Anwaltsblog 3/2024: Noch einmal – Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Ob das Berufungsgericht eine erstinstanzliche durchgeführte Beweisaufnahme wiederholen muss, wenn mit der Berufungsbegründung die Bewertung der Beweisaufnahme durch das erstinstanzliche Gericht angegriffen wird, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Die Klägerin hatte an die Beklagten ein Haupt- und ein Nebenhaus an einem oberbayerischen See mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² vermietet. Sie beabsichtigte zunächst, das Grundstück zu verkaufen. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt. Kurz darauf kündigte die Klägerin das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Sie wolle nunmehr das Haus selbst mit einem ihrer Söhne und dessen Familie bewohnen und ihr anderer Sohn wolle einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen.

Das Amtsgericht hat der auf Räumungsklage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die erstinstanzliche Beweiswürdigung gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht. Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Dem Berufungsgericht ist eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Das Berufungsgericht hat den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.

(BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23, MDR 2023, 1331)

 

Fazit: Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben. Allerdings reicht für eine zweitinstanzliche Wiederholung einer Beweisaufnahme nicht jegliches Infragestellen der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht aus. Bloß subjektive Zweifel sowie abstrakte Erwägungen oder Vermutungen genügen aber nicht (kritisch dazu: Elzer MDR 2023, 1501 und Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 1/2024 Anm. 6.

Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

BGH zum Umfang des Berufungsvorbringens und zum fallengelassenen Vortrag

Zu einer nicht seltenen Fallkonstellation hat der BGH (Beschl. v. 8.9.2021 – VIII ZR 258/20) eine interessante Entscheidung getroffen, die in der Praxis nicht auf große Zustimmung stoßen wird.

Die Beklagte war in den Tatsacheninstanzen verurteilt worden, einen Gebrauchtwagen zurückzunehmen. Bezüglich eines benannten Zeugen hatte das Berufungsgericht von einer Vernehmung abgesehen und dies doppelt begründet: Zum einen habe die Beklagte entsprechenden Vortrag in der Berufungsinstanz fallen gelassen, zum anderen sei der Vortrag der Beklagten widersprüchlich. Beides akzeptiert der BGH nicht.

Der BGH betont erneut seine Auffassung, wonach der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff in der Berufungsinstanz anfällt, und zwar ohne Erneuerung und ohne Bezugnahme. Diese Sichtweise ist mit dem Wortlaut des § 529 ZPO kaum zu vereinbaren und bedeutet praktisch: Das Berufungsgericht muss die gesamte Akte lesen und prüfen, ob nicht das erstinstanzliche Gericht etwas übersehen hat. Dies macht es dem Berufungsgericht in umfangreichen Verfahren nicht gerade einfach und entlastet die Parteien in nicht zu rechtfertigender Weise. Grundsätzlich muss sich das Berufungsgericht darauf beschränken können, das erstinstanzliche Urteil sowie die Berufungsbegründung zu lesen, um die Sache beurteilen zu können.

In konsequenter Weiterentwicklung dieser Sichtweise geht der BGH jedoch davon aus, dass ein Vorbringen nur dann als fallen gelassen angesehen werden kann, wenn die Partei dies eindeutig erklärt hat. Dies war im konkreten Fall nicht gegeben. Bezüglich des (angeblich) widersprüchlichen Vorbringens weist der BGH darauf hin, dass eine Partei grundsätzlich ihr Vorbringen jederzeit berichtigen und ändern darf. Auch ein möglicherweise widersprüchlicher Vortrag erlaube dem Gericht nicht, von einer Beweisaufnahme abzusehen. Vielmehr könne ein solcher Vortrag nur nach einer Beweisaufnahme bei der Beweiswürdigung Beachtung finden.

Auch dies geht aus der Sicht der Praxis zu weit. Wenn eine Partei nicht dazu in der Lage ist, klar und präzise vorzutragen und man nicht weiß, was sie will, sollte ein derartiger Vortrag als widersprüchlich außer Betracht bleiben. Der BGH privilegiert einmal mehr unsachlichen Vortrag und Revisionsfallen“ und verhilft damit „Tricksern“ zu ungerechtfertigten (Zwischen)Erfolgen sowie Verfahrensverzögerungen und Pyrrhussiegen. Hier würde man sich von dem BGH wirklich eine praxisgerechtere Herangehensweise wünschen, und zwar in Gestalt von folgenden potentiellen Leitsätzen:

1) Das Berufungsgericht braucht nicht die erstinstanzliche Akte daraufhin durchzuforsten, ob sich möglicherweise an irgendeiner Stelle noch ein vielleicht relevanter Informationsfetzen befindet, der bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es ist vielmehr die Aufgabe des Berufungsklägers, derartiges in der Berufungsbegründung vorzutragen.

2) Trägt eine Partei widersprüchlich vor, so darf ein solches Vorbringen unberücksichtigt bleiben.

Einmal wieder: BGH zum rechtlichen Gehör

In einer Arzthaftungssache (BGH, Beschl. v. 21.5.2019 – VI ZR 54/18, MDR 2019, 1081) hatte das OLG eine Zeugin vernommen und einen Sachverständigen angehört. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung wurde alsdann den Parteien nachgelassen, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme bis zum 28. November schriftsätzlich vorzutragen. Ein Verkündungstermin wurde auf den 12. Dezember bestimmt. Innerhalb der Frist unterbreiteten die Kläger noch rechtsrelevanten Vortrag. Das OLG verkündete ein Urteil zum Nachteil der Kläger. Der BGH sieht darin einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.

Bekanntlich gibt es Fälle, in denen eine erneute Verhandlung oder ein schriftliches Verfahren nach einer Beweisaufnahme geboten ist, dies gilt vor allem in Arzthaftungssachen. Ob hier ein solcher Fall vorlag, lässt der BGH jedoch offen. Jedenfalls wenn das Gericht nach einer Beweisaufnahme einen Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis einräumt, bringt es dadurch hinreichend klar zum Ausdruck, dass es eine Stellungnahme im Termin nicht erwartet, sondern fristgemäß erfolgenden Vortrag berücksichtigen wird. Dagegen hat das OLG verstoßen, sodass das rechtliche Gehör verletzt ist, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG unter Berücksichtigung des Vortrags anders entschieden hätte.

Diese Entscheidung zeigt einmal mehr, wie schwierig es in der Praxis ist, einen entscheidungsreifen Prozess auch einmal wirklich zu entscheiden. Es fällt den Beteiligten immer wieder etwas Neues ein. In der Praxis ist dieses Neue allerdings oftmals fernliegend, denn wenn es wirklich wichtig wäre, wäre es sicherlich schon vorgetragen worden. Aber in der gerichtlichen Praxis neigen die Parteien oftmals dazu, sich an immer neue Strohhalme zu klammern. Dies gilt vor allem dann, wenn sie merken, dass sie unterliegen werden.

Wenn ein Gericht keine Verfahrensfehler riskieren will, räumt es solche Stellungnahmefristen am besten erst gar nicht ein. Wenn die Sache wirklich so komplex ist, dass von den Parteien eine abschließende Stellungnahme nach einer Beweisaufnahme, vor allem nach umfangreichen Ausführungen eines Sachverständigen, nicht erwartet werden kann, muss eben gleich ein neuer Termin bestimmt werden oder – bei Einverständnis beider Parteien – das schriftliche Verfahren angeordnet werden (Hierzu z.B. näher Vorwerk/Fullenkamp, Prozessformularbuch, 11. Aufl. 2019, Kap. 24 Rn. 50 f. und Rehborn Kap. 80 Rn. 342 ff. mit M 80.28). Ansonsten sollten keine Stellungnahmerechte mehr eingeräumt werden, sondern auf die Möglichkeit „Hic Rhodus, hic salta!“ hingewiesen werden. Der BGH scheint mitunter nicht ausreichend zu berücksichtigen, dass mindestens eine der Parteien auch einen Anspruch darauf hat, dass ein Prozess auch einmal zu Ende geht.

Hinweis: Vgl. hierzu auch den Blog-Beitrag von Bacher zu derselben Entscheidung.

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Pflicht des Gerichts, Vortrag in einem nachgelassenen Schriftsatz zu berücksichtigen.

Schriftliche Ausführungen zum Ergebnis der Beweisaufnahme
Beschluss vom 21. Mai 2019 – VI ZR 54/18

Mit den Wirkungen eines gewährten Schriftsatzrechts befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Kläger nahmen die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung ihres verstorbenen Vaters in Anspruch. Sie machten unter anderem geltend, die Beklagten hätten ihren Vater bereits bei einer kurz nach Beginn der Behandlung durchgeführten Untersuchung am 8. Oktober 2009 auf mögliche Infektion der Beine hinweisen und insoweit weitere Untersuchungen veranlassen müssen. Das LG wies die Klage ab. Das OLG vernahm eine Praxisangestellte der Beklagten zu deren Beobachtungen bei den vorgenommenen Untersuchungen. Die Zeugin gab an, sie könne sich an die Daten der einzelnen Untersuchungen und den Zustand des Patienten nicht mehr genau erinnern. Das OLG gab den Parteien nach Abschluss der Beweisaufnahme Gelegenheit, zu deren Ergebnis schriftlich Stellung zu nehmen. In einem fristgerecht eingereichten Schriftsatz wiesen die Kläger auf ein bereits vorgelegtes Gedächtnisprotokoll hin, in dem die Zeugin festgehalten hatte, dass sich bereits am 8. Oktober 2009 Symptome einer Infektion zeigten. Das OLG ging diesem Einwand nicht nach und wies die Berufung der Kläger zurück.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Das OLG war verpflichtet, die fristgerechte Stellungnahme der Kläger zu berücksichtigen und die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, wenn diese entscheidungserheblichen Vortrag enthielt, der Anlass zu weiterer Sachaufklärung gab. Hierbei ist unerheblich, ob das OLG überhaupt verpflichtet gewesen wäre, ein Schriftsatzrecht zu gewähren. Wenn das Gericht ein solches Recht einräumt, muss es fristgerecht eingereichtes Vorbringen berücksichtigen, soweit es vom Gegenstand des eingeräumten Rechts gedeckt ist. Im Streitfall hätte das OLG das Gedächtnisprotokoll in seine Beweiswürdigung einbeziehen müssen. Dies hätte möglicherweise zu einer erneuten Vernehmung der Zeugin unter Vorhalt des Protokolls geführt.

Praxistipp: Um Klarheit über die weitere Vorgehensweise zu gewinnen, sollten die Parteien in der Regel ein Recht zur schriftlichen Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme beantragen. Wenn dieser Antrag abgelehnt wird, bleiben sie dennoch zu einer nachträglichen Stellungnahme berechtigt, soweit eine sofortige Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung nicht möglich oder nicht zumutbar war.

Montagsblog: Neues vom BGH

Mit einer nicht allzu häufig relevanten, aber durchaus bedeutsamen Frage des Verfahrensrechts befasst sich die Entscheidung aus dem „Ostermontags-Blog“. Frohe Ostern!

Beauftragung eines Richters in überbesetztem Spruchkörper
Beschluss vom 25. Januar 2018 – V ZB 191/17

Mit einer Detailfrage zur internen Geschäftsverteilung in einem überbesetzten Spruchkörper befasst sich der V. Zivilsenat in einer Zurückweisungshaftsache.

Der aus Marokko stammende Betroffene war beim Versuch der Einreise von Österreich nach Deutschland festgehalten worden Das AG ordnete Haft zur Sicherung der Zurückweisung an. Die Beschwerde blieb im Wesentlichen erfolglos.

Der BGH weist die Rechtsbeschwerde des (inzwischen nach Marokko zurückgewiesenen) Betroffenen zurück. Er sieht es nicht als verfahrensfehlerhaft an, dass die Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz durch einen beauftragten Richter vorgenommen wurde, der an der Beschwerdeentscheidung nicht mitgewirkt hat. Ein aus mehreren Richtern bestehender Spruchkörper darf zwar nur diejenigen Mitglieder gemäß § 375 ZPO (bei Vernehmung oder Anhörung einer Partei iVm § 451 ZPO, vgl. BGH, B. v. 21.1.2016 – X ZB 12/15 Rz. 9 – MDR 2016, 417) mit einer Beweisaufnahme beauftragen, die nach dem internen Geschäftsverteilungsplan zur Mitwirkung in dem betreffenden Verfahren vorgesehen sind. Maßgeblich dafür ist aber nicht der Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung, sondern der Zeitpunkt der Beauftragung. Im Streitfall war der mit der Anhörung betraute Richter im maßgeblichen Zeitpunkt noch für das Verfahren zuständig.

Praxistipp: Wenn im Anschluss an eine nach diesen Grundsätzen unzulässige Beweisaufnahme eine mündliche Verhandlung stattfindet, sollte der Fehler ausdrücklich gerügt werden, um einen Rügeverlust nach § 295 ZPO zu vermeiden.

Vom „Zer-entscheiden“ von neuen Gesetzen

Im Rahmen eines Rechtsstreites wegen Schadensersatzes aufgrund eines angeblich nur vorgeschobenen Eigenbedarfs hat der BGH (Beschl. v. 11.10.2016 – VIII ZR 300/15, MDR 2017, 21) – obwohl im Rahmen dieser Entscheidung eigentlich gar nicht unbedingt veranlasst (!) – folgende Ausführungen vorgelegt:

„Für das weitere Berufungsverfahren sieht der Senat Anlass zu folgenden Hinweisen im Hinblick auf die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts und auf die Darlegungslast des Vermieters bei einem im Anschluss an den Auszug des Mieters nicht verwirklichten Eigenbedarf:

  1. Die bisherigen Ausführungen des Berufungsgerichts zum Umfang seiner Prüfungskompetenz lassen besorgen, dass es verkannt hat, dass diese nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt ist. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer „fehlerfreien und überzeugenden“ und damit „richtigen“ Entscheidung des Einzelfalles besteht (…). Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, anders als das Berufungsgericht offenbar gemeint hat, auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben (…). Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es somit zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (…). Hält es das Berufungsgericht – wie hier – für denkbar, dass die von der Berufung aufgeworfenen Fragen zu einer anderen Würdigung führen können, besteht Anlass für die Überlegung, ob für die andere Würdigung zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht und deshalb Anlass zu einer Wiederholung der Beweisaufnahme besteht.“

Mit diesem Begründungsmuster lässt sich praktisch jede Entscheidung eines Berufungsgerichts – entsprechenden Vortrag durch den Revisionsanwalt unterstellt – unproblematisch aufheben. Jede Beweisaufnahme ist notwendig immer nur eine Momentaufnahme. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei einer Wiederholung etwas anderes herauskommt, besteht immer. Dies liegt – wie es so schön heißt – in der Natur der Sache.

Diese Sichtweise ist ein gutes Beispiel dafür, wie es der höchstrichterlichen Rechtsprechung immer wieder gelingt, echte Reformen im Sande verlaufen zu lassen. Mit der einschränkenden Prüfungskompetenz durch die Berufungsgerichte wird es in einigen Jahre voraussichtlich genauso ergehen, wie mit der Zurückweisung des verspäteten Vorbringens heute: Der Gesetzgeber hatte diese Vorschriften seinerzeit vor Jahrzehnten mit Bedacht eingeführt, um die Prozesse zu beschleunigen. Das Ergebnis nach mehreren Jahren und unzähligen Entscheidungen des BGH sowie des BVerfG: Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens ist faktisch nicht mehr möglich. Eine Zurückweisung findet in der Praxis demgemäß überwiegend auch gar nicht mehr statt. Die Prognose: In spätestens zehn Jahren werden die Berufungsgerichte vom BGH, vor allem von dem Mietsenat, dazu verpflichtet werden, alle Beweisaufnahmen erster Instanz zu wiederholen. Man weiß ja schließlich nie …

So werden sinnvolle Reformversuche durch die höchstrichterliche Rechtsprechung immer wieder aufs Neue „zer-entschieden“. Der Gesetzgeber kann machen, was er will. Es bleibt im Laufe der Zeit alles beim Alten.

Montagsblog: Neues vom BGH

Berührungsloser Verkehrsunfall
Urteil vom 22. November 2016 – VI ZR 533/15

Mit der Reichweite der Gefährdungshaftung für Kraftfahrzeuge befasst sich der VI. Zivilsenat.

Der Kläger kam mit seinem Motorrad von der Straße ab, als er die ebenfalls auf einem Motorrad fahrende Beklagte und ein vor dieser fahrendes Auto überholen wollte. Er stützte sein Begehren nach Schadensersatz auf die Behauptung, die Beklagte sei unvermittelt und ohne Ankündigung nach links ausgeschert, als er sie schon fast überholt gehabt habe; deshalb habe er nach links ausweichen müssen. Die Beklagte behauptete hingegen, sie habe das vor ihr fahrende Auto ordnungsgemäß überholt und sei kurz vor dem Einscheren nach rechts gewesen, als der Kläger sie in zweiter Reihe überholt habe und hierbei ohne ihr Zutun dem linken Fahrbahnrand zu nahe gekommen sei. Die Klage hatte in erster Instanz teilweise Erfolg. Das OLG wies sie ab.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück. Er teilt zwar die Auffassung des OLG, dass die bloße Anwesenheit eines Fahrzeugs in der Nähe der Unfallstelle keinen die Gefährdungshaftung aus § 7 Abs. 1 StVG begründenden Tatbestand darstellt und dass dies auch für ein Motorrad gilt, das unmittelbar vor dem Unfall ein vor ihm fahrendes Auto überholt und von einem anderen Motorrad in zweiter Reihe überholt wird. Die Auffassung des OLG, ein die Haftung begründendes plötzliches Ausscheren der Beklagten könne aufgrund der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden, erweist sich aber als fehlerhaft. Der vom Landgericht beauftragte Sachverständige war zu dem Ergebnis gelangt, die Spurenlage am Unfallort lasse ein Ausweichmanöver des Klägers aus dem linken Randbereich der Gegenfahrbahn weiter nach links mit einer Notbremsung erkennen. Vor diesem Hintergrund durfte das Berufungsgericht nicht ohne ergänzende Beweisaufnahme zu einer anderen Würdigung gelangen als das Landgericht, das ein die Haftung begründendes Ausscheren der Beklagten bejaht hatte.

Praxistipp: Wenn ein Berufungsgericht die in erster Instanz erhobenen Beweise ohne erneute Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz, liegt darin eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG, die je nach Fallgestaltung mit Revision, Nichtzulassungsbeschwerde oder Anhörungsrüge gerügt werden kann.

Bestimmtheit einer Kaufpreisklage
Beschluss vom 16. November 2016 – VIII ZR 297/15

Mit den Mindestanforderungen an Bestimmtheit und Schlüssigkeit einer Kaufpreisklage befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Die Klägerin begehrte die Zahlung restlichen Kaufpreises in Höhe von 3.639,54 Euro. In der Klageschrift führte sie aus, sie habe dem Beklagten verschiedene Waren geliefert und in Rechnung gestellt. Wegen Gegenstand und Zeitpunkt der Lieferung nahm sie auf zwei anhand von Datum, Nummer und Rechnungsbetrag spezifizierte Rechnungen Bezug, deren Vorlage sie für den Fall des Bestreitens ankündigte. Das AG wies die Klage als unschlüssig ab. Das LG wies die Berufung mit der Maßgabe zurück, dass die Klage mangels Bestimmtheit des Klagegrundes unzulässig sei. Dagegen wandte sich die Klägerin mit der vom LG zugelassenen Revision.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Entgegen der Auffassung des LG reicht der Vortrag der Klägerin zur bestimmten Angabe von Gegenstand und Grund der Klage aus. Den Anforderungen von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist schon dann genügt, wenn der geltend gemachte Anspruch als solcher identifizierbar ist. Hierfür reicht die Bezugnahme auf zwei nach Datum, Nummer und Rechnungsbetrag spezifizierte Rechnungen, deren addierter Rechnungsbetrag sich mit der Höhe der Klagesumme deckt, auch dann aus, wenn die Rechnungen nicht beigefügt sind. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass die Kaufpreisforderung auch schlüssig dargelegt ist.

Praxistipp: Trotz der eher geringen Mindestanforderungen sollte der Kläger im eigenen Interesse darauf bedacht sein, die in Bezug genommenen Rechnungen bereits zusammen mit der Klageschrift als Kopie einzureichen. Unabhängig davon bedarf es jedenfalls dann konkretisierenden Sachvortrags, wenn nicht der gesamte Rechnungsbetrag zum Gegenstand des Klagebegehrens gemacht wird.