Zahl der Anwaltskanzleien in der Rechtsform der GmbH & Co. KG stark gestiegen

I. Zulassung der anwaltlichen GmbH & Co. KG durch die MoPeG-Regelung des § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB unter Berufsrechtsvorbehalt

Das am 1.1.2024 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG) öffnet mit § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB die Rechtsform der OHG und KG einschließlich GmbH & Co. KG gesellschaftsrechtlich für die Freien Berufe. Nach dieser Vorschrift können zum Zwecke der Ausübung eines Freien Berufs die genannten handelsrechtlichen Gesellschaftsgenres im Wege einer konstitutiven Handelsregistereintragung adoptiert werden, „soweit das anwendbare Berufsrecht die Eintragung zulässt“. Ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine Freiberuflergesellschaft als OHG, KG oder GmbH & Co. KG firmieren darf, entscheidet daher letztlich der für den konkreten Freien Beruf zuständige Bundes- oder Landesgesetzgeber. Die MoPeG-Regelung des § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB liefert insoweit die gesellschaftsrechtliche Vorlage (vgl. zu dieser Verzahnung von Gesellschaftsrecht und Berufsrecht Begründung Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 223; Wertenbruch, GmbHR 2022, R 229 f.; Wertenbruch, NZG 2019, 1081 ff.).

II. Berufsrechtliche Legitimation der anwaltlichen GmbH & Co. KG gem. § 59i BRAO

Die berufsrechtliche Verlängerung des § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB ist in den Bereichen Rechtsdienstleistungen, Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung bereits erfolgt. Sie wurde durch die insoweit vorhandene Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes wesentlich erleichtert, während beispielsweise für die Ärzte, Bauingenieure und Architekten die Länder zuständig sind, so dass durch disparate und verzögerte landesrechtliche Ausformungen „Flickenteppiche“ entstehen können. Vor dem Umzug der GmbH & Co. KG in ein anderes Bundesland muss dann geprüft werden, ob im Zuzugsland die bisherige Rechtsform überhaupt in gleicher Weise zulässig ist. Das am 1.8.2022 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften vom 7.7.2021 (BGBl. I 2021, S. 2363) legt für die Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer die aktuellen Bedingungen für eine Handelsregistereintragung als OHG, KG oder GmbH & Co. KG fest. Zudem waren die betreffenden berufsrechtlichen Bestimmungen vom 1.8.2022 bis zum Inkrafttreten des MoPeG am 1.1.2024 als temporäre leges speciales im Verhältnis zu § 105 HGB a.F. einzuordnen, so dass die Eintragung als GmbH & Co. KG nach Maßgabe des reformierten Berufsrechts schon ab dem 1.8.2022 zulässig war (vgl. dazu Wertenbruch, GmbHR 2022, R 229 f.).

Zum Stichtag 31.12.2023 waren nach der Statistik der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) 22 Anwaltsgesellschaften als GmbH & Co. KG im Handelsregister eingetragen. Im Jahre 2024 hat sich diese Zahl auf 61 erhöht und damit fast verdreifacht (www.brak.de/presse/presseerklaerungen/der-brak-2025/mitglieder-und-fachanwaltsstatistik-zum-01012025/). Die berufsrechtliche Zulässigkeit der anwaltlichen GmbH & Co. KG einschließlich der Variante der Einheits-GmbH & Co. KG folgt aus § 59i BRAO (vgl. zu den Einzelheiten Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 83. Lfg. 4/2022, § 58 Rz. I 3982 ff.).

III. Vorzüge der anwaltlichen Einheits-GmbH & Co. KG gegenüber der klassischen GmbH & Co. KG

Die anwaltliche Einheits-GmbH & Co. KG offeriert gegenüber der beteiligungsidentischen klassischen GmbH & Co. KG bedeutende Vorteile. Die Beteiligungsidentität wird beim Einheitsmodell schon dadurch lückenlos gesichert, dass die KG die einzige Gesellschafterin ihrer eigenen Komplementär-GmbH ist, so dass auch bei Tod eines Gesellschafters oder Kündigung keine Beteiligungsdisparitäten auftreten können (vgl. dazu Wertenbruch, GmbHR 2021, 1181 Rz. 20 ff.; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 83. Lfg. 4/2022, § 58 Rz. 3957 ff.). Ein größerer Kostenvorteil der Einheits-GmbH & Co. KG besteht darin, dass ein Gesellschafterwechsel nur noch aufseiten der Kommanditisten vonstattengeht. Die Übertragung eines Kommanditanteils erfordert grundsätzlich keine notarielle Beurkundung, während bei der beteiligungsidentischen klassischen GmbH & Co. KG jedenfalls die Übertragung der GmbH-Geschäftsanteile ebenso wie das zugrundeliegende Verpflichtungsgeschäft formbedürftig ist (§ 15 Abs. 3 und 4 GmbHG). Nach den Grundsätzen über das einheitliche Beurkundungsgeschäft erstreckt sich aber der Formzwang im Fall einer parallelen Übertragung beider Anteilsarten eines Gesellschafters regelmäßig auch auf Kommanditanteile (vgl. dazu Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 83. Lfg. 4/2022, § 58 Rz. I 3960 ff.).

Die bis zum Inkrafttreten des MoPeG bei der Einheits-GmbH & Co. KG bestehende erhebliche Rechtsunsicherheit bezüglich der Ausübung des Stimmrechts der KG in der Gesellschafterversammlung ihrer Komplementär-GmbH wurde durch die Neuregelung des § 170 Abs. 2 HGB eliminiert. Nach dieser Vorschrift wird bei der Einheits-GmbH & Co. KG das Stimmrecht der KG in der Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH – vorbehaltlich einer abweichenden Vereinbarung – von den Kommanditisten wahrgenommen. Es handelt sich um eine partielle gesetzliche Vertretungsmacht, die vice versa aufseiten der Geschäftsführer dieser GmbH zu einer korrespondierenden Beschränkung der gesetzlichen Vertretungsmacht aus § 35 GmbHG führt, wodurch die bisherige Problematik einer rivalisierenden Stimmabgabe durch die GmbH-Geschäftsführer in der Gesellschafterversammlung der GmbH ausgeschlossen wird (vgl. Begr. Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 256; Wertenbruch, GmbHR 2021, 1181 Rz. 9 ff.; Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 83. Lfg. 4/2022, § 58 Rz. I 3934 ff.). Die bis zum Inkrafttreten des § 170 Abs. 2 HGB üblichen rechtsgeschäftlichen Stimmrechtsvollmachten zugunsten der Kommanditisten konnten sich im Konfliktfall gegen die gesetzliche Vertretungsmacht des GmbH-Geschäftsführers nicht durchsetzen.

IV. „Umwandlung“ einer anwaltlichen GbR oder PartG in eine GmbH & Co. KG durch Statuswechsel gem. § 707c BGB

Die „Umwandlung“ einer eingetragenen GbR (eGbR) oder PartG/PartG mbB in eine GmbH & Co. KG erfolgt durch Anmeldung eines Statuswechsels beim Gesellschaftsregister bzw. Partnerschaftsregister als Ausgangsregister nach Maßgabe des § 707c BGB bzw. § 707c BGB i.V.m. § 1 Abs. 4 PartGG (vgl. dazu Lieder, GmbHR 2024, 897 Rz. 9; Wertenbruch/Alm, ZPG 2023, 201, 208). Vollzogen wird der Statuswechsel durch Eintragung der Anwaltsgesellschaft als GmbH & Co. KG in das Handelsregister als Zielregister (Lieder, GmbHR 2024, 897 Rz. 30 f.; Wertenbruch/Alm, ZPG 2023, 201, 207). Im Rahmen des Statuswechselverfahrens kann die Handelsregistereintragung der ad hoc gegründeten GmbH als Komplementärin beantragt werden (Begr. Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 209 f.; Wertenbruch/Alm, ZPG 2023, 201, 208). Nach § 707c Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 728b BGB wird die Nachhaftung der neuen Kommanditisten für die Altverbindlichkeiten der bisherigen GbR bzw. PartG beschränkt (Lieder, GmbHR 2024, 897 Rz. 41 f.; Wertenbruch/Döring, GmbHR 2023, 649 Rz. 25). Eine nicht im Gesellschaftsregister eingetragene GbR kann zwar – ohne vorherige Eintragung im Gesellschaftsregister – unter Aufnahme einer gegründeten GmbH die Eintragung als GmbH & Co. KG beim Handelsregister anmelden. Die Statuswechselnorm des § 707c Abs. 5 Satz 1 BGB ist dann aber nicht anwendbar (Wertenbruch/Döring, GmbHR 2023, 649 Rz. 26).

V. Die anwaltliche GmbH & Co. KG im steuerlichen Belastungsvergleich mit der Anwalts-GmbH

Die mit § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB bewerkstelligte gesellschaftsrechtliche Öffnung der Rechtsform der GmbH & Co. KG für die Freien Berufe ermöglicht eine Kombination von beschränkter Kommanditistenhaftung nach § 171 HGB und der Mitunternehmerbesteuerung nach §§ 15, 15a EStG (Begr. Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 102). Ob für die anwaltliche Berufsausübung die GmbH & Co. KG steuerlich günstiger ist als die Rechtsform der GmbH, hängt vom Belastungsvergleich im konkreten Fall ab (vgl. dazu Mueller-Thuns in Hesselmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 23. Aufl. 2025, § 2 B II Rz. 2.38 ff.). Ertragsteuerlich kann die Gesamtbelastung bei der GmbH & Co. KG im Vergleich zur GmbH etwas geringer ausfallen. Dies hängt vom individuellen Steuersatz der Gesellschafter und dem Umfang der Gewinnausschüttungen bei der GmbH ab (Mueller-Thuns in Hesselmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 23. Aufl. 2025, § 2 B II Rz. 2.39 ff., 58 ff.). Die Belastung mit Gewerbesteuer fällt wegen ihrer Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht ins Gewicht (§ 35 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG).

VI. Die Defizite und Unstimmigkeiten bei der PartG mbB – Auslaufmodell kraft MoPeG?

Die in § 8 Abs. 4 PartGG definierte Rechtsform der PartG mbB wird zwar durch das MoPeG nicht unmittelbar angetastet, sondern als Option für die gemeinschaftliche Ausübung eines Freien Berufs beibehalten. Diese Rechtsform hat aber den gravierenden Nachteil, dass die persönliche Haftung nur für Fehler bei der Berufsausübung ausgeschlossen ist, also insbesondere nicht für Gesellschaftsverbindlichkeiten aus Miet- und Arbeitsverhältnissen. Im Bereich der Großkanzleien bezieht sich das Restrisiko der persönlichen Haftung vor allem auf Forderungen aus langfristigen Büromietverträgen und aus Arbeitsverträgen mit angestellten Anwälten sowie Assistenzpersonal. Eine Kanzlei mit größerer Partnerzahl wird diese persönlichen Belastungen zwar in der Regel am Ende des Tages schultern können. Die betreffenden Gläubiger müssen aber die gesamtschuldnerisch haftenden Gesellschafter nicht pro rata in Anspruch nehmen, sondern können ihr Erfüllungsinteresse auf einen oder eine Handvoll Gesellschafter fokussieren, die als besonders solvent eingeschätzt werden. Die ausgewählten Gesellschafter sind dann auf einen Regress aus § 426 Abs. 1 und Abs. 2 BGB gegen die Mitgesellschafter angewiesen, sofern im Vorfeld eine solidarische Freistellung nicht zustande kommt.

Dass bei einer freiberuflichen Berufsausübungsgesellschaft die persönliche Haftung gerade für die Ansprüche wegen Schäden aus fehlerhafter Berufsausübung ausgeschlossen werden kann, während für Gesellschaftsverbindlichkeiten aus Schuldverhältnissen ohne direkten Bezug zur Berufsausübung zwingend gehaftet werden muss, stellt eine Unstimmigkeit dar (vgl. dazu Begr. Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 102; Wertenbruch, NZG 2019, 1081, 1086 ff.). Zum Wesen des Freien Berufs kann eine derartige Differenzierung bei der persönlichen Haftung nicht gehören. Ziel der MoPeG-Regelung des § 107 Abs. 1 Satz 2 HGB ist daher auch, die Haftungsverhältnisse bei der freiberuflichen Berufsausübung zu flexibilisieren und dadurch die bestehenden Unstimmigkeiten des § 8 Abs. 4 PartGG zu beseitigen (Begründung Gesetzentwurf MoPeG, BT-Drucks. 19/27635, S. 102; Wertenbruch, NZG 2019, 1081, 1089 f.). Das PartGG ist im Jahre 2013 mit der PartG mbB auf der Anfahrt zu einem in sich konsistenten und international konkurrenzfähigen Haftungsmodell für die Freiberufler-Personengesellschaft auf halber Strecke stehengeblieben.

BaFin: Aktualisierte FAQs zu Stimmrechtsmitteilungen und neues Muster zu § 41 WpHG wegen Mehrstimmrechtsaktien

Aufgrund der Einführung von Mehrstimmrechtsaktien durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz (BGBl. 2023 I Nr. 354) hat die BaFin Ende Dezember 2023 ihre FAQs zu den Publikationspflichten der §§ 33 ff. WpHG und §§ 48 ff. WpHG aktualisiert und ein neues Muster für die Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte nach § 41 WpHG publiziert.

  1. Aktualisierte BaFin-FAQs

Im Rahmen der aktualisierten BaFin-FAQs wird zum einen erläutert, wie Mehrstimmrechte in einer Stimmrechtsmitteilung anzugeben sind. Demnach habe der Halter von Mehrstimmrechten diese unter „7.a. Stimmrechte (§§ 33, 34 WpHG)“ mit ihrer eigenen ISIN in einer separaten Zeile anzugeben. Sofern die Mehrstimmrechtsaktien über keine ISIN verfügen, sei in der ISIN-Spalte „MehrstimmR“ einzutragen. Unter „10. Sonstige Informationen“ könne zusätzlich ein Hinweis darauf erfolgen, dass es sich bei der gemeldeten Position um Mehrstimmrechtsaktien handelt.

Zum anderen wird in den FAQs unter Verweis auf ein (unverbindliches) neues Musterformular für die Veröffentlichung nach § 41 WpHG (siehe hierzu unter 2.) präzisiert, wie Mehrstimmrechte in der Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte anzugeben sind. Hintergrund ist, dass nach der Gesetzesreform gem. § 41 Abs. 1 Satz 1 WpHG n.F. in der Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte auch die auf „diese entfallende Anzahl von Mehrstimmrechten“ anzugeben ist.

Unverändert zu beachten ist, dass seit Juli 2020 Mitteilungen über Änderungen bedeutender Stimmrechtsanteile nur noch in elektronischer Form an die BaFin und die Gesellschaft zu übermitteln sind. Die elektronische Übermittlung einer Mitteilung an die BaFin hat über die dortige Melde- und Veröffentlichungsplattform (MVP) zu erfolgen.

  1. Muster: Gesamtzahl der Stimmrechte nach § 41 WpHG

Im Rahmen des aktualisierten Word-Musters für die Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte gem. § 41 WpHG stellt die BaFin klar, dass zum einen auch die Ausgabe oder das Erlöschen von Mehrstimmrechtsaktien eine „sonstige (Kapital-)Maßnahme“ i.S.d. § 41 Abs. 1 WpHG darstellt, die zu einer Zu- oder Abnahme von Stimmrechten und damit einer Veröffentlichungspflicht nach § 41 WpHG führt. Überdies nahm die BaFin eine Unterteilung des Felds „3. Neue Gesamtzahl der Stimmrechte“ vor, indem in einer gesonderten Zeile die Rubrik „davon Anzahl Mehrstimmrechte:“ aufgenommen wurde. Von Emittenten, die keine Mehrstimmrechtsaktien (mehr) ausgegeben haben, sei in dieser Zeile eine „0“ einzutragen.

  1. Fazit

Durch die Anpassung ihrer FAQs und des Musters für die Veröffentlichung nach § 41 WpHG hat die BaFin schnell auf die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien reagiert. Hierdurch wurden frühzeitig Darstellungsunsicherheiten für alle Emittenten beseitigt, und zwar unabhängig davon, ob sie Mehrstimmrechtsaktien emittiert haben.

Listing Act: Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Ende 2021 kündigte die Europäische Kommission an, im Rahmen eines sog. „Listing Act“ Regelungen vorzuschlagen, die die Attraktivität des europäischen Kapitalmarkts steigern sollten. Der Ankündigung folgte eine öffentliche Konsultation, die bis Februar 2022 dauerte (zu den Stellungnahmen Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 18 ff.). Nach einer längeren Funkstille präsentierte die EU-Kommission am 7.12.2022 ein umfangreiches Regelungspaket mit mehreren Entwürfen, die das Insolvenzrecht, das Clearing (u.a. Anpassung der EMIR und weiterer Verordnungen sowie der OGAW-RL und weiterer Richtlinien), die Mehrstimmrechte, die Änderung der EU-ProspektVO, der MAR und der MiFIR sowie die Änderung der MiFID II und die Abschaffung der Wertpapierzulassungs-RL 2001/34/EG betreffen.

Im Gesellschaftsrechts-Blog werden wir die gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Pläne der EU-Kommission darstellen; das Vorhaben wird auch Gegenstand eines Beitrags im AG-Report sein.

Die (Wieder-)Einführung der Mehrstimmrechtsaktie

Da aus einer gesellschaftsrechtlichen Perspektive der Entwurf einer Mehrstimmrechtsaktien-RL (s. COM(2022) 761 final) im Zentrum des Interesses stehen dürfte, konzentrieren wir uns im ersten Teil auf die Mehrstimmrechtsaktien, die in Deutschland bekanntlich seit 1998 nach § 12 Abs. 2 AktG unzulässig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Ankündigung ihrer Wiedereinführung durch die EU-Kommission – und durch das Eckpunktepapier für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (s. dazu Kuthe, AG 2022, R208 und meinen Zwischenruf) – eine Flut von Beiträgen auslöste, die sich mit den Vor- und Nachteilen dieses Governance-Instruments auseinandersetzen (vgl. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275; Nicolussi, AG 2022, 753).

Nun macht die EU-Kommission einen ersten Aufschlag und will die Emission von Mehrstimmrechtsaktien europaweit ermöglichen. Dabei definiert sie die Mehrstimmrechtsaktien in Art. 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als Aktien, die zu einer gesonderten und separaten Gattung gehören und mit höherem Stimmgewicht ausgestattet sind als eine andere Gattung von Aktien, die ein Stimmrecht in Angelegenheiten gewähren, die im Rahmen der Hauptversammlungskompetenzen liegen. Emittiert eine Gesellschaft solche Mehrstimmrechtsaktien, verfügt sie nach Art. 2 lit. c Mehrstimmrechtsaktien-RL-E über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur.

Überdies legt Art. 2 lit. f Mehrstimmrechtsaktien-RL-E fest, dass unter gewichtetem Stimmverhältnis das Verhältnis der mit Mehrstimmrechtsaktien verbundenen Stimmen zu den Stimmen, die mit den „regulären“ Aktien verbunden sind, zu verstehen ist (lit. f). Ansonsten erschöpft sich der Katalog des Art. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E in Verweisungen auf Definitionen der Gesellschaft (erfasst ist nach lit. a nur die AG, nicht aber die GmbH), des Handelsplatzes (lit. d) und des KMU-Wachstumsmarktes (lit. e) in anderen Regelwerken.

Was die Zulässigkeit und Ausgestaltung der Mehrstimmrechtsaktien angeht, verfolgt die EU-Kommission das Konzept der Mindestharmonisierung: Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E stellt zunächst klar, dass die Mitgliedstaaten befugt sind, Regelungen über die Zulässigkeit von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen beizubehalten und/oder neu einzuführen (zur Verbreitung der Mehrstimmrechtsaktie in der EU Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 16; zur Ausgestaltung s. Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277). Zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soll Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E beitragen, der eine Pflicht zur Gestattung der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert:

  • Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt den Mitgliedstaaten vor, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen durch Unternehmen zu gestatten, deren Aktien nicht zum Handel an einem Handelsplatz zugelassen sind und die eine Zulassung von Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt (s. § 76 WpHG) in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten beantragen wollen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E untersagt, die Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt mit der Begründung zu verweigern, dass ein Unternehmen über eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur verfügt.
  • Den Unternehmen soll nach Art. 4 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit offenstehen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen rechtzeitig vor der Beantragung der Zulassung der Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einzuführen.
  • Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 4 Abs. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E gestattet, die Ausübung der mit den Mehrstimmrechtsaktien verbundenen erweiterten Stimmrechte an die tatsächliche Zulassung der Aktien zu knüpfen.

Mehrstimmrechtsaktie als Instrument der Machtsicherung

Die Ausgestaltung des Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E und die Erwägungsgründe machen deutlich, dass die EU-Kommission die Mehrstimmrechtsaktie nicht nur als eine gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption, sondern als ein Instrument begreift, das die Attraktivität des Kapitalmarkts für kleine und mittlere Unternehmen steigern soll. Die wirtschaftlichen Eigentümer solcher Unternehmer – häufig dürfte es sich um Start-ups oder Familiengesellschaften handeln – sollen die Möglichkeit haben, den öffentlichen Kapitalmarkt zu betreten, ohne dabei das Risiko einzugehen, die Macht in der Hauptversammlung zu verlieren; die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sollen also der Machterhaltung und -sicherung dienen.

Ob sich die Geldgeber auf solche Machtverhältnisse einlassen und tatsächlich in die Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen investieren, steht auf einem anderen Blatt (zur Skepsis der Investoren und Stimmrechtsberater im angelsächsischen Rechtsraum Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen; zu den Erwartungen des Kapitalmarkts ferner Denninger, DB 2022, 2329, 2334).

Aktionärsschutz durch Verfahrensrecht

Im Hinblick auf die Machtungleichgewichte, die mit Mehrstimmrechtsaktien einhergehen, überrascht es nicht, dass die EU-Kommission dem Schutz der Aktionäre, die „reguläre“ Aktien halten, Sorge tragen will (vgl. Erwägungsgrund 10 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E; generell zum Minderheitenschutz Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 32 ff.; vgl. ferner Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275, 1277 f.). Dabei ist zum einen zwischen zwei Anlässen zu differenzieren, aus denen der Aktionärsschutz geboten sein kann: erstens, wenn ein Unternehmen eine Mehrstimmrechtsaktienstruktur einführt, und zweitens, wenn die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien diese nutzen, um einen Beschluss zu fassen. Zum anderen kommen unterschiedliche Schutzinstrumente in Betracht, und zwar Verfahrensregelungen einerseits, materiell-rechtliche Regelungen andererseits.

Blickt man auf das Richtlinienkonzept, soll der Aktionärsschutz in erster Linie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen im Zusammenhang mit der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen sichergestellt werden:

  • Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E schreibt vor, dass der Hauptversammlungsbeschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer qualifizierten Mehrheit bedarf; in Deutschland handelt es sich um die ¾-Kapitalmehrheit des § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG.
  • Überdies müssen die Inhaber der Aktien besonderer Gattungen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Unterabs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E die Möglichkeit haben, einen Sonderbeschluss zu fassen, soweit ihre Rechte durch die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien betroffen sind (vgl. dazu §§ 138, 179 Abs. 3 AktG und Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 37).
  • Ferner muss das Stimmgewicht der Mehrstimmrechtsaktien nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E der Höhe nach begrenzt werden (hierzu generell Denninger, DB 2022, 2329, 2335).
  • Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sieht eine Öffnungsklausel für weitere nationalen Schutzmaßnahmen zugunsten der Aktionäre und der Gesellschaft vor. Die in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E genannten Bestimmungen – zum einen Verfallsklauseln, zum anderen Auflösungsklauseln – haben wie Art. 5 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einen eher verfahrensrechtlichen Charakter.

Aktionärsschutz durch materielles Recht

Ein Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen ist im Richtlinienentwurf zwar nicht vorgesehen, indes dürfte die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E den Mitgliedstaaten erlauben, die Minderheit durch inhaltliche Vorgaben hinsichtlich der Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und der Ausübung der Mehrstimmrechte zu schützen. Dafür spricht auch Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E, der das Ermessen der Mitgliedstaaten betont.

Im Lichte von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und Erwägungsgrund 12 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E dürfte in Deutschland eine Diskussion darüber entflammen, ob ein Beschluss, mit dem die Mehrstimmrechtsaktienstruktur eingeführt wird, einer sachlichen Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Kali+Salz-Rechtsprechung bedarf (BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40). Die Antwort ist kurz und einfach: nein. Es ist absehbar, dass die Erforderlichkeit der sachlichen Rechtfertigung mit dem Standardargument abgelehnt wird, die gesetzliche Ermächtigung für die Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen trage den sachlichen Grund in sich (so der Sache nach bereits für die Einführung der Höchststimmrechte BGH v. 19.12.1977 – II ZR 136/76, BGHZ 70, 117).

Sollte die Diskussion den BGH erreichen, wäre es ein willkommener Anlass, das Konzept der materiellen Beschlusskontrolle generell zu überdenken, sich dabei vom Grundsatz sachlicher Rechtfertigung – der bei Lichte besehen nur für die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung eine Rolle spielt, in diesem Kontext aber wegen der Möglichkeit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle obsolet ist – zu verabschieden und auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht als das maßgebliche Schutzinstrument zu verweisen. Freilich wird ein Treuepflichtverstoß bei Einführung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen tendenziell fernliegen.

Eine Treuepflichtverletzung dürfte hingegen eher in Betracht kommen, wenn sich die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen der Stimmrechtsausübung hinsichtlich anderer Beschlussgegenstände allzu opportunistisch verhalten und die Interessen der Minderheitsaktionäre missachten. Wer wegen der Mehrstimmrechtsaktienstruktur über eine besondere Machtposition verfügt, muss auf die beweglichen Schranken der Stimmrechtsmacht achten. Anderenfalls kann der auf Mehrstimmen beruhende Hauptversammlungsbeschluss wegen eines Inhaltsfehlers nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar sein. Überdies kommt es in Betracht, den Aktionärsschutz mit Hilfe konzernrechtlicher Instrumente sicherzustellen (s. nur Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 40). Es dürfte im Lichte des Erwägungsgrundes 12 und des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E unbedenklich sein, auf diese tradierten Grundsätze des deutschen Aktienrechts zurückzugreifen, auch wenn sich die Richtlinie dazu nicht explizit äußert.

Mehrstimmrechtsaktie im ESG-Zeitalter

Während der Richtlinienentwurf den Aktionärsschutz durch materiell-rechtliche Regelungen weitgehend vernachlässigt, wird in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d deutlich, dass der Vorschlag im ESG-Zeitalter entwickelt wurde. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E enthält nämlich eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen (vgl. ferner Erwägungsgrund 11 Satz 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Ausübung der Mehrstimmrechte mit einer solchen Zielrichtung unzulässig ist.

Gegen eine solche Vorschrift ist im Ausgangspunkt nichts einzuwenden, die mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E einhergehende Übergewichtung der Umwelt- und Sozialaspekte zulasten der Governance-Probleme – die im Zusammenhang mit Mehrstimmrechtsaktien auf der Hand liegen (s. nur Denninger, DB 2022, 2329; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893; Nicolussi, AG 2022, 753) – ist aber doch nicht unbedenklich. Es ist verblüffend, dass der europäische Richtliniengeber der Verfolgung exogener Ziele mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Lösung herkömmlicher aktienrechtlicher Regelungsaufgaben. Gleichwohl dürfte dieser Fokus jedenfalls in Deutschland im Ergebnis hinnehmbar sein, wenn man den Aktionärsschutz qua Treuepflicht und Konzernrecht nicht aus den Augen verliert.

Zugleich könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E eine Diskussion um das Zusammenspiel zwischen dem Menschenrechts- und Umweltschutz und der materiellen Beschlusskontrolle auslösen. Aus der Perspektive der deutschen Beschlussdogmatik könnte Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E als eine Regelung gedeutet werden, die es erlaubt, die Hauptversammlung dem interessenpluralistischen Zielkonzept zu unterwerfen. Ein solches Verständnis führte dazu, dass ein Anfechtungsgrund wegen eines Inhaltsfehlers angenommen werden könnte, wenn die Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung Umwelt- und Sozialbelange missachtet – und zwar unabhängig davon, ob der fragliche Beschluss durch Mehrstimmrechtsaktien getragen wird oder in Gesellschaften ohne Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gefasst wird. Dieser Ansatz ist bei unbefangener Betrachtung kontraintuitiv, weil er die shareholder dazu zwingt, im Rahmen der Beschlussfassung die Interessen der stakeholder in ihre Abwägung einzubeziehen. Berücksichtigt man indes die aktuelle Debatte zum „Say on ESG“ und die ESG-bezogenen Aktivitäten der Europäischen Union im Bereich des Unternehmens- und Wirtschaftsrechts, erscheint die Idee der Hauptversammlung als Agenten der Menschenrechte und der Umwelt nicht gänzlich unplausibel.

Anlegerschutz durch Transparenzpflichten

Dem kapitalmarktrechtlichen Charakter des Richtlinienentwurfs trägt dessen Art. 6 Rechnung, der – im Einklang mit dem Informationsmodell des europäischen Kapitalmarktrechts – Transparenzpflichten für Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen statuiert. Solche Unternehmen müssen gem. Art. 6 Abs. 1 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E im Wachstumsemissionsdokument i.S.d. Art. 15a EU-ProspektVO-E oder im Zulassungsdokument i.S.d. Art. 33 Abs. 3 lit. c MiFID II sowie im Jahresfinanzbericht eine Reihe von Umständen offenlegen. Hierzu zählen die Kapitalstruktur des Unternehmens (lit. a), die Beschränkungen hinsichtlich der Wertpapierübertragung (lit. b), die Sonderrechte und ihre Inhaber (lit. c), die Stimmbindungen (lit. d) und die Inhaber der Mehrstimmrechtsaktien (lit. e sowie Art. 6 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Die Erfüllung der Transparenzpflichten soll den Anlegern einen Einblick in die Unternehmensstrukturen ermöglichen und damit eine Grundlage für eine informierte Investitionsentscheidung schaffen (vgl. auch Erwägungsgrund 13 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E).

Umsetzungsoptionen des deutschen Gesetzgebers

Wird die Mehrstimmrechte-RL wie von der EU-Kommission vorgeschlagen beschlossen, ist § 12 Abs. 2 AktG in seiner aktuellen Fassung hinfällig. Gleichwohl stehen dem deutschen Gesetzgeber mehrere Umsetzungsoptionen offen (generell zur Umsetzung Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 23 ff.). Namentlich wird er im Rahmen der Umsetzung die Frage beantworten müssen, ob er die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in enger Anlehnung an Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nur für Unternehmen öffnet, deren Aktien zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt zugelassen sind, oder ob er darüber hinaus – und im Einklang mit Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E – das Aktienrecht weitergehend dereguliert und das Verbot der Mehrstimmrechte generell aufhebt. Die Aussagen im Eckpunktepapier für das Zukunftsfinanzierungsgesetz deuten darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber die Mehrstimmrechte in erster Linie als ein Instrument für Wachstumsunternehmen und Start-ups ansieht. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn das Verbot der Mehrstimmrechte nur insoweit entfällt, als Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E es erfordert.

Zwingend ist eine solche minimalinvasive Umsetzung freilich nicht. Da Mehrstimmrechte in Publikumsgesellschaften größeren Bedenken ausgesetzt sind als in geschlossenen Gesellschaften und die Zulässigkeit der Mehrstimmrechte in der GmbH konsentiert ist, spricht viel dafür, von der Gestaltungsoption des Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E jedenfalls für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften Gebrauch zu machen (dafür etwa Habersack, AG 2009, 1, 10 f.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1898 f.).

Für börsennotierte Unternehmen, deren Aktien nicht nur an einem KMU-Wachstumsmarkt gehandelt werden und die deshalb nicht von Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E erfasst sind, dürfte ein Abschied von § 12 Abs. 2 AktG schwieriger zu rechtfertigen sein (zu den Bedenken wegen der Ausschaltung des externen Effizienzdrucks am Kapitalmarkt Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Ein solcher Schritt wäre jedenfalls nur dann rechtspolitisch haltbar, wenn der Gesetzgeber für ein mit Art. 5 und 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E vergleichbares Schutzniveau sorgt. Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftsrechtlichen Schutzvorkehrungen und kapitalmarktrechtlichen Transparenzpflichten würde es erlauben, die Entscheidung über die Investition in ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur dem privatautonomen Urteil der Kapitalmarktakteure zu überlassen, statt diese zu bevormunden.

Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Stimmrechtsberater den Mehrstimmrechten kritisch gegenüberstehen und ihre Skepsis zum einen den Investoren bei der Entscheidungsfindung behilflich sein könnte, zum anderen einen externen Druck auf Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktienstrukturen und die bevorzugten Aktionäre erzeugen würde (zur Position der Stimmrechtsberater vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; Kuthe, AG-Report 1-2/2023 – im Erscheinen).