Berlin erhöht die Schlagzahl bei der Modernisierung des Sanierungsrechts. Erst kürzlich hatte das BMJV den Referentenentwurf eines Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes (SanInsFoG) vorgelegt. Dessen Kern besteht in der Einführung eines neuen Gesetzes zur Stabilisierung und Restrukturierung von Unternehmen (StaRUG), mit welchem die EU-Richtlinie zur Restrukturierung umgesetzt werden soll (dazu Thole, ZIP 2020, 1985 ff.). Nun hat das Bundeskabinett am 14.10.2020 bereits den Regierungsentwurf des SanInsFoG verabschiedet, der mit weiteren Überraschungen aufwartet. Dazu gehört der Plan, die bislang in den gesellschaftsrechtlichen Gesetzen verstreuten Zahlungsverbote (§ 64 GmbHG und die Parallelregelungen in § 92 Abs. 2 AktG, § 130a Abs. 1, auch i.V.m. § 177 Satz 1 HGB, § 99 GenG) in die Insolvenzordnung zu verlagern und dabei rechtsformneutral auszugestalten. Damit wird wieder zusammengeführt, was historisch zusammengehört: die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) und die Zahlungsverbote (§ 15b InsO), welche seinerzeit durch das MoMiG voneinander getrennt wurden (vgl. zur Historie Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 1 ff.).
Doch belässt es der Entwurf nicht bei der Zusammenführung der Zahlungsverbote im neuen § 15b InsO-E. Vielmehr schreitet er mutig und kraftvoll voran und packt jene Kritikpunkte an, welche der Verfasser vor einigen Jahren formuliert hatte (Bitter in Festheft Knauth, Beilage zu ZIP 22/2016, S. 5 ff.; ausführlich jetzt auch die o.g. Kommentierung des § 64 GmbHG im Scholz).
1. Begrenzung des Haftungsumfangs durch § 15b Abs. 4 InsO-E
Seit der „Entdeckung“ des § 64 GmbHG durch die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH vor gut 20 Jahren gibt es bekanntlich einen Grundlagenstreit zu der Frage des Haftungsumfangs (vgl. Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 20 ff. und Rz. 99 ff.): Soll der Geschäftsführer – wie es der Wortlaut zunächst nahelegt und die h.M. demgemäß vertritt – auf den Ersatz jedes einzelnen (!) Vermögensabflusses nach Insolvenzreife, also letztlich auf den danach getätigten Umsatz haften (Einzelbetrachtung) oder sind nicht im Gegenzug auch die während der Insolvenzreife eingetretenen Vermögenszuflüsse zu berücksichtigen, sodass der Geschäftsführer nur für die insgesamt eingetretene Masseschmälerung verantwortlich ist (Gesamtbetrachtung). Mit der neuen Regelung zur Rechtsfolge in § 15b Abs. 4 InsO-E will sich der Regierungsentwurf zwar nicht endgültig zu dieser Streitfrage positionieren. Er entfernt sich aber doch einen deutlichen Schritt von der im Grundsatz von einer Einzelbetrachtung ausgehenden Rechtsprechung des BGH und nähert sich damit der Gegenansicht an, die seit jeher vor allem von Karsten Schmidt, Altmeppen und vom Verfasser vertreten wird:
Im Grundsatz soll es zwar nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO-E bei der bisherigen Pflicht zur Erstattung der nach Insolvenzreife getätigten Zahlungen bleiben. Sodann heißt es jedoch in Satz 2: „Ist der Gläubigerschaft der juristischen Person ein geringerer Schaden entstanden, beschränkt sich die Ersatzpflicht auf den Ausgleich dieses Schadens.“ Damit wird der „haftungsrechtliche Kampfhund“ (Karsten Schmidt, NZG 2015, 129) nunmehr gezähmt und dabei ein Weg eingeschlagen, den der Oberste Gerichtshof Österreichs bereits vor drei Jahren in einem in Deutschland wenig beachteten Urteil beschritten hat (OGH Wien v. 26.9.2017 – 6 Ob 164/16k unter Ziff. 2.3.3. bis 2.3.5. mit Hinweis auf Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 64 Rz. 16, 63, 68 f.; dazu Trenker, JBl 2018, 434, 437 ff.). Die einzelnen Zahlungen dienen danach nur als Vermutungstatbestand für die eigentlich relevante Masseschmälerung, den Gesamtschaden der Gläubiger. Die Begründung des Regierungsentwurfs verweist insoweit mit Recht auf eine frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts (RG v. 30.11.1938 – II 39/18, RGZ 159, 211, 229 f.), auf welche der Verfasser jüngst aufmerksam gemacht hatte, die ansonsten aber nur in Österreich zur Kenntnis genommen wurde (Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 108).
2. Der Gegenbeweis des § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO-E als Schritt in die richtige Richtung
Die vom OGH Wien vorgezeichnete und nunmehr in § 15b Abs. 4 Sätze 1 und 2 InsO-E enthaltene Lösung ist als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen. Zwar taugen die einzelnen Zahlungen korrekterweise nicht einmal als Vermutungstatbestand für die insgesamt seit der Insolvenzreife eingetretene Masseschmälerung (Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 202). Doch ist es allemal besser, dem Geschäftsführer zumindest den Gegenbeweis eines geringen Schadens zu ermöglichen als ihn stets erbarmungslos auf den Ersatz aller einzelnen Zahlungen haften zu lassen, obwohl der von ihm angerichtete Gesamtschaden der Gläubiger ggf. weit dahinter zurückbleibt. Den letzten Schritt auf dem jetzt eingeschlagenen Weg (mit einer Streichung des Vermutungstatbestandes) wird der Gesetzgeber wohl erst dann gehen wollen, wenn für die Bemessung des Gesamtverlustes ein rechtssicheres und praktikables Konzept gefunden ist (vgl. zu dem insoweit noch bestehenden Gesprächsbedarf Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 103).
3. Korrektur der BGH-Rechtsprechung zu § 64 Satz 2 GmbHG
Mit begrüßenswerter Kraft korrigiert der Regierungsentwurf in § 15b Abs. 2 und 3 InsO-E auch die vom Verfasser seit jeher kritisierte Rechtsprechung des BGH zu der bislang in § 64 Satz 2 GmbHG geregelten Sorgfaltsausnahme (dazu eingehend Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 162 ff.).
a) Änderung der sog. Notgeschäftsführung
Die vom BGH entwickelten Grundsätze sind nämlich einerseits zu weit, da auch Zahlungen im Zustand der Insolvenzverschleppung als privilegiert angesehen werden, andererseits zu eng, weil im Zustand fehlender Verletzung der Insolvenzantragspflicht trotz Insolvenzreife nicht nur Zahlungen zur Nachteilsabwendung im engeren Sinne (sog. Notgeschäftsführung) erlaubt sein sollten. Ein derartiger Zustand fehlender Verletzung der Insolvenzantragspflicht trotz Insolvenzreife besteht zum einen während der laufenden Drei- bzw. Sechs-Wochen-Frist i.S.v. § 15a Abs. 1 und 2 InsO-E, zum anderen nach der Erfüllung der Insolvenzantragspflicht im Eröffnungsverfahren (Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 170; Bitter, ZIP 2020, 685, 690 f.). In diesen Fällen sollen nun überzeugend und in Übereinstimmung mit der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVInsAG bereits enthaltenen Regelung alle Zahlungen privilegiert werden, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen.
b) Verhältnis des Zahlungsverbots zu § 266a StGB und §§ 34, 69 AO
Mit dem geplanten § 15b Abs. 2 und 3 InsO-E soll die Rechtsprechung des BGH auch insoweit korrigiert werden, als sie die Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung i.S.v. § 266a StGB sowie haftungs- und bußgeldbewerte Steuerzahlungen allgemein als privilegiert angesehen hat (BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265; BGH v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, ZIP 2011, 422, Rz. 12). Dafür besteht im Zeitraum einer Insolvenzverschleppung kein Anlass, weil die Pflichtenkollision zwischen dem Massesicherungsgebot und der Pflicht zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und Steuern in diesem Fall vom Geschäftsleiter selbst verursacht ist (Bitter, Beilage zu ZIP 22/2016, S. 5, 6 f.; Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 176 f.). Im Zustand der Insolvenzverschleppung entspricht nicht die Fortführung des Unternehmens unter Inkaufnahme weiterer Zahlungen, sondern allein die Einreichung des Eröffnungsantrags der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. Die Geschäftsleiter unterliegen daher im Zeitraum der Insolvenzverschleppung sowohl dem Gebot der Massesicherung als auch den Sanktionen aus § 266a StGB und den steuerrechtlichen Haftungs- und Bußgeldvorschriften. Aus dieser selbstgeschaffenen Pflichtenkollision hat sich der Geschäftsleiter durch die Einreichung des Eröffnungsantrags zu befreien.
Für den Zeitraum nach dem Eröffnungsantrag besteht zwar eine nicht mehr durch Antragstellung auflösbare Pflichtenkollision, jedoch ebenfalls kein Anlass für eine Privilegierung nach der Ausnahme sorgfaltsgemäßen Handelns. Die Pflichtenkollision lässt sich nämlich insoweit nach der für den Drei-Wochen-Zeitraum des früheren § 64 Abs. 1 GmbHG entwickelten Rechtsprechung des BGH zu § 266a StGB dahingehend auflösen, dass das Abführungsgebot hinter der Massesicherungspflicht zurücktritt (BGH v. 30.7.2003 – 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307 = GmbHR 2004, 112; näher Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 177, 184). Dann erledigen sich auch die Probleme, welche uns die BGH-Rechtsprechung bei den im Eröffnungsverfahren geleisteten Steuerzahlungen bereitet hat (dazu eingehend Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2020 [Stand: Oktober 2020], § 64 Rz. 181 ff. ).
Hinweis des Verlags:
Mit Erscheinen von Band I ist der Scholz 2018 in die 12. Auflage gestartet. Band III erscheint Anfang November 2020, Band II erscheint Anfang 2021. Schon jetzt bietet der Scholz seinen Fans aber ein ganz besonderes Plus: Bereits vor Erscheinen der Bände II und III können zahlreiche Kommentierungen online genutzt werden. Alle Kommentierungen wurden grundlegend überarbeitet und warten mit zahlreichen spannenden Neuerungen auf. Darunter auch die in diesem Blog vielfach zitierte topaktuelle Kommentierung von Prof. Dr. Georg Bitter zu § 64 GmbHG.
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