Anwaltsblog 29/2024: Wann führen Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung zur Unwirksamkeit der Zustellung?

Der BGH hatte zu entscheiden, welche Auswirkungen Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung einer Entscheidung auf die Wirksamkeit der Zustellung haben (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 – XII ZB 493/22):

Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit einem am 7. März 2022 zugestellten Beschluss, der einen auf den 24. Februar 2022 lautenden Verkündungsvermerk trägt, zur Zahlung eines Zugewinnausgleichs von 83.248,50 € verpflichtet. Auf Beanstandungen der Beteiligten über Unvollständigkeiten des Beschlusses hat das AG am 8. März 2022 darauf hingewiesen, dass den Beteiligten „versehentlich Ausfertigungen des am 24. Februar 2022 verkündeten Beschlusses übersandt“ worden seien, die – wahrscheinlich aufgrund von Formatierungsfehlern bei der Textverarbeitung – nicht mit dem Originalbeschluss in der Gerichtsakte übereinstimmten. Zugleich hat es die Beteiligten gebeten, die „übersandten Beschlüsse zurückzureichen“, damit die „Entscheidung (…) erneut zugestellt werden“ könne. Gegen den ihm am 24. März 2022 erneut zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner mit am 20. April 2022 eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt. Das OLG hat die Beschwerde als verfristet verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das OLG ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass die Beschwerde nicht rechtzeitig eingelegt worden ist. Die Monatsfrist des § 63 Abs. 1, 3 Satz 1 FamFG begann ohne Rücksicht auf die Mängel der Beschlussausfertigung bereits mit der am 7. März 2022 erfolgten Zustellung zu laufen. Bei Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter beglaubigter Abschrift kommt es für die Wirksamkeit der Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist entscheidend darauf an, ob die zugestellte beglaubigte Abschrift formell und inhaltlich geeignet war, den Beteiligten die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen. Der Zustellungsempfänger muss aus der beglaubigten Abschrift wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können. Dies war hinsichtlich der am 7. März 2022 zugestellten beglaubigten Abschrift der Fall. Sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen der Abschrift ergab sich seine Verpflichtung zur Zahlung eines Zugewinnausgleichsbetrags in Höhe von 83.248,50 € nebst Zinsen. Auch wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe unvollständig waren, ließen diese allein noch keine Zweifel am Umfang der Zahlungsverpflichtung aufkommen. Da die Zustellung am 7. März 2022 wirksam war, konnte die nochmalige Zustellung den Lauf der Frist nicht mehr beeinflussen. Denn das AG konnte durch die Veranlassung der erneuten Zustellung die Rechtswirkungen der bereits erfolgten Zustellung nicht mehr rückgängig machen.

Das OLG hätte jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist bewilligen müssen. Denn der Antragsgegner hat diese unverschuldet versäumt. Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten, welches er sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsste, ist unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht gegeben. Zwar ist die verspätete Einlegung des Rechtsmittels auf den Irrtum des Rechtsanwalts über die den Fristlauf auslösende Zustellung zurückzuführen. Dass dieser Irrtum auf der Mitteilung des Gerichts beruhte, entlastet den Rechtsanwalt noch nicht ohne Weiteres. Denn auf eine unzutreffende Rechtsauskunft des Gerichts darf er sich nicht ohne Weiteres verlassen, sondern ist verpflichtet, die sich bei der Verfahrensführung stellenden Rechtsfragen in eigener Verantwortung zu überprüfen. Dementsprechend schließen selbst ursächliche Gerichtsfehler im Allgemeinen ein anwaltliches Verschulden nicht aus. Anderes gilt indessen, wenn dem Rechtsanwalt vom Gericht gegebene Informationen sich auf gerichtsinterne Vorgänge beziehen und die Unrichtigkeit der Informationen mithin nicht ohne Weiteres zu erkennen ist. Erklärt etwa das Gericht die bereits erfolgte Zustellung für unwirksam und ist die Unrichtigkeit dieser Information für den Rechtsanwalt nicht ohne Weiteres erkennbar, so trifft den Rechtsanwalt kein Verschulden, wenn er davon ausgeht, dass erst die wiederholte Zustellung wirksam ist und den Lauf einer Frist auslöst. So liegt es auch im vorliegenden Fall. Die Aufforderung, die zugestellte Ausfertigung zurückzusenden, erfolgte durch die zuständige Richterin. Zwar waren den Beteiligten Unvollständigkeiten aufgefallen, jedoch war damit dem Rechtsanwalt das konkrete Ausmaß der Abweichungen von der erlassenen Entscheidung nicht erkennbar. Aus diesem Grund konnte er auch nicht aus eigener Kenntnis von der Wirksamkeit der ersten Zustellung ausgehen. Zumal er die erhaltene Ausfertigung auf die Aufforderung des Gerichts zurückgegeben hatte, ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er hinsichtlich des Laufs der Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist die zweite Zustellung für maßgeblich gehalten hat.

Ob der Antragsgegner konkludent einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, kann offenbleiben. Denn bei der gegebenen Sachlage hätte das OLG ihm von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligen müssen. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben.

 

Fazit: Veranlasst die Geschäftsstelle des Gerichts die nochmalige Zustellung eines Versäumnisurteils, weil sie irrig davon ausgeht, die bereits erfolgte Zustellung sei wegen fehlender Belehrung über den Einspruch unwirksam, so wird der bereits mit der ersten Zustellung ausgelöste Lauf der Einspruchsfrist davon nicht berührt. Den Rechtsanwalt, der sich wegen der wiederholten Zustellung beim Gericht nach dem Grund erkundigt und von der Geschäftsstelle die nicht näher erläuterte Auskunft erhält, die erste Zustellung sei unwirksam und könne als gegenstandslos betrachtet werden, trifft jedenfalls dann kein Verschulden, wenn die Auskunft nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Eine Pflicht zu einer weiteren Nachfrage nach dem konkreten Grund der Unwirksamkeit trifft ihn nicht (BGH, Versäumnisurteil vom 15. Dezember 2010 – XII ZR 27/09 –, MDR 2011, 316).

Blog powered by Zöller: Wiedereinsetzung trotz Falschadressierung

Es sollte nicht passieren, geschieht aber immer wieder: Der Rechtsanwalt sendet eine Berufungsschrift über sein beA ans falsche Gericht, und zwar so spät, dass der Fehler nicht mehr korrigiert werden kann. Die Verwerfung der Berufung ist unumgänglich, eine Wiedereinsetzung erscheint wegen eindeutigen Anwaltsverschuldens ausgeschlossen. Doch es gibt eine Rettungschance, auf die der BGH im Beschluss v. 10.10.2023 – VIII ZB 60/22 hingewiesen hat (obwohl sie im dortigen Verfahren nicht genutzt wurde).

Denn nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhält der Absender eines elektronischen Schriftsatzes eine automatisierte Bestätigung über den Zeitpunkt des Eingangs. Wie der BGH bereits wiederholt entschieden hat, muss der Erhalt dieser Bestätigung überprüft und dabei auch kontrolliert werden, ob der richtige Schriftsatz übermittelt wurde und ob er beim richtigen Gericht eingegangen ist (näher dazu Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 130a ZPO Rn. 24 und § 233 ZPO Rn. 23.15). Der Rechtsanwalt darf diese Prüfung seinem Personal überlassen, sofern er es entsprechend eingewiesen und überwacht hat. Hat er dies aber getan und wurde der Fehler trotzdem nicht erkannt, liegt ein Mitarbeiterverschulden vor, welches der Prozesspartei nicht zugerechnet werden kann und zugleich die Kausalität des ursprünglichen Anwaltsfehlers beseitigt. Wiedereinsetzung ist also möglich.

Es ist daher dringend angeraten, die Kontrolle der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO entsprechend geschultem Personal zu übertragen und mit dem Wiedereinsetzungsantrag glaubhaft zu machen, dass dies geschehen ist.

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Hinweis: Die Entscheidung vom 10.10.2023 ist während der Drucklegung des neuen Zöller ergangen, wird aber schon jetzt – wie alle künftigen Entscheidungen von größerer Praxisbedeutung – in der Online-Version des Kommentars nachgewiesen.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist

Überprüfungspflicht des Anwalts nach mehrfachen Fehlern einer Kanzleiangestellten
Beschluss vom 23. Februar 2022 – IV ZB 1/21

Mit den Folgen von mehreren zutage getretenen Fehlern einer Kanzleiangestellten bei der Eintragung von Fristen befasst sich der IV. Zivilsenat.

Die Klägerin wendet sich gegen die Neuberechnung ihrer Startgutschrift in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. In mehreren Parallelverfahren hatten andere Versicherte entsprechende Ansprüche geltend gemacht. Einige davon hatten denselben Prozessbevollmächtigten wie die Klägerin.

Das LG wies die Klage ab. Hiergegen legte die Klägerin rechtzeitig Berufung ein, die innerhalb der Frist aber nicht begründet wurde. Die Klägerin begehrte Wiedereinsetzung, weil die mit der Fristenkontrolle betraute Kanzleiangestellte ihres Prozessbevollmächtigten die Frist trotz entsprechender Verfahrensanweisung nicht in den elektronischen Kalender eingetragen habe. Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin bleibt erfolglos.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin war zu einer persönlichen Überprüfung des Fristenkalenders verpflichtet. Die in Rede stehende Kanzleiangestellte hatte in vier Parallelverfahren die Begründungsfrist ebenfalls nicht in den Kalender eingetragen. Der Prozessbevollmächtigte hatte hiervon rund drei Wochen vor dem Ende der im Streitfall laufenden Frist Kenntnis erlangt. Von diesem Zeitpunkt an war der Prozessbevollmächtigte verpflichtet, die ordnungsgemäße Eintragung der Berufungsbegründungsfrist in allen in Betracht kommenden Parallelverfahren zu überprüfen. Er durfte von einer vollständigen Überprüfung nicht deshalb absehen, weil in den zwei Wochen nach Bekanntwerden der vier Fehler keine weiteren Fehler zutage getreten waren.

Praxistipp: Nach Bekanntwerden eines Fehlers reicht die abstrakte Weisung, alles Erforderliche zu dessen Korrektur zu veranlassen, nicht aus. Erforderlich sind eine konkrete Benennung der zu ergreifenden Maßnahmen und die Überprüfung, ob diese ausgeführt worden sind.

Ergänzung des Vorbringens zu einem bereits aus dem Wiedereinsetzungsgesuch ersichtlichen Fehler einer Kanzleiangestellten
Beschluss vom 16. Dezember 2021 – V ZB 34/21

Mit der Abgrenzung zwischen einem unzulässigen Nachschieben von Wiedereinsetzungsgründen und der zulässigen Ergänzung rechtzeitigen Vorbringens befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Kläger haben gegen ein ihnen ungünstiges Urteil des LG fristgerecht Berufung eingelegt, diese aber nicht rechtzeitig begründet. Mit ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand machten sie geltend, die mit dem Versand betraute Kanzleiangestellte ihres Prozessbevollmächtigten habe die Berufungsbegründung am letzten Tag der Frist vorab per Telefax versandt und entsprechend der Dienstanweisung auf Seitenzahl, Faxnummer des Empfangsgerichts und OK-Vermerk geprüft. Für den fehlenden rechtzeitigen Zugang müsse ein technischer Fehler des Empfangsgeräts ursächlich sein.

Das OLG wies darauf hin, aus dem vorgelegten Sendeprotokoll ergebe sich, dass die verwendete Telefax-Nummer hinsichtlich einer Ziffer von der Nummer des OLG abweiche, was darauf schließen lasse, dass die Angestellte keinen Abgleich mit einer zuverlässigen Quelle vorgenommen habe. Die Klägerin trug hierauf ergänzend vor, es bestehe die Anweisung, die verwendete Telefaxnummer vor dem Versand mit einem Originalschreiben des Empfängers oder einer anderen sicheren Quelle abzugleichen; der Fehler in der verwendeten Telefaxnummer beruhe auf einem Versehen der Angestellten im Einzelfall. Das OLG wies das Wiedereinsetzungsgesuch zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH gewährt den Klägern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Das OLG durfte das ergänzende Vorbringen nach dem gerichtlichen Hinweis nicht unberücksichtigt lassen. Dass eine unzutreffende Faxnummer verwendet wurde, ergab sich – wie das OLG in seinem Hinweis mitgeteilt hat – schon aus dem Sendebericht, der fristgerecht mit dem Wiedereinsetzungsgesuch vorgelegt wurde. Aus diesem Gesuch ergab sich auch, dass der Prozessbevollmächtigte Anweisungen zur Überprüfung der Telefaxnummer erteilt hatte. Bei dieser Ausgangslage sind seine Angaben zum konkreten Inhalt dieser Anweisungen trotz Ablaufs der Wiedereinsetzungsfrist noch zulässig, weil sie der Ergänzung von fristgerechtem Vorbringen dienen, das erkennbar ergänzungsbedürftig und ergänzungsfähig ist.

Praxistipp: Als zuverlässige Quelle für den Abgleich der Telefaxnummer kommt auch ein aktuelles Verzeichnis in Betracht, nicht aber ein beliebiges, nicht vom Adressaten stammendes Schreiben in der Handakte. Ein Abgleich vor dem Versand genügt. Ein erneuter Abgleich nach dem Versand ist grundsätzlich nicht erforderlich.

BGH: Verlust eines Schriftsatzes auf dem Postweg und Anforderungen an den folgenden Wiedereinsetzungsantrag

Der BGH (Beschl. v. 28.4.2020 – VIII ZB 12/19) hat sich mit den Anforderungen an die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschäftigt und insbesondere deutlich gemacht, dass ein Anwalt nicht zwingend zu den Leerungszeiten des Briefkastens vortragen muss.

Sachverhalt: Eine Berufungsbegründung war ausgeblieben. Die antragsgemäß verlängerte Berufungsbegründungsfrist war am 10.9.2018 abgelaufen. Nach dem entsprechenden Hinweis des Gerichts wurde ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gestellt. Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Berufungsbegründung sei am 28.8.2018, einem Freitag (tatsächlich war der 28.8.2018 allerdings ein Dienstag!) vom Rechtsanwalt an seinem letzten Arbeitstag vor dem Jahresurlaub nach Büroschluss „persönlich ausgefertigt, unterzeichnet, in einen Briefumschlag verpackt und ausreichend frankiert in einen Briefkasten der Deutsche Post AG eingelegt“ worden. Sie müsse auf dem Postweg verloren gegangen sein. Eine Berufungsbegründung vom 28.8.2018 war beigefügt worden. Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung. Begründung: Es sei kein Vortrag zum Standort des Briefkastens sowie dessen Leerungszeiten erfolgt. Der 28. August sei kein Freitag gewesen, sondern ein Dienstag. Die ordnungsgemäße Adressierung des Umschlages sei nicht nicht dargelegt worden. Die Schilderung sei auch deswegen nicht glaubhaft, da zuvor die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß bis weit in den Urlaub hinein verlängert worden war.

Anforderungen an Vortrag: Der BGH akzeptiert diese Entscheidung nicht, sondern hebt sie auf und bewilligt selbst die beantragte Wiedereinsetzung! Das OLG hat zu strenge Anforderungen gestellt und darüber hinaus gegen § 139 Abs. 1 ZPO verstoßen. Der Vortrag genügt grundsätzlich den Anforderungen. Im Hinblick auf den erheblichen Zeitraum zwischen Einwurf und Fristende bedurfte es keiner näheren Angaben zum Ort und zu den Leerungszeiten. Die ordnungsgemäße Adressierung ergab sich aus der dem Wiedereinsetzungsantrag beigefügten Berufungsbegründung. Bei der falschen Tagesangabe habe es sich, wie später ausführt worden war, um eine Verwechslung gehandelt. Gemeint gewesen, sei natürlich Freitag, der 31.8.2018. Der Schriftsatz sei am Dienstag verfasst, aber eben erst am Freitag verschickt worden.

Aufklärung von Widersprüchen im Vortrag: Vor allem hätte das OLG dem Rechtsanwalt hier die Gelegenheit geben müssen, zu diesem Widerspruch vorzutragen, bevor es die Berufung verworfen hat. Sofern das Gericht im Wiedereinsetzungsverfahren einer eidesstattlichen Versicherung keinen Glauben schenken möchte, muss es dem Antragsteller zunächst die Möglichkeit geben, etwaige Lücken zu ergänzen und/oder entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten. Wenn insoweit noch ergänzungsbedürftige Angaben erforderlich sind, deren Aufklärung nach § 139 Abs. 1 ZPO geboten war, können diese auch noch mit einer Rechtsbeschwerde nachgeholt werden. Die Fristverlängerung bis weit nach dem Urlaubsantritt alleine sei nicht dazu geeignet, Zweifel an der Darstellung des Geschehensablaufes aufkommen zu lassen.

Fazit: Im Gegensatz zu den meisten OLG ist der BGH bei Wiedereinsetzungsfragen regelmäßig sehr großzügig (eigentlich zu großzügig) und neigt dazu, vielen Erklärungen Glauben zu schenken, denen man eigentlich durchaus mit größerer Skepsis begegnen müsste.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach einem nicht rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Fristverlängerung.

Begründung eines Antrags auf Fristverlängerung
Beschluss vom 20. August 2019 – X ZB 13/18

Mit den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand befasst sich der X. Zivilsenat.

Der in erster Instanz unterlegene Kläger hatte rechtzeitig Berufung eingelegt. Sechs Tage vor Ablauf der Begründungsfrist übersandte sein Prozessbevollmächtigter per Post einen Schriftsatz, in dem er „vorsorglich“ Fristverlängerung beantragte. Der Schriftsatz ging erst einen Tag nach Ablauf der Frist beim Gericht ein. Das LG wies den Eintrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.

Abweichend vom LG sieht es der BGH allerdings nicht als schuldhaft an, dass der Prozessbevollmächtigte den Schriftsatz nur per Post und nicht auch per Telefax versendet hat. Der Prozessbevollmächtigte durfte darauf vertrauen, dass die Post den Schriftsatz rechtzeitig zum Gericht befördern wird. Er war deshalb nicht gehalten, ihn zusätzlich auf anderem Wege zu versenden oder sich telefonisch über den rechtzeitigen Eingang bei Gericht zu erkundigen.

Die Rechtsbeschwerde bleibt dennoch erfolglos, weil der Prozessbevollmächtigte nicht damit rechnen durfte, dass das LG die Frist bei rechtzeitigem Antrag verlängern würde. Ein Anwalt darf zwar grundsätzlich darauf vertrauen, dass das Gericht einem ersten Antrag auf Fristverlängerung stattgibt. Dies gilt aber nur, wenn in dem Antrag erhebliche Gründe dargetan werden, die eine Verlängerung rechtfertigen. Hieran fehlte es im Streitfall. Mit der Angabe, die Fristverlängerung erfolge vorsorglich, wird ein erheblicher Grund nicht aufgezeigt.

Praxistipp: Zur Darlegung eines erheblichen Grunds für eine erstmalige Fristverlängerung reicht ein pauschaler Hinweis auf Arbeitsüberlastung aus.

Kein elektronischer Rechtsverkehr beim Bundesverfassungsgericht – aber bei allen anderen Gerichten

Der elektronische Rechtsverkehr scheint kurioserweise dort besonders beliebt zu sein, wo ihn das Gesetz noch nicht zugelassen hat.

Kurz vor Weihnachten sah sich das BVerfG veranlasst, durch Pressemitteilung (Nr. 84/2018 vom 7.12.2018) auf einen Beschluss hinzuweisen, in dem eine per DE-Mail eingelegte Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen wurde (BVerfG, Beschl. v. 19.11.2018 – 1 BvR 2391/18; dazu Wöbbeking, CR 2019 Heft 1 R7). Der entschiedene Einzelfall gab dazu nicht unbedingt Veranlassung, denn das BVerfG sah die in Rede stehende Verfassungsbeschwerde auch wegen ausreichender Substantiierung als unzulässig an. Die im Beschluss enthaltenen Ausführungen, dass der Rechtsbehelf schon deshalb unzulässig ist, weil das Gesetz den elektronischen Rechtsverkehr beim BVerfG bislang nicht vorsieht, haben vor diesem Hintergrund eher generalpräventiven Charakter.

Anlass zu dieser Klarstellung dürfte der Umstand gegeben haben, dass das BVerfG mittlerweile das einzige deutsche Gericht ist, bei dem der elektronische Rechtsverkehr nicht eröffnet ist. Bei allen anderen Gerichten sind elektronische Einreichungen seit gut einem Jahr zulässig. Rechtsanwälten steht mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA; dazu etwa Bacher MDR 2017, 613) hierfür ein besonders sicherer Kommunikationsweg zur Verfügung.

Allerdings ist die Zahl der elektronischen Eingänge bei den meisten Gerichten bislang eher gering. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die Angst vor technischen Komplikationen und dadurch verursachten Fristversäumnissen sein. Dass diese Gefahr besteht, belegt der Umstand, dass seit Inkrafttreten der neuen Regeln bereits drei oberste Gerichtshöfe des Bundes elektronische Einreichungen wegen Verwendung einer sog. Containersignatur als unwirksam angesehen haben (BSG, Beschl. v. 9.5.2018 – B 12 KR 26/18 B, NJW 2018, 2222; BAG, Beschl. v. 15.8.2018 – 2 AZN 269/18, MDR 2018, 1519; BVerwG, Beschl. v. 7.9.2018 – 2 WDB 3/18, NVwZ 2018, 1880). Diese Risiken dürften aber weitaus geringer wiegen als das Risiko, dass eine kurz vor Fristablauf begonnene Übermittlung per Telefax scheitert. Bezeichnenderweise gewährten das BSG und das BVerwG in den zitierten Entscheidungen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, und das BAG ließ die Frage nur deshalb offen, weil es das Rechtsmittel aus anderen Gründen als unzulässig ansah. Bei missglückten Übermittlungsversuchen per Telefax ist die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hingegen fast die Regel (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 67/17, MDR 2019, 82 [Bacher]).

Die formellen Anforderungen an elektronisch übermittelte Schriftsätze ergeben sich aus der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr (ERVV, dazu Bacher, MDR 2019, 1). Um sie einzuhalten – und um im Falle eines Fehlers Aussicht auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu haben – bedarf es in der Anwaltskanzlei einiger organisatorischer Vorkehrungen (näher dazu Bacher in: Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 11. Aufl. 2019, Kapitel 28 Rn. 72 ff.). Der Aufwand dafür dürfte sich aber in überschaubaren Grenzen halten und durch die zusätzliche Sicherheit im Vergleich zum Telefaxversand mehr als aufgewogen werden.

Praxistipp: Auch wenn dies beim Versand aus dem beA nicht mehr zwingend erforderlich ist, sollte jeder elektronische Schriftsatz mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen werden.

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Um zwei anwaltliche Vorgehensweisen der Kategorie „unschädlich, aber dennoch unnötig“ geht es in dieser Woche.

Korrektur eines falsch adressierten Schriftsatzes
Beschluss vom 25. Oktober 2018 – V ZB 259/17

Mit den Sorgfaltsanforderungen bei der Korrektur eines falsch adressierten fristgebundenen Schriftsatzes befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Kläger waren in erster Instanz vor dem LG unterlegen. Am letzten Tag der Frist übermittelte ihr Anwalt eine Berufungsschrift an den Telefaxanschluss des LG. Der Schriftsatz wurde an das zuständige OLG weitergeleitet, ging dort aber erst einige Tage später ein. Mit ihrem Wiedereinsetzungsgesuch machten die Kläger geltend, ihr Prozessbevollmächtigter habe die unzutreffende Adressierung nach Unterzeichnung des Schriftsatzes bemerkt, einen korrigierten Schriftsatz unterzeichnet und die mit dem Versand betraute Kanzleikraft angewiesen, den korrigierten Schriftsatz zu versenden. Das OLG versagte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf die Berufung als unzulässig.

Der BGH gewährt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verweist die Sache zur Verhandlung und Entscheidung über die Begründetheit der Berufung an das OLG zurück. Abweichend vom OLG hält es der BGH für ausreichend, dass der Prozessbevollmächtigte den Fehler korrigiert und die Kanzleikraft angewiesen hat, den korrigierten Schriftsatz zu versenden. Nach der etablierten Rechtsprechung des BGH ist es in solchen Situationen nicht erforderlich, dass der Anwalt den fehlerhaften Schriftsatz vernichtet, durchstreicht oder in sonstiger Weise unbrauchbar macht. Entgegen der Auffassung des OLG bedarf es auch nicht einer ausdrücklichen Anweisung an die Kanzleikraft, den fehlerhaften Schriftsatz zu vernichten. Eine solche Anweisung ist bereits konkludent in dem Auftrag enthalten, den korrigierten Schriftsatz zu versenden. Der Anwalt darf sich auch ohne diesbezügliche Klarstellung darauf verlassen, dass beide Anweisungen befolgt werden.

Praxistipp: Um unnötige Weiterungen zu vermeiden, erscheint es in solchen Situationen dennoch empfehlenswert, den fehlerhaften Schriftsatz mit einer eindeutigen Kennzeichnung zu versehen, die einen versehentlichen Versand verhindert.

Bezeichnung des Rechtsmittelgegners bei Streitgenossenschaft
Beschluss vom 18. Dezember 2018 – XI ZB 16/18

Mit den Anforderungen an die Bezeichnung des Rechtsmittelgegners befasst sich der XI. Zivilsenat.

Nach dem Widerruf von zwei Verbraucherdarlehensverträgen nahm der Kläger die Beklagte zu 1 auf Erstattung der auf den ersten Vertrag erbrachten Leistungen in Höhe von rund 5.000 Euro und die zum gleichen Unternehmensverbund gehörende Beklagte zu 2 auf Erstattung der auf den zweiten Vertrag erbrachten Leistungen in Höhe von rund 17.000 Euro in Anspruch. Das LG wies die Klage ab. In seiner Berufungsschrift gab der Kläger nur die Beklagte zu 1 als Gegner an. In der Berufungsbegründung verfolgte er sein erstinstanzliches Begehren gegen beide Beklagten weiter. Das OLG wies die Berufung gegen die Beklagte zu 1 durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Im gleichen Beschluss verwarf es die Berufung gegen die Beklagte zu 2 als unzulässig.

Der BGH weist die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Rechtsbeschwerde des Klägers zurück. Abweichend vom OLG hält der BGH die Berufung jedoch auch gegenüber dieser Beklagten für zulässig. Eine Berufungsschrift richtet sich im Zweifel gegen alle Streitgenossen auf der Gegenseite, die in erster Instanz obsiegt haben, sofern keine Anhaltspunkte vorliegen, aus denen sich eine beschränkte Einlegung des Rechtsmittels ergibt. Aus dem Umstand, dass nicht alle erstinstanzlichen Streitgenossen auf der Gegenseite ausdrücklich als Berufungsbeklagte benannt werden, darf ein solcher Beschränkungswille nicht abgeleitet werden, wenn eine Beschränkung angesichts des erstinstanzlichen Streitstoffs ungewöhnlich oder gar fernliegend erschiene. Im Streitfall erschien eine Beschränkung fernliegend, weil das LG die Abweisung der Klage gegenüber beiden Beklagten auf die Erwägung gestützt hatte, die – gleichlautenden – Widerrufsbelehrungen seien ordnungsgemäß und der Widerruf sei deshalb verfristet. Im Ergebnis bleibt die Rechtsbeschwerde dennoch erfolglos, weil der BGH der materiell-rechtlichen Beurteilung der Vorinstanzen beitritt und deshalb die Berufung gegenüber der Beklagten zu 2 aus denselben Gründen wie das Rechtsmittel gegen die Beklagte zu 1 für unbegründet erachtet.

Praxistipp: Zur Vermeidung unnötiger Weiterungen erscheint es empfehlenswert, in der Rechtsmittelschrift stets alle erstinstanzlichen Gegner anzugeben. Die vollständige Angabe aller Rechtsmittelführer ist ohnehin stets erforderlich.

Montagsblog: Neues vom BGH

Um ein immer wiederkehrendes und äußerst haftungsträchtiges Thema geht es in dieser Woche.

Zeitreserve bei Faxversand in letzter Minute
Beschluss vom 23. Oktober 2018 – III ZB 54/18

Mit den Anforderungen an den Versand von mehreren Schriftsätzen unmittelbar vor Fristablauf befasst sich der III. Zivilsenat.

Der Kläger begehrte von den Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit einer Fondsbeteiligung. Das LG wies die Klage ab. Der Kläger legte fristgerecht Berufung ein. Die per Telefax übermittelte Berufungsbegründung ging wenige Minuten nach Ablauf der Frist beim OLG ein. In seinem Wiedereinsetzungsgesuch machte der Kläger geltend, sein Anwalt habe um 23:26 Uhr mit der Übertragung von drei jeweils vierzehn Seiten umfassenden Berufungsbegründungen begonnen. Der Faxanschluss des OLG sei aber bis 23:55 Uhr belegt gewesen. Deshalb hätten nur noch die Schriftsätze in den beiden Parallelsachen rechtzeitig übermittelt werden können, nicht aber der Schriftsatz des Klägers. Das OLG wies das Wiedereinsetzungsgesuch zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Anwalt des Klägers musste damit rechnen, dass der Telefaxanschluss des Gerichts kurz vor Mitternacht aufgrund von Sendeversuchen anderer Absender belegt sein könnte, und musste deshalb eine zusätzliche Zeitreserve einplanen. Diese beträgt bei einem einzelnen Schriftsatz in der Regel 20 Minuten. Sollen mehrere Schriftsätze übertragen werden, muss die Reserve angemessen erhöht werden, weil die Gefahr besteht, dass die Leitung nach jedem einzelnen Übermittlungsvorgang erneut durch Dritte belegt ist. Im Streitfall stand für die drei Schriftsätze insgesamt eine Zeitreserve von weniger als 30 Minuten zur Verfügung. Dies war nicht ausreichend.

Praxistipp: Bei Last-Minute-Einreichungen dürfte der Versand über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) mit deutlich geringeren Risiken verbunden sein als der Versand über das vermeintlich bewährte Telefax.

Versäumung der Berufungsfrist wegen plötzlicher Erkrankung des Anwalts

Über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist infolge plötzlicher Erkrankung des Anwalts hat der BGH entschieden (Beschl. v. 18.1.2018 – V ZB 114/17, MDR 2018, 548):

Eine Berufungsfrist wurde versäumt und hierzu folgendes vorgetragen: Am Abend des letzten Tages der Frist habe Rechtsanwalt P. geplant, zunächst eine Klageschrift in einer anderen Sache zu verfassen und erst alsdann die Berufungsschrift. Gegen 21.30 Uhr sei er dann aber von einer starken, völlig unvermittelten Übelkeit mit heftigem Erbrechen sowie Durchfall erfasst worden. Einen klaren Gedanken habe er nicht mehr fassen können. Er sei dann mit dem PKW 2,5 km nach Hause gefahren und habe schließlich nach mehreren Erkrankungsschüben in der Nacht am nächsten Morgen einen Arzt gerufen.

Das LG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück. Es hielt die Angaben des P. zwar grundsätzlich für glaubhaft. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar, wieso P. zunächst die Klageschrift und nicht zuerst die Berufung bearbeitet habe und wieso er nach Hause gefahren sei. Wäre er in der Lage gewesen, nach Hause zu fahren, hätte er auch ohne weiteres die eigentlich nur aus einem Satz bestehende Berufungsschrift fertigen können. Die Fahrt nach Hause sei deutlich schwieriger und komplexer gewesen als das Verfassen und Faxen der Berufungsschrift.

Zunächst ist dazu anzumerken, dass jede Frist nach ständiger Rechtsprechung bis zum Ende ausgenutzt werden darf. Von daher ist es völlig unerheblich, dass P. zunächst die Klageschrift bearbeitet hatte und sich erst danach der Berufungsschrift widmen wollte.

Im Übrigen gilt: Ein maßgeblicher Verstoß gegen Denkgesetze kann dann vorliegen, wenn ein Gericht von einem Erfahrungssatz des täglichen Lebens ausgeht, den es so nicht gibt. Hier war das LG offenbar von einem Erfahrungssatz ausgegangen, der in etwa lautet: Wer mit dem Auto 2,5 km nach Hause fahren kann, kann auch eine Berufungsschrift fertigen und faxen. Dies ist aber so nicht haltbar. Vielmehr ist es ohne weiteres denkbar, dass P. die Heimfahrt nur deswegen unfallfrei geschafft hat, weil ihm die Wegstrecke gut bekannt war. Weiterhin ist es vorliegend mehr als wahrscheinlich, dass P. nur noch das Ziel hatte, irgendwie nach Hause zu kommen, wofür auch spricht, dass er nicht einmal die Beleuchtung in der Kanzlei ausgeschaltet und auch nicht die Computer heruntergefahren hatte.

Fazit: Man muss also bei einer gerichtlichen Beweiswürdigung immer prüfen, ob ihr nicht ein Erfahrungssatz zu Grunde liegt, der bei näherer Betrachtung gar nicht haltbar ist. Wenn die Entscheidung darauf gestützt worden ist, kann sie der Aufhebung unterliegen.

BGH zur Weiterleitung von Rechtsmittelschriften

Der BGH (Beschl. v. 19.9.2017 – VI ZB 37/16, MDR 2018, 173) hat sich mit den Pflichten des unzuständigen Gerichts bei Eingang eines fristgebundenen Schriftsatzes beschäftigt:

Der Kläger hatte die Berufung gegen ein klageabweisendes Urteil des LG anstatt beim OLG beim LG eingelegt. Der Schriftsatz ging am letzten Tag der Frist gegen 13 Uhr ein. Der Schriftsatz wurde von dem LG nicht unmittelbar weitergeleitet. Das OLG lehnte die Wiedereinsetzung ab. Der Kläger versuchte hier, aus der Nichtweiterleitung durch das LG „Honig zu saugen“.

Nach ständiger Rechtsprechung gibt es ja bekanntlich eine Pflicht der Gerichte, fristgebundene Schriftsätze für ein Rechtsmittelverfahren im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Wird diese Pflicht vom Gericht verletzt, kann dies dazu führen, dass ein Verschulden der Partei bzw. des Anwalts (§ 85 Abs. 2 ZPO) dann nicht mehr für das Fristversäumnis ursächlich ist, weil diese nicht darauf, sondern auf der gerichtlichen Pflichtverletzung beruht. Dieser Gedanke führte hier aber nicht weiter, da bei einem Eingang um 13 Uhr des letzten Tages der Frist nicht mehr erwartet werden kann, dass bis 24 Uhr desselben Tages eine Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang erfolgen kann.

Der Kläger versuchte nun freilich, eine Verschärfung dieser Pflicht durchzusetzen. Dies machte der BGH nicht mit. Zu Maßnahmen außerhalb des Geschäftsganges besteht gerade keine Verpflichtung. Dem Rechtsmittelführer kann zum einen nicht die Verantwortung für das Rechtsmittel gänzlich abgenommen werden, zum anderen muss hier auch berücksichtigt werden, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit insoweit vor zusätzlichen Belastungen geschützt werden muss.

Interessant war noch der letzte Versuch des Klägers, einen „Rettungsanker“ auszuwerfen: Anstatt den Schriftsatz weiterzuleiten, kann natürlich auch ein Hinweis an die betroffene Partei erfolgen. Ein solcher Hinweis könnte – wenigstens theoretisch – natürlich auch sofort nach Eingang des Schriftsatzes erfolgen. Die Tatsache, dass das Gericht einen Hinweis erteilt darf, bedeutet jedoch gerade nicht, dass es auch verpflichtet ist, einen solchen auch tatsächlich und vor allem unverzüglich zu geben. Eine Hinweispflicht des Gerichts, aus der der Kläger etwas für sich herleiten könnte, bestehe daher nicht.

Damit blieb es bei der Entscheidung des OLG. Wenn an der Klage – es ging immerhin um 150.000 € – etwas dran gewesen sein sollte, muss der Kläger jetzt eben seinen Rechtsanwalt in Regress nehmen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang noch folgendes: Das OLG hatte noch nicht die Berufung verworfen, sondern lediglich die Wiedereinsetzung abgelehnt. In einem solchen Fall kann jedoch bereits gegen einen solchen Beschluss Rechtsbeschwerde eingelegt werden (§§ 238 Abs. 2, 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO)!