Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um das Übergehen eines Beweisangebots.

Erheblichkeit eines Beweisangebots
BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – VI ZR 371/21

Der VI. Zivilsenat hebt ein OLG-Urteil wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG auf. 

Der im Jahr 2007 geborene Kläger verlangt von den Beklagten – einem Klinikum und einer dort tätigen Hebamme – Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung seiner Mutter bei seiner Geburt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000 Euro zugesprochen und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller weiteren Schäden festgestellt.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 9 ZPO an das OLG zurück. 

Das OLG hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es von der Vernehmung von drei behandelnden Ärzten abgesehen hat. Die Beklagten haben die Zeugen zum Beweis der Tatsache benannt, dass die Mutter des Klägers erst beim Hinzutreten der Ärzte von einer zu Hause aufgetretenen vaginalen Blutung berichtet habe, nicht hingegen schon bei der Aufnahme durch die beklagte Hebamme. Wenn die unter Beweis gestellte Behauptung zutrifft, kann der Hebamme nicht vorgeworden werden, die Ärzte zu spät hinzugezogen zu haben. 

Praxistipp: Lässt das Berufungsgericht schon in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erkennen, dass es bestimmte Beweisangebote nicht berücksichtigen wird, muss dies noch in der Berufungsinstanz gerügt werden, und zwar innerhalb der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine auf diesen Gesichtspunkt gestützte Nichtzulassungsbeschwerde schon aus Gründen der Subsidiarität erfolglos bleibt.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

BGH: Gehörsverletzung durch unterbliebene Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

Der BGH hat mit Beschl. v. 21.1.2020 – VI ZR 346/18, MDR 2020, 751 über die Gehörsverletzung wegen unterbliebener Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf einen nicht nachgelassenen Schriftsatz nach erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteiltem Hinweis entschieden.

Sachverhalt

Die Entscheidung betrifft nur einen kleinen Ausschnitt eines sehr umfangreichen Prozesses. Der über 80 Jahre alte Kläger bezog von dem Beklagten, einem Apotheker, ein in der Apotheke hergestelltes Medikament. Eine pharmazeutisch-technische Assistentin verwendete bei der Herstellung des Medikamentes Methadon anstatt Meprobamat (bei beiden Arzneimitteln handelt es sich um Betäubungsmittel). Nachdem der Kläger das fehlerhaft hergestellte Medikament eingenommen hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin im Koma liegend auf. Der Kläger erlitt letztlich einen schweren Hirnschaden.

Bezüglich des von dem Kläger geltend gemachten Haushaltsführungsschadens hatte das LG der Klage in Höhe von 162.513,64 Euro stattgegeben. Der Beklagte legte Berufung ein. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wies das OLG darauf hin, dass seitens des Klägers weiterer Vortrag dazu erforderlich sei, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für Pflege und Betreuung sowie – in Abgrenzung dazu – für die Haushaltsführung geltend mache. Entsprechender Vortrag des Klägers erfolgte im Termin nicht mehr. Ein Schriftsatznachlass (§ 139 Abs. 5 ZPO) wurde von dem Kläger nicht beantragt. Das OLG bestimmte einen Verkündungstermin. Der Kläger trug vor diesem Termin schriftsätzlich noch weiter zu den Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin vor. Das OLG wies dann die Klage bezüglich des Haushaltsführungsschadens ab und vertrat die Auffassung, eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht geboten gewesen.

Die Gründe des BGH

Der BGH nimmt diese Entscheidung nicht hin, sondern hebt das Urteil des OLG insoweit auf und verweist die Sache zurück.

Zentraler Punkt der Entscheidung ist einmal wieder das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Bleibt der Vortrag einer Partei ohne Stütze im Prozessrecht unberücksichtigt, stellt dies eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs dar. Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass eine erstinstanzlich siegreiche Partei darauf vertrauen darf, sie werde von dem Berufungsgericht einen Hinweis erhalten, wenn es der erstinstanzlichen Entscheidung nicht folgen möchte oder dafür weiteren Vortrag oder einen zusätzlichen Beweisantritt für erforderlich hält. Dabei muss der Hinweis so rechtzeitig erfolgen, dass die Partei noch vor einem Termin reagieren kann. Wird dann ein Hinweis – entgegen § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO (!) – erst im Termin erteilt, muss die betroffene Partei die Gelegenheit haben, darauf zu reagieren. Wenn offensichtlich ist, dass eine Reaktion nicht sofort erfolgen kann, muss der Partei die Gelegenheit gegeben werden, noch vorzutragen, und zwar entweder durch einen Übergang in das schriftliche Verfahren oder eine Vertagung. Dies gilt auch dann, wenn die betroffene Partei keinen Schriftsatznachlass beantragt. Daraus folgt dann die Pflicht, aufgrund eines noch eingehenden Schriftsatzes gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.

Das Verfahren des Berufungsgerichts entsprach nicht diesen Grundsätzen. Der Hinweis erfolgte erst im Termin. Der Kläger hatte sich rechtzeitig geäußert, nämlich durch einen Schriftsatz, der vor dem Verkündungstermin einging. Die Verhandlung hätte vorliegend demgemäß wiedereröffnet werden müssen.

Der Beklagte wollte dem noch entgegenhalten, ein Hinweis wäre nicht erforderlich gewesen, da er bereits in erster Instanz den von dem OLG aufgegriffenen Einwand erhoben habe. Insofern könne es für den Kläger nicht überraschend gewesen sein, dass das OLG so entschieden habe. Darauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist, dass das Berufungsgericht darauf hinweisen muss, wenn es den Vortrag der erstinstanzlich siegreichen Partei für nicht ausreichend hält.

Der Gehörsverstoß ist auch erheblich. Der Kläger hatte in dem erwähnten Schriftsatz weiter erheblich vorgetragen, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG bei Berücksichtigung des Vortrages abweichend entschieden hätte.

Das OLG muss sich also mit dem Haushaltsführungsschaden erneut befassen. Im Übrigen hatte das Rechtsmittel keinen Erfolg. Der BGH verfuhr insoweit nach § 544 Abs. 6 S. 2 Hs. 2.

Folgerungen für die Praxis

Die Entscheidung stellt, wie überhaupt die gesamte Rechtsprechung des BGH, sehr strenge Anforderungen an die Beachtung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Um Verfahrensfehler zu vermeiden, bleibt den Gerichten nichts anderes übrig als auf Vortrag, der auf verspätete Hinweise noch erfolgt, stets noch zu reagieren. Der BGH nimmt den Parteien die Verantwortung ab, indem sogar auf einen Antrag auf Schriftsatznachlass verzichtet wird.

Hinweis für die Beratungspraxis

Die Gerichte sollten bestrebt sein, erforderliche Hinweise, wie dies das Gesetz auch vorsieht, möglichst früh zu erteilen, jedenfalls vor einem Termin. Das praktische Problem besteht jedoch darin, dass dies wegen der hohen Arbeitsbelastung oftmals nicht möglich ist. Gerade in der zweiten Instanz ist eine sachgerechte Vorbereitung der Akte überwiegend erst kurz vor dem Termin möglich.

Wenn vom Gericht in einem Termin ein Hinweis erfolgt und eine sofortige Reaktion nicht möglich ist, muss der Rechtsanwalt darauf hinwirken, dass er noch eine Möglichkeit zur Reaktion erhält. Entweder durch Vertagung oder durch Übergang in das schriftliche Verfahren oder – wenigstens – durch einen Schriftsatznachlass. Mit dem Schriftsatznachlass sollte vorsorglich auf die geschilderte Rechtsprechung hingewiesen werden, damit der Vortrag auch berücksichtigt wird. Besonders gefährlich wird es natürlich, wenn das Gericht keinen Verkündungstermin bestimmt, sondern eine Entscheidung am Schluss der Sitzung ankündigt. Dann muss sofort im Termin reagiert werden!

BGH: Und wieder einmal zum rechtlichen Gehör

Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist in den letzten Jahren einer der beliebtesten Aufhebungsmuster des BGH geworden. Fast in jeder aufhebenden Revisionsentscheidung liest man davon und darüber. Dies ist zwar im Gesetz durchaus angelegt (§ 544 Abs. 7 ZPO), jedoch würde man sich oftmals doch gerne andere Aufhebungsmuster mit abweichenden Begründungen wünschen.

In einer der letzten Entscheidungen hierzu hat der BGH (Beschl. v. 18.7.2019 – IX ZR 276/17) jedoch einige Ausführungen vorgelegt, die man sich merken sollte:

Jedes Gericht ist – das sollte selbstverständlich sein – dazu verpflichtet, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dies bedeutet aber nicht, dass sich ein Gericht auch mit jedem Vorbringen einer Partei in den Entscheidungsgründen (und damit auch im Tatbestand) ausdrücklich befassen müsste. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass ein Gericht jegliches Vorbringen zur Kenntnis genommen hat, auch wenn in dem Urteil selbst das fragliche Vorbringen gar nicht erwähnt wurde.

Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, die zweifelsfrei darauf schließen lassen, dass ein bestimmtes Vorbringen tatsächlich nicht zur Kenntnis genommen bzw. erwogen wurde. Nur dann liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Diese Sichtweise entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BVerfG.

Jede andere Sicht der Dinge wäre auch abwegig: Die Parteien hätten dann die Möglichkeit, den Umfang eines Urteils durch den Vortrag von offensichtlich Unerheblichem mittelbar zu bestimmen.

Für die Parteien ist dies auch nicht unzumutbar oder gar „gefährlich“. In der Revisionsinstanz besteht immer noch die Möglichkeit, eine Verfahrensrüge anzubringen und das übergangene Vorbringen als doch erheblich zu rügen.

Im konkreten Fall wurden die besonderen Umstände bejaht, da hier offensichtlich etwas übersehen wurde. Der Beklagte hatte konkret etwas behauptet, was das OLG als nicht vorhanden bezeichnet hat. Dies stellt natürlich eine „klassische“ Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs dar.

Einmal wieder: BGH zum rechtlichen Gehör

In einer Arzthaftungssache (BGH, Beschl. v. 21.5.2019 – VI ZR 54/18, MDR 2019, 1081) hatte das OLG eine Zeugin vernommen und einen Sachverständigen angehört. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung wurde alsdann den Parteien nachgelassen, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme bis zum 28. November schriftsätzlich vorzutragen. Ein Verkündungstermin wurde auf den 12. Dezember bestimmt. Innerhalb der Frist unterbreiteten die Kläger noch rechtsrelevanten Vortrag. Das OLG verkündete ein Urteil zum Nachteil der Kläger. Der BGH sieht darin einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.

Bekanntlich gibt es Fälle, in denen eine erneute Verhandlung oder ein schriftliches Verfahren nach einer Beweisaufnahme geboten ist, dies gilt vor allem in Arzthaftungssachen. Ob hier ein solcher Fall vorlag, lässt der BGH jedoch offen. Jedenfalls wenn das Gericht nach einer Beweisaufnahme einen Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis einräumt, bringt es dadurch hinreichend klar zum Ausdruck, dass es eine Stellungnahme im Termin nicht erwartet, sondern fristgemäß erfolgenden Vortrag berücksichtigen wird. Dagegen hat das OLG verstoßen, sodass das rechtliche Gehör verletzt ist, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das OLG unter Berücksichtigung des Vortrags anders entschieden hätte.

Diese Entscheidung zeigt einmal mehr, wie schwierig es in der Praxis ist, einen entscheidungsreifen Prozess auch einmal wirklich zu entscheiden. Es fällt den Beteiligten immer wieder etwas Neues ein. In der Praxis ist dieses Neue allerdings oftmals fernliegend, denn wenn es wirklich wichtig wäre, wäre es sicherlich schon vorgetragen worden. Aber in der gerichtlichen Praxis neigen die Parteien oftmals dazu, sich an immer neue Strohhalme zu klammern. Dies gilt vor allem dann, wenn sie merken, dass sie unterliegen werden.

Wenn ein Gericht keine Verfahrensfehler riskieren will, räumt es solche Stellungnahmefristen am besten erst gar nicht ein. Wenn die Sache wirklich so komplex ist, dass von den Parteien eine abschließende Stellungnahme nach einer Beweisaufnahme, vor allem nach umfangreichen Ausführungen eines Sachverständigen, nicht erwartet werden kann, muss eben gleich ein neuer Termin bestimmt werden oder – bei Einverständnis beider Parteien – das schriftliche Verfahren angeordnet werden (Hierzu z.B. näher Vorwerk/Fullenkamp, Prozessformularbuch, 11. Aufl. 2019, Kap. 24 Rn. 50 f. und Rehborn Kap. 80 Rn. 342 ff. mit M 80.28). Ansonsten sollten keine Stellungnahmerechte mehr eingeräumt werden, sondern auf die Möglichkeit „Hic Rhodus, hic salta!“ hingewiesen werden. Der BGH scheint mitunter nicht ausreichend zu berücksichtigen, dass mindestens eine der Parteien auch einen Anspruch darauf hat, dass ein Prozess auch einmal zu Ende geht.

Hinweis: Vgl. hierzu auch den Blog-Beitrag von Bacher zu derselben Entscheidung.

 

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um den Umfang der gerichtlichen Überprüfung in der Berufungsinstanz.

Tatrichterliche Würdigung in der Berufungsinstanz
Beschluss vom 4. September 2019 – VII ZR 69/17

Mit dem Maßstab für die Überprüfung erstinstanzlicher Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht befasst sich der VII. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagte auf Ersatz von Wasserschäden in Anspruch, die sie auf einen fehlerhaft verlegten Kühlwasserschlauch zurückführte. Das LG wies die Klage nach Einholung eines Gutachtens und mündlicher Anhörung des Sachverständigen ab. Das OLG wies die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück.

Der BGH verweist die Sache durch Beschluss gemäß § 544 Abs. 7 ZPO an das OLG zurück. Dieses hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil es die tatrichterliche Würdigung des LG nur auf Rechtsfehler überprüft hat. Nach § 529 Abs. 1 ZPO muss ein Berufungsgericht prüfen, ob konkrete Umstände vorliegen, die Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der erstinstanzlich getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen. Diese Prüfung darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob dem erstinstanzlichen Gericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Berufungsgericht muss sich vielmehr auch mit tatsächlichen Umständen befassen, die der Berufungskläger aufgezeigt hat. Eine erneute Beweiserhebung ist schon dann geboten, wenn diese Umstände eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die erstinstanzliche Feststellung danach keinen Bestand haben wird.

Praxistipp: Eine auf die Verletzung von § 529 Abs. 1 ZPO (iVm Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat vor allem dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich das Berufungsgericht mit der Erwägung begnügt hat, die erstinstanzliche Entscheidung sei frei von Rechtsfehlern.

Montagsblog: Neues vom BGH

Mit einem ungewöhnlichen Verfahrensverlauf befasst sich die Entscheidung aus dieser Woche.

Keine Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Zustellung einer Streitverkündung
Beschluss vom 22. März 2018 – I ZR 76/17

Der I. Zivilsenat stellt klar, dass Schwierigkeiten bei der (Auslands-)Zustellung einer Streitverkündung keinen zureichenden Grund für eine Aussetzung des betreffenden Rechtsstreits bilden.

Die Klägerin nimmt die in den USA ansässige Beklagte wegen Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmackmusters durch Vertrieb von Schutzhüllen für iPads in Anspruch. Die Beklagte machte unter anderem geltend, die von ihr angebotenen Hüllen seien von zwei Unternehmen in Taiwan und Hongkong entworfen worden. Vorsorglich verkündete sie diesen beiden Unternehmen den Streit. Der Versuch, die Streitverkündungsschrift in Taiwan zuzustellen, scheiterte. Aus Hongkong ging keine Rückmeldung ein. Das LG verurteilte die Beklagte antragsgemäß. Ihre Berufung blieb erfolglos.

Der BGH weist die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zurück. Er legt dar, dass eine Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Zustellung der Streitverkündungsschriften weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO zulässig ist, weil es an einem anderen Verfahren fehlt, das vorgreiflich sein könnte. Die Fortsetzung des Verfahrens trotz eines gescheiterten oder mit ungewissem Ausgang gebliebenen Zustellungsversuchs verstößt auch nicht gegen die Rechte auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör. Eine Streitverkündung hat nicht den Zweck, einer Partei die Möglichkeit eröffnen, sich auf ergänzendes Vorbringen des Streitverkündeten zu stützen.

Praxistipp: Vor dem aufgezeigten Hintergrund ist die streitverkündende Partei im eigenen Interesse gehalten, das Gericht bei der Zustellung nach besten Kräften zu unterstützen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um die Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Nichteinholung eines Sachverständigengutachtens geht es in dieser Woche.

Hinweis auf eigene Sachkunde des Gerichts
Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit den prozessualen Voraussetzungen für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu einer entscheidungserheblichen Frage.

Die Klägerin nahm den Beklagten nach dem Einsetzen von Zahnimplantaten und einer Kieferbrücke auf Schadensersatz in Anspruch. Sie machte unter anderem geltend, die eingesetzte Brücke sei von ihrer Konstruktion her nicht geeignet gewesen, einen festsitzenden Zahnersatz herzustellen. Zum Beweis dafür bot sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens ein. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück, soweit es um Ersatzansprüche wegen der Zahnbrücke geht. Das OLG hat insoweit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen hat, ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass und aus welchem Grund es selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Zu einem diesbezüglichen Hinweis ist das Gericht auch dann verpflichtet, wenn es aufgrund eigener Sachkunde zu der Einschätzung gelangt, dass die Einholung eines Gutachtens nicht geeignet ist, die entscheidungsrelevante Frage zu klären.

Praxistipp: Wenn das Gericht den gebotenen Hinweis erteilt, und die Partei die Darlegungen zur eigenen Sachkunde für nicht ausreichend hält, muss sie entsprechende Rügen noch in der Berufungsinstanz erheben, um einen Rügeverlust in der Revisionsinstanz zu vermeiden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um das Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers und um die Zuständigkeitsverteilung zwischen Familien- und Zivilgericht geht es in den beiden aktuellen Entscheidungen.

Zuziehung eines Dolmetschers zur persönlichen Anhörung einer Partei
Beschluss vom 1. März 2018 – IX ZR 179/17

Mit dem Recht auf ein faires Verfahren befasst sich der IX. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm die Beklagten auf Zahlung von rund 370.000 Euro aus Verwahrung und Darlehen in Anspruch. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin an das OLG zurück. Das OLG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es von der Vernehmung eines von ihr benannten Zeugen zu Unrecht abgesehen hat. Ergänzend weist der BGH darauf hin, dass das OLG in der neu eröffneten Berufungsinstanz von Amts wegen einen Dolmetscher hinzuziehen muss, wenn die – der deutschen Sprache nicht mächtige – Klägerin sich gemäß § 137 Abs. 4 ZPO persönlich zu den der Klageforderung zugrundeliegenden tatsächlichen Umständen äußern will. Dies ergibt sich zwar nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 64, 135), wohl aber aus dem Recht auf ein faires Verfahren.

Praxistipp: Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren kann ggf. mit einer Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 544 ZPO geltend gemacht werden, nicht aber mit einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO.

Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines Zivilsenats in einer Familiensache
Beschluss vom 28. Februar 2018 – XII ZR 87/17

Dass die Zuständigkeit des „großen Familiengerichts“ immer wieder für Überraschungen sorgen kann, veranschaulicht eine Entscheidung des XII. Zivilsenats.

Die Klägerin verlangte vom Beklagten – ihrem getrennt lebenden Ehemann – die Freigabe eines hinterlegten Betrags von 100.000 Euro. Das Geld stammte aus einer der Klägerin zugefallenen Erbschaft, war aber kurz vor der Trennung der Parteien auf ein Konto des Beklagten überwiesen worden. Der Beklagte verweigerte die Freigabe unter anderem mit der Begründung, die Klägerin habe der Überweisung auf sein Konto zugestimmt, um gemeinsame Schulden zu begleichen und den Unterhalt des gemeinsamen Kindes zu sichern. Das LG verurteilte den Beklagten zur Freigabe des Betrags. Das OLG wies die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurück.

Der BGH verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig. Bei zutreffender Sachbehandlung wären nicht die Zivilgerichte zur Entscheidung berufen gewesen, sondern das Familiengericht und ein Familiensenat des OLG. Dies ergibt sich aus § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG, wonach zu den (sonstigen) Familiensachen auch Verfahren gehören, die Ansprüche zwischen Ehegatten im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung betreffen. In einer Familiensache wäre eine Rechtsbeschwerde gegen die zweitinstanzliche Entscheidung gemäß § 70 FamFG nur zulässig gewesen, wenn das OLG sie zugelassen hätte. Nach dem auch für solche Konstellationen geltenden Meistbegünstigungsgrundsatz darf dem Rechtsmittelführer aus der Wahl einer unzutreffenden Verfahrensart zwar kein Nachteil entstehen. Andererseits dürfen die Möglichkeiten zur Einlegung eines Rechtsmittels dadurch aber auch nicht erweitert werden. Folglich ist die an sich gemäß § 522 Abs. 3 und § 544 ZPO statthafte Nichtzulassungsbeschwerde im Streitfall nicht zulässig.

Praxistipp: Wenn ein Ehegatte im Zusammenhang mit Trennung oder Scheidung den anderen Ehegatten oder dessen Eltern in Anspruch nimmt, ist stets sorgfältig zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG vorliegen. In Zweifelsfällen sollte bereits in erster Instanz eine Entscheidung gemäß § 17a GVG herbeigeführt werden.