Anforderungen an das Verfahren bei Zurückweisung der Berufung durch Beschluss

 

Die ZPO enthält keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt bei beabsichtigter Zurückweisung der Berufung durch Beschluss der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Ob ein Hinweis des Berufungsgerichts bereits vor Vorliegen der Berufungsbegründung ausreicht, hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 – XII ZR 92/22):

 

Die Parteien – der Kläger ist der Bruder der Geschäftsführerin der Beklagten – streiten nach einem Erbfall um die Herausgabe eines Grundstücks. Das Landgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2022 verkündet. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte am 28. April 2022 „Berufung und Vollstreckungsschutzantrag“ eingelegt und beantragt, durch Vorabentscheidung das angefochtene Urteil in seinem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen. Das OLG hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt und mit einem im schriftlichen Verfahren erlassenen Teilurteil vom 23. Juni 2022 den Antrag auf Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit zurückgewiesen. Ebenfalls am 23. Juni 2022 hat das OLG einen Beschluss mit dem Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos erlassen. Die Beklagte hat die Berufung mit einem am 24. August 2022 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Im Anschluss daran hat das Berufungsgericht am 5. September 2022 seinen Zurückweisungsbeschluss erlassen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Das OLG hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28. April 2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.

 

Fazit: Der nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung der Berufung kann erst nach dem Vorliegen der Berufungsbegründung einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel erteilt werden (zum Verfahren: Heßler in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 522 Rn. 31).

Anwaltsblog 31/2024: Verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei

Wieder einmal musste der BGH ein OLG korrigieren, das überspannte Anforderung an die Substantiierungspflicht gestellt hatte (BGH, Beschluss vom 25. April 2024 – III ZR 54/23):

 

Dem Kläger wurde am 13. August 2019 die Fahrerlaubnis entzogen. Das Verwaltungsgericht hob den Bescheid auf und wies den Beklagten an, den Führerschein zurückzugeben, was im Februar 2021 erfolgte. Der Kläger, der im fraglichen Zeitraum bei einem Unternehmen arbeitete, reduzierte mit Wirkung zum 1. September 2019 seine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden auf 28 Wochenstunden und arbeitete in der Folge nur noch an vier Tagen pro Woche. Er behauptet Einkommensverluste aufgrund des Fahrerlaubnisentzugs in Höhe von insgesamt 31.678 €. Durch den erhöhten Zeitaufwand für den Arbeitsweg sei er gezwungen gewesen zu sein, seine Arbeitszeit zu reduzieren. Der Arbeitsweg habe sich durch den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel auf mindestens eineinhalb Stunden einfach verlängert, während er vorher mit dem Motorrad lediglich rund 30 Minuten einfach benötigt habe und an Staus hätte vorbeifahren können. Er hätte ohne Arbeitszeitreduzierung um 6.00 Uhr morgens das Haus verlassen müssen und wäre meist erst nach 22.00 Uhr abends zurückgekehrt. Dies sei nicht zumutbar gewesen, da er so kaum noch Freizeit gehabt hätte. Aus dem um 1.551 € niedrigeren Brutto-Lohnanspruch über 18 Monate errechne sich ein Schaden in Höhe von 27.918 €. Zudem habe er in diesem Zeitraum in Höhe von 3.760 € geringere Bonuszahlungen erhalten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das OLG die Berufung zurückgewiesen. Es fehle zumindest an der Kausalität des Entzugs der Fahrerlaubnis für den geltend gemachten Vermögensschaden. Der Kläger habe durch die Reduzierung seiner Arbeitszeit in den Geschehensablauf eingegriffen und selbst eine weitere Ursache gesetzt, die seinen Vermögensschaden erst herbeigeführt habe. Er habe zum Nachweis seiner Behauptungen hinsichtlich der Fahrzeit mit dem Motorrad und öffentlichen Verkehrsmitteln lediglich einen Screenshot eines Routenplaners vorgelegt. Der Beklagte habe substantiiert bestritten, dass die darin angegebene Fahrzeit mit dem PKW oder dem Motorrad zu Arbeitsbeginn des Klägers im Berufsverkehr auch nur annäherungsweise erreichbar sei. Der Kläger habe seinen Vortrag nicht weiter substantiiert, insbesondere nicht im Hinblick auf die bei Arbeitsbeginn und Arbeitsende tatsächlich erreichbaren Fahrzeiten.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat Erfolg. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Das ist u.a. dann der Fall, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist dabei schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann vielmehr Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten.

Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der Vortrag des Klägers zu den Fahrzeiten sei unsubstantiiert, das von ihm beantragte Sachverständigengutachten müsse deswegen nicht eingeholt werden, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Kläger hat in der Klageschrift unter Vorlage einer Wegzeitberechnung (Screenshot eines Routenplaners) vorgetragen, vor Entziehung der Fahrerlaubnis für den Weg zur Arbeit ein Motorrad benutzt zu haben, mit dem der Arbeitsweg in etwa 30 Minuten je einfache Strecke zu bewältigen gewesen sei, während er mit öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens eineinhalb Stunden je einfache Strecke benötigt habe. In seiner Replik auf die Klageerwiderung hat er behauptet, die der Klageschrift beigefügte Wegzeitberechnung sei richtig und spiegele die durchschnittliche Reisezeit zu Arbeitsbeginn und nach Beendigung der Arbeit wider. Zum Beweis hat er die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Bereits dieses Vorbringen hätte dem Tatrichter Veranlassung geben müssen, in die Beweisaufnahme einzutreten und einen – ortskundigen und mit den dort gegebenen Verhältnissen im Berufsverkehr vertrauten – Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. In der Berufungsbegründung hat der Kläger sein Vorbringen überdies dahingehend ergänzt, dass sich die rund 30-minütige Fahrzeit mit dem Motorrad selbst bei vollständiger Sperrung der kürzesten Strecke in der „Rush-Hour“ bei Nutzung einer Alternativroute nur um neun Minuten erhöhte, und sodann an die Einholung des angebotenen Sachverständigengutachtens erinnert. Weiterer Angaben für die Behauptung, dass die Fahrzeit mit dem Motorrad deutlich kürzer gewesen sei als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, bedurfte es nicht.

 

Fazit: Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH v. 1.6.2005 – XII ZR 275/02, MDR 2006, 48). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10, MDR 2012, 1033).

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen einer Anschlussberufung.

Keine Wiedereinsetzung nach Ablauf der Frist für eine Anschlussberufung
BGH, Beschluss vom 23. Februar 2024 – V ZB 111/23

Der V. Zivilsenat befasst sich mit § 524 Abs.  2 Satz 2 ZPO – und mit der Frage, wann eine Klageerweiterung vorliegt.

Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke. Sie streiten um den Verlauf der Grenzen.

In erster Instanz hat der Kläger zunächst begehrt, den Grenzverlauf entsprechend den Ermittlungen des gerichtlichen Sachverständigen festzustellen. Nach einem Hinweis des LG, ein exakter Grenzverlauf lasse sich auf der Grundlage des Gutachtens nicht feststellen, hat er die Grenzscheidung (§ 920 BGB) entlang der im Gutachten festgestellten Grenzpunkte beantragt. Das LG hat dem Klagebegehren entsprochen.

Das OLG hat nach Eingang von Berufungsbegründung und -erwiderung mitgeteilt, der Hinweis des LG sei nicht zutreffend gewesen. Der Kläger hat daraufhin erneut seinen ursprünglichen Klageantrag gestellt. Das OLG hat den Tenor des erstinstanzlichen Urteils entsprechend geändert und die Berufung der Beklagten mit dieser Maßgabe zurückgewiesen.

Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Entgegen der Auffassung des OLG wäre die erneute Umstellung des Klageantrags nicht zulässig gewesen, wenn sie als Anschlussberufung anzusehen wäre.

Im Zeitpunkt der Umstellung war die nach § 524 Abs. 2 Nr. 2 ZPO maßgebliche Frist zur Berufungserwiderung bereits abgelaufen. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung nach Versäumung dieser Frist ist gemäß § 233 Satz 1 ZPO nicht statthaft. Eine analoge Anwendung von § 233 ZPO ist auch dann nicht möglich, wenn dem erstinstanzlichen Gericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist und der mit der Anschlussberufung gestellte Antrag bei fehlerfreiem Verfahren schon in erster Instanz gestellt worden wäre.

Im Streitfall erweist sich die Entscheidung des OLG aber im Ergebnis als zutreffend, weil die in zweiter Instanz vorgenommene Umstellung des Klageantrags keine Anschlussberufung darstellt.

Wenn ein in erster Instanz erfolgreicher Kläger seinen Antrag in zweiter Instanz umstellt, liegt darin nur dann eine Anschlussberufung, wenn eine Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO oder eine Klageerweiterung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO vorliegt. Der Übergang von einer Grenzscheidungs- zu einer Grenzfeststellungsklage stellt weder eine Klageänderung noch eine Klageerweiterung dar, sofern derselbe Grenzverlauf geltend gemacht wird. Dass der eine Antrag auf eine richterliche Gestaltung und der andere auf eine Feststellung gerichtet ist, steht dem nicht entgegen. Maßgeblich ist, dass beide Anträge auf dieselben Tatsachen gestützt und auf dasselbe Ziel gerichtet sind, nämlich die verbindliche Festlegung eines bestimmten Grenzverlaufs.

Praxistipp: Wenn ein Klageantrag nach richterlichem Hinweis geändert wird, empfiehlt es sich, den ursprünglichen Antrag als Hilfsantrag weiterzuverfolgen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Zulässigkeit einer Berufung gegen ein zweites Versäumnisurteil.

Fernbleiben vom Termin nach Verlegungsantrag und Ablehnungsgesuch
BGH, Beschluss vom 8. Februar 2024 – V ZB 53/23

Der V. Zivilsenat befasst sich mit den Sorgfaltspflichten im Vorfeld eines Einspruchstermins.

Die Klägerin begehrt eine Löschungsbewilligung. Das AG hat gegen den Beklagten antragsgemäß ein Versäumnisurteil erlassen. Der Beklagte hat Einspruch eingelegt.

Fünf Tage vor der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte die Verlegung des Termins wegen fehlender Akteneinsicht begehrt. Mit einem unmittelbar vor Verhandlungsbeginn eingegangenen Schreiben hat er den zuständigen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das AG hat den Einspruch durch den abgelehnten Richter durch Versäumnisurteil verworfen. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten bleibt ohne Erfolg.

Das LG hat die Berufung zu Recht als gemäß § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO unzulässig angesehen, weil der Beklagte in seiner Berufungsbegründung einen Fall der fehlenden oder schuldlosen Säumnis nicht dargelegt hat.

Der Beklagte durfte sich nicht darauf verlassen, dass sein unmittelbar vor dem Termin eingereichtes Ablehnungsgesuch dem abgelehnten Richter vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegt wird. Deshalb war er gehalten, vorsorglich zum Termin zu erscheinen und sein Ablehnungsgesuch ggf. zu wiederholen.

Unabhängig davon reicht die Rüge, ein vor dem Termin gestelltes Ablehnungsgesuch sei fehlerhaft behandelt worden, zur Darlegung fehlender oder unverschuldeter Säumnis im Sinne von § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht aus. Entsprechendes gilt für die Rüge, durch die Nichtgewährung von Akteneinsicht vor der mündlichen Verhandlung sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

Praxistipp: Bei einem Ablehnungsgesuch während der mündlichen Verhandlung kann der Termin gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 ZPO unter Mitwirkung des abgelehnten Richters fortgesetzt werden, wenn anderenfalls eine Vertagung erforderlich wäre.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Übergehen eines Beweisangebots.

Erheblichkeit eines Beweisangebots
BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Der VI. Zivilsenat hebt ein OLG-Urteil wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auf. 

Der im Jahr 2007 geborene Kläger verlangt von den Beklagten – einem Klinikum und einer dort tätigen Hebamme – Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro zugesprochen und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller weiteren Schäden festgestellt.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das OLG zurück. 

Das OLG hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es von der Vernehmung von drei behandelnden Ärzten abgesehen hat. Die Beklagten haben die Zeugen zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Mutter des Klägers erst beim Hinzutreten der Ärzte von einer zu Hause aufgetretenen vaginalen Blutung berichtet habe, nicht hingegen schon bei der Aufnahme durch die beklagte Hebamme. Wenn die unter Beweis gestellte Behauptung zutrifft, kann der Hebamme nicht vorgeworden werden, die Ärzte zu spät hinzugezogen zu haben. 

Praxistipp: Lässt das Berufungsgericht schon in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erkennen, dass es bestimmte Beweisangebote nicht berücksichtigen wird, muss dies noch in der Berufungsinstanz gerügt werden, und zwar innerhalb der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine auf diesen Gesichtspunkt gestützte Nichtzulassungsbeschwerde schon aus Gründen der Subsidiarität erfolglos bleibt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um ein Thema, das in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Subsidiaritätsgrundsatz bei Geltendmachung von Gehörsverstößen
Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19

Ein Einzelfall aus dem Bereich des so genannten Dieselskandals findet ein abruptes Ende.

Der Kläger hatte geltend gemacht, sein Auto verfüge über eine unzulässige Abschalteinrichtung. Das OLG sah von der Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil der Kläger nicht schlüssig dargetan habe, wie er zu dieser Einschätzung gelangt sei, und weil es an jeglichen Anhaltspunkten für eine Abgasmanipulation fehle. Die im Internet abrufbare Liste der von einem Rückruf des Kraftfahrtbundesamts betroffenen Fahrzeuge führe keine Fahrzeuge des betreffenden Herstellers auf.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.

Der BGH bescheinigt dem OLG allerdings einen klaren Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Einer Partei ist es grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Unbeachtlich ist eine Behauptung nur dann, wenn sie ohne jeglichen greifbaren Anhaltspunkt willkürlich ins Blaue hinein aufgestellt wird. Im Streitfall hat der Kläger hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit seiner Behauptung vorgetragen, indem er auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart hingewiesen hat, das ergeben habe, dass die Motoren des in seinem Fahrzeug verbauten Typs eine unzulässige Thermosoftware enthielten. Ein Einschreiten des Kraftfahrtbundesamts ist bei dieser Ausgangslage nicht zwingend erforderlich.

Der BGH weist die Nichtzulassungsbeschwerde dennoch zurück, weil der Kläger es versäumt hat, den Gehörsverstoß bereits im Berufungsverfahren geltend zu machen. Er stützt diese Bewertung auf den Subsidiaritätsgrundsatz, demzufolge ein Beteiligter alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um die Korrektur einer geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern, und auf den damit in Einklang stehenden Rechtsgedanken des § 295 ZPO. Im Streitfall war für den Kläger aus dem gemäß § 522 Abs. 2 ZPO erteilten Hinweis ersichtlich, dass das OLG seinen Vortrag für unbeachtlich hält. Deshalb hätte der Kläger das OLG innerhalb der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Beachtlichkeit eines Beweisangebots in solchen Fällen hinweisen müssen.

Praxistipp: Eine Partei, die sich nach einem gemäß § 522 Abs. 2 ZPO erteilten Hinweis die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde offenhalten will, sollte ihre Angriffe gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts stets innerhalb der gewährten Frist zur Stellungnahme vorbringen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Umfang der gerichtlichen Überprüfung in der Berufungsinstanz.

Tatrichterliche Würdigung in der Berufungsinstanz
Beschluss vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17

Mit dem Maßstab für die Überprüfung erstinstanzlicher Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht befasst sich der VII. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagte auf Ersatz von Wasserschäden in Anspruch, die sie auf einen fehlerhaft verlegten Kühlwasserschlauch zurückführte. Das LG wies die Klage nach Einholung eines Gutachtens und mündlicher Anhörung des Sachverständigen ab. Das OLG wies die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 7 ZPO an das OLG zurück. Dieses hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil es die tatrichterliche Würdigung des LG nur auf Rechtsfehler überprüft hat. Nach § 529 Abs. 1 ZPO muss ein Berufungsgericht prüfen, ob konkrete Umstände vorliegen, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der erstinstanzlich getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen. Diese Prüfung darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob dem erstinstanzlichen Gericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Berufungsgericht muss sich vielmehr auch mit tatsächlichen Umständen befassen, die der Berufungskläger aufgezeigt hat. Eine erneute Beweiserhebung ist schon dann geboten, wenn diese Umstände eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die erstinstanzliche Feststellung danach keinen Bestand haben wird.

Praxistipp: Eine auf die Verletzung von § 529 Abs. 1 ZPO (iVm Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat vor allem dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich das Berufungsgericht mit der Erwägung begnügt hat, die erstinstanzliche Entscheidung sei frei von Rechtsfehlern.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um die Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens geht es in dieser Woche.

Hinweis auf eigene Sachkunde des Gerichts
Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit den prozessualen Voraussetzungen für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer entscheidungserheblichen Frage.

Die Klägerin nahm den Beklagten nach dem Einsetzen von Zahnimplantaten und einer Kieferbrücke auf Schadensersatz in Anspruch. Sie machte unter anderem geltend, die eingesetzte Brücke sei von ihrer Konstruktion her nicht geeignet gewesen, einen festsitzenden Zahnersatz herzustellen. Zum Beweis dafür bot sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens ein. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück, soweit es um Ersatzansprüche wegen der Zahnbrücke geht. Das OLG hat insoweit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen hat, ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass und aus welchem Grund es selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Zu einem diesbezüglichen Hinweis ist das Gericht auch dann verpflichtet, wenn es aufgrund eigener Sachkunde zu der Einschätzung gelangt, dass die Einholung eines Gutachtens nicht geeignet ist, die entscheidungsrelevante Frage zu klären.

Praxistipp: Wenn das Gericht den gebotenen Hinweis erteilt, und die Partei die Darlegungen zur eigenen Sachkunde für nicht ausreichend hält, muss sie entsprechende Rügen noch in der Berufungsinstanz erheben, um einen Rügeverlust in der Revisionsinstanz zu vermeiden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers und um die Zuständigkeitsverteilung zwischen Familien- und Zivilgericht geht es in den beiden aktuellen Entscheidungen.

Zuziehung eines Dolmetschers zur persönlichen Anhörung einer Partei
Beschluss vom 1. März 2018 – IX ZR 179/17

Mit dem Recht auf ein faires Verfahren befasst sich der IX. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagten auf Zahlung von rund 370.000 Euro aus Verwahrung und Darlehen in Anspruch. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin an das OLG zurück. Das OLG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Vernehmung eines von ihr benannten Zeugen zu Unrecht abgesehen hat. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das OLG in der neu eröffneten Berufungsinstanz von Amts wegen einen Dolmetscher hinzuziehen muss, wenn die – der deutschen Sprache nicht mächtige – Klägerin sich gemäß § 137 Abs. 4 ZPO persönlich zu den der Klageforderung zugrundeliegenden tatsächlichen Umständen äußern will. Dies ergibt sich zwar nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 64, 135), wohl aber aus dem Recht auf ein faires Verfahren.

Praxistipp: Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren kann ggf. mit einer Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 544 ZPO geltend gemacht werden, nicht aber mit einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO.

Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines Zivilsenats in einer Familiensache
Beschluss vom 28. Februar 2018 – XII ZR 87/17

Dass die Zuständigkeit des „großen Familiengerichts“ immer wieder für Überraschungen sorgen kann, veranschaulicht eine Entscheidung des XII. Zivilsenats.

Die Klägerin verlangte vom Beklagten – ihrem getrennt lebenden Ehemann – die Freigabe eines hinterlegten Betrags von 100.000 Euro. Das Geld stammte aus einer der Klägerin zugefallenen Erbschaft, war aber kurz vor der Trennung der Parteien auf ein Konto des Beklagten überwiesen worden. Der Beklagte verweigerte die Freigabe unter anderem mit der Begründung, die Klägerin habe der Überweisung auf sein Konto zugestimmt, um gemeinsame Schulden zu begleichen und den Unterhalt des gemeinsamen Kindes zu sichern. Das LG verurteilte den Beklagten zur Freigabe des Betrags. Das OLG wies die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurück.

Der BGH verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig. Bei zutreffender Sachbehandlung wären nicht die Zivilgerichte zur Entscheidung berufen gewesen, sondern das Familiengericht und ein Familiensenat des OLG. Dies ergibt sich aus § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, wonach zu den (sonstigen) Familiensachen auch Verfahren gehören, die Ansprüche zwischen Ehegatten im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung betreffen. In einer Familiensache wäre eine Rechtsbeschwerde gegen die zweitinstanzliche Entscheidung gemäß § 70 FamFG nur zulässig gewesen, wenn das OLG sie zugelassen hätte. Nach dem auch für solche Konstellationen geltenden Meistbegünstigungsgrundsatz darf dem Rechtsmittelführer aus der Wahl einer unzutreffenden Verfahrensart zwar kein Nachteil entstehen. Andererseits dürfen die Möglichkeiten zur Einlegung eines Rechtsmittels dadurch aber auch nicht erweitert werden. Folglich ist die an sich gemäß § 522 Abs. 3 und § 544 ZPO statthafte Nichtzulassungsbeschwerde im Streitfall nicht zulässig.

Praxistipp: Wenn ein Ehegatte im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung den anderen Ehegatten oder dessen Eltern in Anspruch nimmt, ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG vorliegen. In Zweifelsfällen sollte bereits in erster Instanz eine Entscheidung gemäß § 17a GVG herbeigeführt werden.