Online-Dossier: Listing Act und Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG)

Mit dem Listing Act und dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG I) haben der europäische und deutsche Gesetzgeber das Aktien-, Kapitalmarkt- und Finanzaufsichtsrecht grundlegend modernisiert, um den Kapitalmarkt attraktiver zu gestalten und mehr private Finanzmittel für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren. Das ZuFinG I ist bereits in Kraft getreten ist, die im Listing Act enthaltenen Regelwerke wurden am 14.11.2024 im EU-Amtsblatt veröffentlicht. Zudem hat das Bundeskabinett am 27.11.2024 den Regierungsentwurf eines Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) veröffentlicht.

Mit unserem stetig anwachsenden Online-Dossier liefern wir Ihnen einen umfassenden Überblick über die Reformvorhaben. Sechs Beiträge zum ZuFinG I finden Sie in der Sonderbeilage zu AG 6/2024, die Sie kostenlos herunterladen können.

Aus der AG:

  • Hoppe/Knop, Kapitalerhöhungen nach dem ZuFinG, AG 2024, 807
  • Mock, Der Anwendungsbereich des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG – ein unlösbares Puzzle?, AG 2024, 797
  • Gaffron/Cramer, Vorschläge zur Änderungen des Investment- und Investmentsteuerrechts durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz II, AG 2024, R323
  • Kuthe/de Boer, Aktien- und kapitalmarktrechtliche Vorschläge im Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Finanzierung von zukunftssichernden Investitionen, AG 2024, R305
  • Joser, Wettbewerb der Finanzstandorte – Eine rechtsvergleichende Analyse der Eigenkapitalfinanzierung in den USA, in Deutschland und im UK, AG0069726
  • Schlitt/Ries/Lepke, Auswirkungen des EU Listing Acts und des Zukunftsfinanzierungsgesetzes auf Aktien- und Equity-linked Emissionen, AG 2024, 466
  • Kümpel, Mehrstimmrechtsaktien im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen, AG 2024, 426
  • Heidel, Anmerkungen zum Eigentumsschutz der AG und ihrer Aktionäre nach den §§ 255–255b AktG, AG 2024, 310
  • Verse, Wertverwässerungsschutz bei Sachkapitalerhöhungen nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 297
  • Ceesay, Mehrstimmrechtsaktien nach § 135a AktG im Blickfeld von Aktien‑, Übernahme‑, Konzernrecht und DCGK, AG 2024, S2
  • Guntermann, Krypto-Aktie & Co., AG 2024, S13
  • von der Linden, Neuerungen im Kapitalerhöhungsrecht, AG 2024, S23
  • Schwarz, Auswirkungen der Reform des § 255 AktG auf das Recht der Unternehmensbewertung, AG 2024, S31
  • Harnos, Börsenmantelaktiengesellschaft, AG 2024, S53
  • Linardatos, Ausschluss der AGB-Kontrolle bei Finanzgeschäften, AG 2024, S72
  • Denga, Die e-Aktie, AG 2024, 137
  • Hellgardt, Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Sachverhalten – de lege lata und nach Inkrafttreten des Listing Acts, AG 2024, 57
  • Mutter, Zum Umgang mit dem “neuen“ Record Date nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz in der Hauptversammlungssaison 2024, AG 2024, R29
  • Jaspers/Thoma, Mehr als nur Kosmetik – Frischzellenkur für das WpÜG durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2024, 3
  • Koch, § 255 AktG nach dem ZuFinG – Was wird aus den Rechten des Aktionärs?, AG 2024, 1
  • Harnos, Zukunftsfinanzierungsgesetz im Bundestag – mehr Rückschritt wagen, AG 2023, 873
  • Kuthe, Ziel erreicht? – Das Zukunftsfinanzierungsgesetz ist beschlossen, AG 2023, R356
  • Wasmann, Neuere Rechtsprechung zur Kompensation bei Strukturmaßnahmen und Gesetzesvorhaben sind sich einig: Es ist der Börsenkurs!, AG 2023, 810
  • Kuthe/Reiff, Aktienrechtliche Änderungen im Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R308
  • Widany/Weil, Neuerungen im AGB-Recht: Bereichsausnahme für den Finanzdienstleistungssektor im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R215
  • Denninger/von Bülow, Mehrstimmrechtsaktien im Recht der öffentlichen Übernahmen, AG 2023, 417
  • Guntermann, RefE ZuFinG: Vorhang auf für die e‑Aktie, AG 2023, 426
  • Lay/Neubauer/Schäfer, Verbesserung der Rahmenbedingungen für Mitarbeiterbeteiligungen im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, AG 2023, R156
  • Harnos, Unternehmensrechtliche Regelungsvorschläge im Referentenentwurf des Zukunftsfinanzierungs­gesetzes, AG 2023, 348
  • Veil/Wiesner/Reichert, Ad Hoc Disclosure under the EU Listing Act, AG 2023, 57
  • Kuthe, Kommissionsvorschlag für den EU Listing Act, AG 2023, R28
  • Nicolussi, Mehrstimmrechtsaktie – Renaissance auf europäischer und nationaler Ebene, AG 2022, 753
  • Kuthe, Eckpunkte für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz, AG 2022, R208

Aus DER BETRIEB:

  • Wasmann, Der RefE des Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) – Neues zum Delisting, DB 2024, 2482
  • Martin, Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung durch den EU Listing Act, DB 2024, 1393
  • Sauer/Buchta, EU Listing Act: (K)ein großer Wurf für das EU-Prospektrecht?, DB 2024, 1327
  • Bungert/Strothotte, Neue Ära im Kapitalerhöhungsrecht – Die §§ 255 bis 255b AktG n.F. in der finalen Fassung des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2024, 36
  • Romba/Grimm, Die elektronische Aktie im ZuFinG: Eine Bestandsaufnahme, DB 2023, 2868
  • Bungert/Strothotte, Kapitalerhöhungen ohne Blockaderisiko – Die Neuerungen der §§ 255 bis 255b AktG im RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes, DB 2023, 2422
  • von der Linden/Schäfer, Der RegE des Zukunftsfinanzierungsgesetzes: Neues zu Mehrstimmrechten, Kapitalerhöhungen und SPACs, DB 2023, 2292
  • Hertel, Mitarbeiterbeteiligung als neues Zukunftsmodell?, DB 2023, 2085
  • Niermann, Steuerliche Neuregelungen im Bereich der Mitarbeiterbeteiligung durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz, DB 2023, 1239
  • Graßl/Krohn, Attraktivere europäische Kapitalmärkte: Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Marktmissbrauchsverordnung, DB 2023, 1142
  • von der Linden/Schäfer, Der RefE eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes – die wichtigsten Punkte aus aktienrechtlicher Perspektive, DB 2023, 1077
  • Denninger, Mehrstimmrechte in der Aktiengesellschaft – ein Wiedergänger in der deutschen und europäischen Reformdebatte, DB 2022, 2329

Aus der WM:

  • Wedemann, Der Aufschub der Veröffentlichung von Insiderinformationen nach der Neufassung des Art. 17 MAR, WM 2024, 2121
  • Wilhelm, Zwischen Meilenstein und Bärendienst: Die AGB-Bereichsausnahme für Finanzverträge nach § 310 Abs. 1a BGB n.F., WM 2024, 1289
  • Mock/Herzog, Mehrstimmrechtsaktien im Kapitalmarktrecht, WM 2024, 1005
  • Schmoll, Unbeschränkte Teilnahme von Privatanlegern an Kleinemissionen handelbarer Aktien – Ein Vorschlag zur Anpassung von §§ 6 WpPG, 65a WpHG, WM 2024, 631
  • Kropf, Die neue Bereichsausnahme von der AGB-Inhaltskontrolle im Zukunftsfinanzierungsgesetz – enttäuschte Erwartungen?, WM 2024, 377
  • Wittig/Hummelmeier, Back to the Future: Mehrstimmrechtsaktien nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, WM 2024, 332
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil II, WM 2023, 2073
  • Meier, Einführung der elektronischen Aktie in Deutschland – Teil I, WM 2023, 2035
  • le Dandeck/Nies, Das Zukunftsfinanzierungsgesetz – ein kohärentes Gesamtsystem? – Eine Untersuchung anhand der Auswirkungen des § 255 AktG-RegE auf das Übernahmerecht, WM  2023, 1947
  • Hippeli, Reformen im öffentlichen Übernahmerecht in Deutschland, WM 2023, 1769
  • Brauneck, Kryptowertpapiere: DLT-Pilotregime und CSDR contra eWpG?, WM 2023, 860

Aus der ZIP:

  • Gebhard, Pennystocks made in Germany? Die Neuregelung des aktienrechtlichen Mindestnennbetrags, ZIP 2024, 2617
  • Wedemann, Gestreckte Sachverhalte nach der Neufassung von Art. 17 MAR, ZIP 2024, 2373
  • Mock, Der eigenkapitalreduzierende Effekt des Ausgleichsanspruchs nach § 255 Abs. 4 AktG, ZIP 2024, 2173
  • Piller/Klusmann/Döding, Die Bewertungsrüge gegen die Aktienabfindung im Beherrschungsvertrag, ZIP 2024, 1701
  • Schulz, Börsennotierung und Ad-hoc-Publizität im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren, ZIP 2024, 1110
  • Kahle, Der erleichterte Bezugsrechtsausschluss im Aktienrecht nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG), ZIP 2024, 855
  • Segna, Die elektronische Aktie nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2024, 593
  • Brünkmans, Die Einbettung eines Pre-Pack-Verfahrens in die deutsche Insolvenzordnung, ZIP 2024, 265
  • Brünkmans, Das Pre-Pack-Verfahren nach dem EU‑Richtlinienentwurf, ZIP 2023, 2547
  • Herresthal, Die Problematik sog. negativer Zinsen bei Schuldscheindarlehen mit Zinsgleitklausel, ZIP 2023, 1873
  • Gebhard/Herzog, Die Wiederzulassung von Mehrstimmrechten – zurück in die Zukunft?, ZIP 2023, 1161
  • Joser, Der Referentenentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz, ZIP 2023, 1006
  • Haring/Laqua, Pre-pack-Verfahren nach der EU-Richtlinie vs. Prepacked Plan, ZIP 2023, 899
  • Kuthe, Die Änderungen des EU Listing Acts aus Emittentensicht im Prospektrecht, Aktienrecht und Marktmissbrauchsrecht, ZIP 2023, 773
  • Frind, Der „EU-harmonisierte“ Gläubigerausschuss – Aliud oder Entsprechung zum deutschen Recht?, ZIP 2023, 449
  • Misterek, Die Insiderinformation im Spannungsverhältnis von Ad-hoc-Publizität und Insiderhandelsverbot, ZIP 2023, 400
  • Thole, Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM (2022) 702, ZIP 2023, 389
  • Herzog/Gebhard, Mehrstimmrechte im Aktienrecht, ZIP 2022, 1893

Aus dem Blog Gesellschaftsrecht:

Aus dem K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024:

Materialien zum Listing Act:

  • Vorschlag eines Listing Acts v. 7.12.2022
  • Verordnung (EU) 2024/2809 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/1129, (EU) Nr. 596/2014 und (EU) Nr. 600/2014 zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehme
  • Richtlinie (EU) 2024/2810 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2024 über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Anteile zum Handel an einem multilateralen Handelssystem beantragen
  • Richtlinie (EU) 2024/2811 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2024 zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU zur Steigerung der Attraktivität der öffentlichen Kapitalmärkte in der Union für Unternehmen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs für kleine und mittlere Unternehmen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/34/EG

Materialien zum ZuFinG II:

Materialien zum ZuFinG I:

Seminare, Webinare und Fortbildungen:

Zukunftsfinanzierungsgesetz: die zweite Runde

Ungefähr neun Monate nach dem Inkrafttreten des Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG I) hat das Bundesministerium der Finanzen (BMF) den Referentenentwurf eines Zweiten Zukunftsfinanzierungsgesetzes (ZuFinG II) veröffentlicht. Das Gesetzespaket setzt die am 17.7.2024 vom Bundeskabinett beschlossene Wachstumsinitiative um und verfolgt auch dieses Mal das Ziel, private Investitionen anzukurbeln sowie den Finanzstandort Deutschland zu stärken. Im Folgenden soll eine erste Einordnung des Entwurfs erfolgen, deren Fokus sich auf das Delisting, die Penny Stocks, die Mehrstimmrechtsaktie und die emittentenfinanzierten Analysen richtet.

Kleine Reform des Delistings

Der Paukenschlag für die Unternehmensrechtler kommt gleich im Art. 1 ZuFinG II-RefE, in dem Änderungen des Spruchverfahrensgesetzes (SpruchG) vorgesehen sind. Nach § 1 Nr. 8 SpruchG-E sollen Streitigkeiten über die „Höhe der Gegenleistung beim Widerruf der Zulassung von Wertpapieren zum Handel auf Antrag des Emittenten“ – also beim Delisting – im Spruchverfahren ausgetragen werden (S. 7 des Entwurfs). Diese partielle Rückkehr zu den Macrotron-Grundsätzen (zur Statthaftigkeit des Spruchverfahrens in Delisting-Altfällen s. BGH v. 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, 57 f. = AG 2003, 273) wird flankiert durch Änderungen der §§ 3, 4, 5, 14 SpruchG und des § 39 BörsG (vgl. S. 120 f., 147 ff. des Entwurfs; zur Delisting-Reform etwa Mohamed, ZIP 2023, 1975; Redenius-Hövermann, ZIP 2021, 485, 488 ff.).

Mit einem kleinen Eingriff in § 39 Abs. 2 Satz 1 BörsG – die Börsengeschäftsführung hat (und nicht kann) die Zulassung der Wertpapiere zum Handel im regulierten Markt auf Antrag des Emittenten zu widerrufen (vgl. S. 49 des Entwurfs) – will der Gesetzgeber deutlich machen, dass die Börsengeschäftsführung eine gebundene Delisting-Entscheidung trifft (vgl. S. 147 des Entwurfs; für eine solche dogmatische Einordnung bereits Habersack in Habersack/​Mülbert/​Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl. 2019, Rz. 40.31; Harnos, ZHR 179 [2015], 750, 775 f.; für eine Ermessensentscheidung Eckhold in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 63.12, 63.56). Aus der Emittentenperspektive gesprochen: Der Emittent hat einen Anspruch auf den Widerruf der Börsenzulassung, wenn die Voraussetzungen des § 39 Abs. 2-3 BörsG vorliegen (Groß, AG 2015, 812, 815). Gestrichen werden soll die Vorgabe des § 39 Abs. 2 Satz 2 BörsG, wonach der Widerruf der Börsenzulassung nicht dem Schutz der Anleger widersprechen darf. Der Wegfall dieser Generalklausel führt nicht zur Absenkung des Anlegerschutzniveaus, weil sich die Delisting-Voraussetzungen ohnehin aus den detaillierten Regelungen des § 39 Abs. 2-6 BörsG ergeben.

In konzeptioneller Hinsicht hält der Gesetzgeber daran fest, dass ein Delisting ein Erwerbsangebot nach WpÜG-Vorschriften voraussetzt (§ 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BörsG-E) und dass ein partielles Delisting ohne ein solches Angebot möglich ist (§ 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BörsG-E). Es kommen aber zwei weitere Ausnahmen vom angebotspflichtigen Delisting hinzu (zum teleologischen Hintergrund vgl. S. 147 des Entwurfs): Wenn die Wertpapiere weiterhin zum Handel an einem KMU-Wachstumsmarkt einbezogen sind (§ 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BörsG-E) und wenn über das Vermögen des Emittenten ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde (§ 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 BörsG-E; s. hierzu einerseits Häller, ZIP 2016, 1903; Korch, BKR 2020, 285, andererseits Heidel, BKR 2021, 530; vgl. ferner Schulz, ZIP 2024, 1110). Die KMU-Wachstumsmarkt-Ausnahme wird flankiert durch § 76 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 WpHG-E, § 48a Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 BörsG-E, die die Betreiber von KMU-Wachstumsmärkten für den Fall, dass der Emittent die Einbeziehung von Wertpapieren zum Handel an dem KMU-Wachstumsmarkt kündigt, dazu verpflichten, § 39 Abs. 2-6 BörsG entsprechende Vorschriften vorzusehen. Damit soll das Anlegerschutzniveau des § 39 BörsG auch auf „privaten“ Märkten gewährleistet werden.

Mit § 39 Abs. 3 Satz 2 BörsG-E will der Gesetzgeber die Geltung des § 11 WpÜG dahingehend einschränken, dass eine Delisting-Angebotsunterlage nicht alle Angaben enthalten muss, die in sonstigen Übernahmesituationen erforderlich sind (vgl. S. 147 des Entwurfs). Mit § 39 Abs. 3 Satz 3 BörsG-E bestimmt sich die Angebotshöhe im Ausgangspunkt weiterhin nach dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs der Wertpapiere während der letzten sechs Monate vor der Delisting-Ankündigung. Allerdings macht der Gesetzgeber in § 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG-E deutlich, dass eine Ausnahme vom Börsenkurs-Grundsatz – und damit eine Bemessung der Angebotshöhe nach dem inneren Unternehmenswert – nicht nur in drei enumerativ aufgezählten Fällen in Betracht kommt, sondern schon dann veranlasst ist, wenn „besondere Umstände den Börsenkurs dieses Zeitraums derart beeinflusst, dass dieser zur Bestimmung einer angemessenen Gegenleistung ungeeignet ist.“ (vgl. S. 147 f. des Entwurfs; dafür de lege ferenda bereits Koch/Harnos, NZG 2015, 729, 732 f.; für eine solche Deutung des § 39 Abs. 3 Satz 2 BörsG de lege lata Eckhold in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 63.41; Koch, AG 2021, 249 Rz. 9 ff.; dagegen Habersack in Habersack/​Mülbert/​Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl. 2019, Rz. 40.24; Harnos, ZHR 179 [2015], 750, 771 f.). Die besonderen Umstände sind als Regelbeispiele in § 39 Abs. 3 Satz 5 BörsG-E aufgezählt:

  • Verletzung der Ad-hoc-Mitteilungspflicht nach Art. 17 MAR (Nr. 1);
  • Marktmanipulation seitens des Emittenten oder des Bieters (Nr. 2);

Zudem gilt § 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG-E bei Marktenge i.S.d. § 39 Abs. 3 Satz 6 BörsG-E entsprechend, d.h. bei Marktenge ist – wie bereits nach geltender Rechtslage (s. § 39 Abs. 3 Satz 4 BörsG und Harnos, ZHR 179 [2015], 750, 770 f.) – eine Unternehmensbewertung durchzuführen. § 39 Abs. 3 Satz 7 BörsG-E eröffnet den Weg in das Spruchverfahren, korrespondiert also mit § 1 Nr. 8 SpruchG-E. § 39 Abs. 3 Satz 8 BörsG-E stellt sicher, dass Anleger, die das Abfindungsangebot wegen einer zu niedrigen Gegenleistung nicht annehmen, nicht von einer späteren gerichtlichen Erhöhung profitieren (vgl. S. 148 des Entwurfs). Schließlich folgt aus einer unscheinbaren Änderung des § 39 Abs. 5 Satz 3 BörsG-E, dass die Börsenordnungen nähere Bestimmungen über das Widerrufsverfahren (und nicht den Widerruf als solchen) treffen (vgl. S. 148 des Entwurfs).

Zu Recht hält das BMF davon Abstand, die Delisting-Entscheidung in die Hände der Aktionäre zu legen; sie bleibt nach wie vor eine Ermessensentscheidung des Vorstands (dazu Wieneke/Schulz, AG 2016, 809, 814 ff.). Allerdings hätte der Gesetzgeber in den Materialien andeuten können, ob Aktionäre trotz § 23 Abs. 5 AktG eine Hauptversammlungszuständigkeit für das Delisting qua Satzung begründen können (dafür Eckhold in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 63.61; Kubis in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 119 AktG Rz. 96; Mülbert in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 151; sympathisierend Harnos, ZHR 182 [2018], 363, 370; dagegen die h.M., s. nur Bayer, NZG 2015, 1169, 1178; Groß, AG 2015, 812, 814; Koch, 18. Aufl. 2024, § 119 AktG Rz. 45; von der Linden, NZG 2015, 176; Scholz, BB 2015, 2248, 2249 ff.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 119 AktG Rz. 52).

Außerdem sollte der Gesetzgeber § 1 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG, wonach die Streitigkeiten über die Angebotshöhe in Delisting-Fällen KapMuG-fähig sind, im Lichte der § 39 Abs. 3 Satz 7 BörsG-E, § 1 Nr. 8 SpruchG-E anpassen. Anderenfalls entsteht der Eindruck, dass die Aktionäre unabhängig von den Fristen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SpruchG-E, § 39 Abs. 3 Satz 8 BörsG-E eine Klage auf Erhöhung der Gegenleistung vor dem Landgericht erheben und ein KapMuG-Verfahren anstrengen können. Eine solche Klage ist derzeit im Rahmen der üblichen Verjährungsfristen möglich (s. Harnos, ZHR 179 [2015], 750, 779 f.).

Schließlich sollte der Gesetzgeber überlegen, ob er den (im Zuge des ZuFinG I geschaffenen) § 255 Abs. 5 Satz 3 AktG anpasst (Einzelheiten zu dieser Vorschrift bei Bayer in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 255 AktG Rz. 47 ff.). Das Regelungsvorbild für § 255 Abs. 5 Satz 3 AktG war die bisherige Delisting-Regelung in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG (s. nur Harnos, AG 2024, 348 Rz. 28). Wenn die Vorschriften über die Angebotshöhe in § 39 Abs. 3 BörsG-E geändert werden sollen, sollte dies konsequent auch im Rahmen des aktienrechtlichen Wertverwässerungsschutzes beim Bezugsrechtsausschluss berücksichtigt werden. Bei dieser Gelegenheit sollte der Gesetzgeber das Redaktionsversehen in § 255 Abs. 5 Satz 2 AktG beheben: „Absatz 4 Satz 2“ gibt es nicht (s. dazu Bayer in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 255 AktG Rz. 42 Fn. 183). Anspruchsvoller als die Korrektur des Redaktionsversehens, aber im Hinblick auf den Aktionärsschutz dringlicher wäre die Schließung der Rechtsschutzlücke, die in Fällen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses droht (zu Problem und Lösungsvorschlägen s. etwa Bayer in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 255 AktG Rz. 54 ff.; Heidel, AG 2024, 310 Rz. 26 ff.; Koch, 18. Aufl. 2024, § 255 AktG Rz. 9 ff.).

Ceterum censeo: Die Vorgaben zur (marktorientierten) Unternehmensbewertung sollten anlassübergreifend – also auch im Vertragskonzern, beim Squeeze-out und bei Umwandlungen – in ein stimmiges gesetzliches Gesamtsystem überführt werden (s. bereits Harnos, AG 2024, 348 Rz. 32).

Weitere Änderungen des Börsenrechts

Im Börsenrecht will das BMF zum einen das BörsG, zum anderen die Börsenzulassungs-Verordnung (BörsZulV) ändern. Die Vorschläge zum BörsG haben zum Gegenstand:

  • Die Prüfungsbefugnisse der Börsenaufsichtsbehörde nach § 3 Abs. 4 BörsG-E (vgl. S. 44 f., 143 f. des Entwurfs).
  • Die Pflichten des Börsenträgers, etwa im Zusammenhang mit der Auslagerung von Bereichen, die für die Durchführung des Börsenbetriebs wesentlich sind (s. § 5 Abs. 3 Satz 3 BörsG-E), oder hinsichtlich der Organisationsanforderungen (s. § 5 Abs. 4b BörsG-E und S. 45, 144 des Entwurfs). In diesem Kontext ist auch die Einführung einer neuen Nr. 14 im Katalog der Pflichten der MTF- und OTF-Betreiber in § 72 Abs. 1 Satz 1 WpHG zu beachten (vgl. S. 14, 127 des Entwurfs).
  • Die Pflichten des Börsenträgers gegenüber der Börsenaufsichtsbehörde hinsichtlich der Beteiligungspublizität nach § 6 Abs. 6 BörsG, der wegen MiFID II-Änderungen umformuliert werden soll (vgl. S. 53, 149 des Entwurfs).
  • Die Synchronisierung von im Geschäftsverkehr verwendeten Uhren: § 22a BörsG wird aufgehoben, weil sich die Vorgaben aus Art. 22c MiFIR ergeben (vgl. S. 46, 145 des Entwurfs).
  • Die Vorschrift über den Börsenpreis (§ 24 BörsG), die redaktionell an MiFID II-Änderungen angepasst wird (vgl. S. 46, 145 des Entwurfs).
  • Die Informationspflichten der Börsengeschäftsführung gegenüber der Börsenaufsichtsbehörde und der Bundesanstalt nach § 25 Abs. 1b BörsG, der an die geänderten MiFID II-Vorgaben angepasst werden soll (vgl. S. 54, 145 des Entwurfs).
  • Die Mindestpreisänderungsgröße nach § 26b BörsG, der an die geänderten MiFID II-Vorgaben angepasst werden soll (vgl. S. 46, 145 des Entwurfs).
  • Die Positionsmanagementkontrollen nach § 26f BörsG, der an die geänderten MiFID II-Vorgaben angepasst werden soll (vgl. S. 46, 146 des Entwurfs); in diesem Zusammenhang sind auch die Änderungen der § 54 Abs. 6, § 57 WpHG zu beachten (vgl. S. 13 f., 126 f. des Entwurfs).
  • Die Übermittlung von Daten nach § 26g BörsG, der sprachlich an Art. 25 Abs. 2 MiFIR angeglichen werden soll (vgl. S. 46, 146 des Entwurfs).
  • Die Einführung von Wertpapieren (Börsennotierung): Die Neufassung des § 38 Abs. 1 BörsG („Der Emittent teilt den beabsichtigten Zeitpunkt und die Merkmale für die Aufnahme der Notierung von zum regulierten Markt zugelassener Wertpapiere (Einführung) der Geschäftsführung mit. Das Nähere regelt die Börsenordnung.“) soll zur Folge haben, dass die Börsengeschäftsführung nicht mehr durch Verwaltungsakt über die Aufnahme der Notierung zugelassener Wertpapiere im regulierten Markt entscheidet (vgl. S. 48 f., 147 des Entwurfs); damit geht wohltuende Entbürokratisierung einher.
  • Die Pflichten der Betreiber von KMU-Wachstumsmärkten, die ein Segment eines Freiverkehrs (s. § 48a Abs. 1a BörsG-E und S. 51, 148 f. des Entwurfs) bzw. eines multilateralen Handelssystems (MTF) sind (§ 76 Abs. 1a WpHG-E und S. 21, 132 des Entwurfs).
  • Die Bußgeldvorschriften in § 50 BörsG (vgl. S. 46 ff., 146 des Entwurfs).

Die Vorschläge hinsichtlich der BörsZulV gehen auf die Änderungen der unionsrechtlichen Grundlagen, insb. des Art. 51a MiFID II, zurück. Sie betreffen:

  • Die Aufhebung des § 2 Abs. 4 BörsZulV, wonach die Börsengeschäftsführung geringere Beträge als in 2 Abs. 1-3 BörsZulV vorgeschrieben zulassen kann, wenn sie überzeugt ist, dass sich für die zuzulassenden Wertpapiere ein ausreichender Markt bilden wird (vgl. S. 11, 123 des Entwurfs).
  • Die Aufhebung des § 3 BörsZulV, der bislang die Dauer des Bestehens des Emittenten geregelt hat (vgl. S. 11, 123 des Entwurfs).
  • Die Vorgaben zur Streuung von Aktien in § 9 BörsZulV (vgl. S. 11 f., 124 des Entwurfs).
  • Die Veröffentlichung der Börsenzulassung, die nach § 51 BörsZulV-E nicht mehr im Bundesanzeiger, sondern von der Börsengeschäftsführung unverzüglich auf der Internetseite der Börse oder des Börsenträgers veröffentlicht werden soll (vgl. S. 12, 124 des Entwurfs).

Wenn schon das Börsenrecht angefasst wird, wäre die Beseitigung von Unklarheiten in §§ 44 ff. BörsG wünschenswert, die die Börsenmantelaktiengesellschaft (BMAG) betreffen (s. dazu Harnos, Blog-Beitrag v. 3.10.2023 [GESRBLOG0001593] und Harnos, AG 2024, S53).

Zulässigkeit von Penny Stocks

Im Aktienrecht will der Gesetzgeber – den Rufen aus dem Schrifttum folgend (s. DAV-HRA, NZG 2023, 738 Rz. 81 ff.; Lieder/Singhof in VGR, Reformbedarf im Aktienrecht, 2024, Rz. 14.25 f.; kritisch aber Beneke/Heidel/Lochner, AG 2024, 528 Rz. 42) – mit der Einführung des § 8 Abs. 7 AktG-E die sog. „Penny Stocks“ ermöglichen (vgl. S. 55, 151 des Entwurfs): Nach § 8 Abs. 7 Satz 1 AktG-E kann die Satzung vorsehen, dass Nennbetragsaktien einen geringeren Nennwert haben dürfen. In diesem Fall müssen sie gem. § 8 Abs. 7 Satz 2 AktG-E auf mindestens einen Eurocent lauten. Für Stückaktien kann die Satzung gem. § 8 Abs. 7 Satz 3 AktG-E vorsehen, dass der auf die einzelne Aktie entfallende anteilige Betrag des Grundkapitals einen Eurocent betragen darf. Im Übrigen findet § 8 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG gem. § 8 Abs. 7 Satz 4 AktG-E entsprechende Anwendung. Das bedeutet, dass Aktien über einen geringeren Nennbetrag als ein Eurocent nichtig sind und dass für den Schaden aus der Ausgabe die Ausgeber den Inhabern als Gesamtschuldner verantwortlich sind.

Der Vorschlag des BMF, der die Unternehmensfinanzierung erleichtern dürfte, ist generell zu begrüßen. Es leuchtet aber nicht ein, warum die Zulässigkeit von „Penny Stocks“ in der Satzung vorgesehen sein muss. Die Materialien führen insoweit aus, dass durch eine ausdrückliche Satzungsregelung, die zur Ausgabe entsprechender Aktien mit geringeren Nennbeträgen ermächtigt, der potenziellen Gefahr der Irreführung der Anleger vorgebeugt werden soll (vgl. S. 151 des Entwurfs). Wieso ausgerechnet eine Satzungsklausel die Irreführungsgefahr verringern soll, ist indes nicht ganz verständlich, wenn man bedenkt, dass die Standardisierung der Satzung, die in § 23 Abs. 5 AktG vorgeschrieben ist, die Verkehrsfähigkeit der Aktie sicherstellen und die Transaktionskosten senken soll (s. nur Seibt in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 23 AktG Rz. 53). Vor dem Hintergrund des § 23 Abs. 5 AktG erscheint es zweifelhaft, ob Anleger – die durch den Zwang zur Satzungsregelung geschützt werden sollen – die Satzungen nach einer Klausel zur Zulässigkeit von „Penny Stocks“ durchsuchen werden. Es drängt sich nicht auf, wieso sie es tun sollten, wenn sie generell davon ausgehen dürfen, dass die Satzung ein Standarddokument ist. Mit § 8 Abs. 7 AktG-E setzt das BMF für die Aktionäre einen Anreiz, die Satzungen zu studieren und damit die Transaktionskosten zu erhöhen. Dies läuft dem Zweck des § 23 Abs. 5 AktG zuwider.

Insoweit erscheint es überzeugender, § 8 Abs. 7 AktG-E zu streichen und im Anschluss an die Vorschläge aus dem Schrifttum § 8 Abs. 2 Satz 1 und 4, Abs. 3 Satz 3 AktG dergestalt zu ändern, dass Nennbetragsaktien mindestens auf einen Eurocent und höhere Aktiennennbeträge auf volle Eurocent lauten müssen bzw. dass der anteilige Betrag des Grundkapitals einen Eurocent nicht überschreiten darf (dafür DAV-HRA, NZG 2023, 738 Rz. 81; Lieder/Singhof in VGR, Reformbedarf im Aktienrecht, 2024, Rz. 14.25).

Kapitalmarktrechtliche Regelungen zur Mehrstimmrechtsaktie

Einige Regelungsvorschläge haben die Mehrstimmrechtsaktie zum Gegenstand, wobei das BMF den § 135a AktG nicht ändern will. Vielmehr fokussiert sich das Ministerium auf kapitalmarktrechtliche Vorschriften, die u.a. der Umsetzung der Mehrstimmrechtsaktien-RL dienen:

  • Mit § 76a WpHG-E, § 48b BörsG-E will der Gesetzgeber die Transparenz hinsichtlich der Mehrstimmrechtsaktienstrukturen bei Gesellschaften erhöhen, deren Aktien in multilateralen Handelssystemen (MTF) und KMU-Wachstumsmärkten gehandelt werden (vgl. S. 22 f., 132 und S. 51 f. des Entwurfs).
  • In § 74 Abs. 6 WpHG-E soll geregelt werden, dass Betreiber eines multilateralen Handelssystems die Zulassung der Aktien eines Emittenten zum Handel nicht mit der Begründung verhindern dürfen, dass die AG eine Struktur mit Mehrstimmrechtsaktien nach § 135a AktG eingeführt hat (vgl. S. 20, 131 des Entwurfs). Eine Parallelregelung soll für Börsenträger, die einen Freiverkehr betreiben, in § 48 Abs. 6 BörsG-E eingeführt werden (vgl. S. 50, 148 des Entwurfs). Diese Vorschläge überzeugen, weil sie die partielle Satzungsautonomie, die § 135a AktG schafft, vor mittelbaren börsenrechtlichen Einschränkungen schützen. Die Materialien sprechen treffend von einem Diskriminierungsverbot (vgl. S. 131 und 148 des Entwurfs).
  • Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 EGAktG-E soll § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG – der die Beschränkung des maximalen Stimmgewichts einer Mehrstimmrechtsaktie auf das Zehnfache des Stimmrechts einer Stammaktie regelt (s. nur Harnos in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 135a AktG Rz. 12 ff.) – auch dann gelten, wenn die Aktien einer Altgesellschaft i.S.d. § 5 Abs. 2 EGAktG nach dem Inkrafttreten des ZuFinG II in den Handel an einem multilateralen Handelssystem nach § 2 Abs. 6 BörsG einbezogen werden, das kein Freiverkehr ist, und die Altgesellschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht börsennotiert ist und noch keine Aktien in den Handel an einem multilateralen Handelssystem einbezogen hatte (vgl. S. 56 des Entwurfs). Damit will der Gesetzgeber Art. 4 Abs. 1 lit. b) Ziff. i) Mehrstimmrechtsaktien-RL umsetzen, der auch für Gesellschaften gilt, deren Aktien in sonstigen MTF als dem Freiverkehr handelbar sind (vgl. S. 153 des Entwurfs).

Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens sollten das Kabinett und das Parlament prüfen, ob kleinere Ausbesserungen des § 135a AktG vorgenommen werden sollten:

  • Die Verfallsklauseln des § 135a Abs. 2 AktG gelten auch dann, wenn die Aktien des Emittenten ohne einen Antrag in den Freiverkehr einbezogen wurden. Dies ist nicht sachgerecht. Vorzugswürdig wäre es, wenn § 135a Abs. 2 AktG nur auf Gesellschaften anwendbar wäre, deren Aktien mit Zustimmung des Emittenten in den Handel im Freiverkehr einbezogen wurden (so der begrüßenswerte Vorschlag von Ceesay, AG 2024, S2 Rz. 42 ff.; s. ferner zum Problem und zu Lösungsvorschlägen Harnos in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 135a AktG Rz. 34 f.).
  • Die übertragungsbezogene Verfallsklausel des § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG ist einerseits zu weit, weil sie auch Umstrukturierungsfälle erfasst, in denen der Inhaber der Mehrstimmrechtsaktie sich formell geändert hat, in wirtschaftlicher Hinsicht aber gleich geblieben ist (hierzu etwa Denninger/von Bülow, AG 2023, 417 Rz. 33; Gebhard/Herzog, ZIP 2023, 1161, 1166; Harnos in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 135a AktG Rz. 37). Andererseits ist sie zu eng, weil sie dem Wortlaut nach nicht eingreift, wenn eine rechtsfähige Personenvereinigung die Mehrstimmrechtsaktien hält und die Mitglieder jener Personenvereinigung wechseln (vgl. dazu Harnos in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 135a AktG Rz. 40 ff. m.w.N. zu Lösungsvorschlägen). Diese Konstellationen könnte der Gesetzgeber im Wortlaut des § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG abbilden.
  • Die Position der Mehrstimmrechtsaktionäre kann infolge von Kapitalmaßnahmen verwässern. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf § 135a Abs. 1 Satz 3 AktG, der auch die (nachträgliche) Emission von Mehrstimmrechtsaktien im Rahmen einer Kapitalerhöhung von der Zustimmung sämtlicher betroffenen Gesellschafter abhängig macht (zum Problem Ceesay, AG 2024, S2 Rz. 57 f.; Florstedt, ZGR 2024, 321, 343 f.; Harnos in K. Schmidt/Lutter, 5. Aufl. 2024, § 135a AktG Rz. 70 ff.). Der Gesetzgeber könnte sich auch  dieses Problems (ergebnisoffen) annehmen.

Emittentenfinanzierte Analysen

Mit § 63a WpHG-E will der Gesetzgeber in Umsetzung des Art. 24 Abs. 3a-3d MiFID II, der ein Bestandteil des Listing Acts ist, die Vorschriften über die Analysen (Research), die bislang in § 70 Abs. 2 Satz 2-5, Abs. 3, Abs. 6a WpHG verortet waren, um weitere Vorgaben ergänzen (vgl. S. 19, 131 des Entwurfs). So wird in § 63a Abs. 1 Satz 1 WpHG-E angeordnet, dass Analysen redlich eindeutig sein müssen und nicht irreführend sein dürfen. Außerdem müssen Analysen nach § 63a Abs. 1 Satz 2 WpHG-E eindeutig als solche erkennbar sein, es sei denn, sie sind aufgrund von WpHG oder VO (EU) 2017/565 als Marketingmitteilungen zu kennzeichnen.

§ 63a Abs. 2 und 3 WpHG-E enthält Vorschriften über Analysen, die ganz oder teilweise durch Emittenten finanziert wurden (emittentenfinanzierte Analysen). In § 63a Abs. 2 WpHG-E geht es im Wesentlichen um die Kennzeichnungspflichten und die Einhaltung eines EU-Verhaltenskodex für emittentenfinanzierte Analysen, der nach Art. 24 Abs. 3d MiFID II erlassen werden kann. § 63a Abs. 3 WpHG-E statuiert Organisationspflichten, deren Erfüllung gewährleisten soll, dass die emittentenfinanzierten Analysen den Vorgaben des § 63a Abs. 1 und 2 WpHG-E entsprechen und unter Einhaltung des EU-Verhaltenskodex für emittentenfinanzierte Analysen erstellt wurden.

Zudem will das BMF § 70 Abs. 6a WpHG, der bislang die Analysen über Unternehmen mit geringer oder mittlerer Kapitalausstattung regelt (dazu Beule in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 70 WpHG Rz. 26a), neu fassen (vgl. S. 20 des Entwurfs). Die Änderungen führen dazu, dass § 70 Abs. 6a WpHG den Charakter einer Sondervorschrift für Unternehmen mit geringer oder mittlerer Kapitalausstattung verliert: Nach § 70 Abs. 6a Satz 1 Nr. 3 WpHG-E soll es nicht mehr darauf ankommen, ob die Analysen „Emittenten betreffen, die in den 36 Monaten vor der Bereitstellung der Analysen eine Marktkapitalisierung von 1 Milliarde Euro nicht überschritten haben“. Neu eingefügt wird zudem § 70 Abs. 6b WpHG-E, in dem geregelt werden soll, wann die Bereitstellung von Analysen keine Zuwendung darstellt (zum unionsrechtlichen Hintergrund der Änderungen vgl. S. 131 des Entwurfs).

Schließlich soll die BaFin nach § 6 Abs. 2h WpHG-E die Befugnis haben, die Öffentlichkeit zu warnen oder die Verbreitung von emittentenfinanzierten Analysen durch Wertpapierdienstleistungsunternehmen auszusetzen, wenn emittentengesponserte Analysen nicht im Einklang mit dem nach Art. 24 Abs. 3d MiFID erlassenen EU-Verhaltenskodex für emittentengesponserte Analysen erstellt wurden (vgl. S. 18, 130 des Entwurfs).

Weitere Änderungen des Wertpapierhandelsrechts

Weitere Regelungsvorschläge, die das Wertpapierhandelsrecht zum Gegenstand haben, betreffen:

  • Die Anpassung der Kataloge der §§ 2, 3 WpHG an die Änderungen der MiFID II und MiFIR (vgl. S. 12 ff., 125 des Entwurfs).
  • Die Befugnisse der BaFin nach § 6 WpHG (vgl. S. 13, 18 f., 125 f., 130 des Entwurfs).
  • Die Anpassung der §§ 40, 41, 46, 49-51, 114-116 WpHG an die geänderte Transparenz-RL (vgl. S. 24 f., 133 f. des Entwurfs); diese Änderungen stehen im Zusammenhang mit dem European Single Access Point (s. dazu noch unter Varia).
  • Die Selbstauskunft bei der Vermittlung des Vertragsschlusses über Wertpapiere i.S.d. § 6 WpPG: § 65a WpHG und § 6 WpPG sollen aufgehoben werden (S. 19, 43, 131, 142 des Entwurfs; aufschlussreich und mit Anpassungsvorschlägen zu § 6 WpPG, § 65a WpHG Schmoll, WM 2024, 631).
  • Die Aufhebung einer Reihe von Vorschriften über den Einsatz von Mitarbeitern der Wertpapierdienstleistungsunternehmen in § 87 WpHG (vgl. dazu S. 15, 128 des Entwurfs). Außerdem sollen Vorschriften, die bislang in §§ 1 bis 6 WpHG-Mitarbeiteranzeigeverordnung (WpHGMaAnzV) verortet waren und die die Sachkunde der Mitarbeiter der Wertpapierdienstleistungsunternehmen betreffen, in §§ 14-21 WpDVerOV-E überführt werden, die (vgl. S. 29 ff., 136 f. des Entwurfs)
  • Die Erleichterung des Zugangs zu Drittstaatenhandelsplätzen: Die §§ 102-105 WpHG sollen ersatzlos gestrichen werden (zum teleologischen Hintergrund vgl. S. 129 des Entwurfs).
  • Die Bußgeldtatbestände des § 120 WpHG sollen an die materiell-rechtlichen WpHG-Änderungen angepasst werden (vgl. S. 16 ff., 23 f. des Entwurfs). Bei dieser Gelegenheit könnte der Gesetzgeber die Unklarheiten beseitigen, die mit § 120 Abs. 2 Nr. 14 WpHG einhergehen (Sanktionierung der Verstöße gegen § 86 Abs. 1 WpHG; zum Problem Harnos in BeckOK/WpHR, Ed. 12 Stand: 1.4.2024, § 86 WpHG Rz. 23.1).

Investitionsfreundliches Einkommensteuerrecht

In den Ministerialentwürfen zum ZuFinG I war eine Erhöhung des Freibetrags in § 3 Nr. 39 EStG von 1.440 € auf 5.000 € vorgesehen (vgl. RefE ZuFinG I, S. 27, 109, RegE ZuFinG I, BT-Drucks. 20/8292, 33, 129). Der Bundestag hat auf Beschlussempfehlung des Finanzausschusses hin die Freibetragsgrenze auf 2.000 € im Hinblick auf die haushalterischen Auswirkungen herabgesetzt (vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG I, BT-Drucks. 20/9363, 56; krit. dazu Harnos, AG 2023, 873 Rz. 24).

Nunmehr schlägt das BMF abermals eine Erhöhung des Freibetrags in § 3 Nr. 39 EStG auf 5.000 € vor, die durch Änderungen der §§ 17, 20, 43a EStG flankiert werden soll (vgl. S. 62, 174 ff. des Entwurfs). Es bleibt zu hoffen, dass der Vorstoß diesmal das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren überlebt. Zudem wäre es zweckmäßig, wenn die Konzernklausel, die noch in § 19a Abs. 1 Satz 3 AktG-RegE ZuFinG I vorgesehen war (vgl. RefE ZuFinG I, S. 28, 110, RegE ZuFinG I, BT-Drucks. 20/8292, 34, 130), wieder Eingang in das Gesetzgebungsverfahren fände (zur Streichung s. BeschlussE FinanzA ZuFinG I, BT-Drucks. 20/9363, 57; krit. dazu Harnos, AG 2023, 873 Rz. 24).

Energiewende im Investmentrecht

Außerdem sieht der Entwurf einige Änderungen des Investmentsteuergesetzes (InvStG) vor, die namentlich das Ziel verfolgen, die Fondsverwalter durch steuerliche Erleichterungen für die Energiewende zu begeistern (vgl. S. 57 ff., 156 ff. des Entwurfs). Die Vorschläge entsprechen im Wesentlichen dem Diskussionsentwurf, den das BMF im Mai 2024 präsentiert hat (hierzu Dahmen/Schneider-Deters, AG 2024, R188, R189 f.).

Auch die Anpassungen des KAGB betreffen die Energiewende (zur Streichung des grünen Investmentrechts im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zum ZuFinG I s. Harnos, AG 2023, 873 Rz. 26 f.). So soll § 1 Abs. 19 KAGB im Gleichlauf mit dem InvStG um eine neue Definition in Nr. 6a erweitert werden. Nach § 1 Abs. 19 Nr. 6a KAGB-E soll die Bewirtschaftung von erneuerbaren Energien i.S.d. KAGB erfassen: die Erzeugung, die Umwandlung, den Transport oder die Speicherung von Energie oder Energieträgern aus erneuerbaren Energien nach § 3 Nr. 21 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und nach § 3 Abs. 1 Nr. 15 des Wärmeplanungsgesetzes (WPG) sowie den Transport oder die Speicherung von Abwärme nach § 3 Nr. 21 des Energieeffizienzgesetzes (EnEfG). Darauf aufbauend sollen die materiell-rechtlichen Vorschriften in §§ 231, 261 KAGB im Sinne der Energiewende angepasst werden (vgl. S. 81 ff., 195 ff. des Entwurfs; hierzu auch bereits Dahmen/Schneider-Deters, AG 2024, R188 f.).

Varia

Ansonsten betreffen die Vorschläge:

  • Das zentrale europäische Zugangsportal (European Single Access Point – ESAP), das mit der ESAP-VO (EU) 2023/2859 eingerichtet wird und dessen registerrechtliche Grundlage in Deutschland in § 9d HGB-E verankert werden soll (vgl. S. 8 f., 121 f. des Entwurfs). Weitere Regelungen sollen die ESAP-VO (EU) 2023/2859 und den § 9d HGB-E ergänzen (s. etwa §§ 325, 328b HGB, §§ 24b, 76 Abs. 1a, § 124 Abs. 5, § 125 Abs. 5 WpHG-E, §§ 9a, 14, 27 WpÜG-E, § 23 WpPG-E, §§ 10a, 48a Abs. 1b, § 50a BörsG-E, §§ 120a, 130, 134b-134d AktG-E, §§ 11a, 35, 38, 42, 51, 66a, 77, 140, 174 SAG-E, §§ 37, 69 WPO-E, § 34d Abs. 11 GewO-E, § 7c KWG-E, § 8a WpIG-E, § 3b PfandBG-E, § 330a VAG-E).
  • Das Wertpapierprospektgesetz (WpPG), das insbesondere an die Regelungen des Listing Acts angepasst werden soll (zum Hintergrund vgl. S. 139 ff. des Entwurfs).
  • Die prospektfreie Schwarmfinanzierung durch Ausgabe von Genossenschaftsanteilen, die Vermögensanlagen i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 1 VermAnlG sind (s. die Ergänzung des § 2a Abs. 1 VermAnlG und S. 54 f., 150 des Entwurfs).
  • Das REIT-Gesetz, das für die Zwecke der Energiewende eingespannt werden soll (vgl. S. 56, 153 ff. des Entwurfs).
  • Die elektronischen Wertpapiere: § 20 eWpG, der diverse Veröffentlichungen im Bundesanzeiger vorsieht (dazu etwa Gleske/​Klingenbrunn in Hopt/​Seibt, Schuldverschreibungsrecht, 2. Aufl. 2023, § 20 eWpG Rz. 1 ff.), soll komplett gestrichen werden (vgl. S. 57, 155 des Entwurfs). Flankiert wird die Streichung durch Art. 55 ZuFinG II-E, der das ZuFinG I hinsichtlich des § 20 eWpG ändern soll (vgl. S. 95, 208 f. des Entwurfs).
  • Die Änderungen des KWG (vgl. S. 66 ff., 179 ff. des Entwurfs) und die damit verbundene Anpassung des Millionenkreditmeldeverfahrens (s. § 15 Abs. 1a Großkredit- und Millionenkredit-VO-E sowie S. 71, 185 des Entwurfs); auch das WpIG soll angepasst werden (vgl. S. 78 ff., 192 ff. des Entwurfs).
  • Das Zahlungsdiensterecht: Einige ZAG-Vorschriften sollen geändert werden (vgl. S. 73 ff., 187 ff. des Entwurfs).

KapMuG-Reform: Problematische Änderungen im Rechtsausschuss

Am 13.6.2024 fand im Deutschen Bundestag die zweite und dritte Beratung zum Entwurf der Bundesregierung für ein Zweites Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) statt (vgl. BT‑Drucks. 20/10942). Wenige Tage zuvor haben die Regierungsfraktionen tiefgreifende und überwiegend ausgesprochen problematische Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Regierungsentwurf vorgeschlagen, die Gegenstand dieser Beratungen waren. Die vorgeschlagenen Änderungen gehen zurück auf die Empfehlungen des Rechtsausschusses (BT‑Drucks. 20/11787). Im Folgenden werden die vom Rechtsausschuss empfohlenen und vom Bundestagsplenum angenommenen wesentlichen Änderungen gegenüber der ursprünglichen Fassung des Gesetzesentwurfs kritisch gewürdigt.

Neufassung von Feststellungszielen im Eröffnungsbeschluss

Das Oberlandesgericht ist nach dem Regierungsentwurf nicht mehr an den Vorlagebeschluss des Landgerichts gebunden, sondern erlässt einen eigenen Eröffnungsbeschluss (§ 9 Abs. 1 KapMuG-E). Diese wesentliche Neuerung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage soll die Verfahrensherrschaft des Oberlandesgerichts stärken (BT‑Drucks. 20/10942, 33). Nicht vollständig geklärt war bislang, welcher Prüfungsmaßstad für den Erlass des Eröffnungsbeschlusses gelten soll und inwieweit das Oberlandesgericht die Feststellungsziele „inhaltlich zuschneiden“ können soll.

Der Rechtsausschuss empfiehlt nun, dass das Oberlandesgericht die Feststellungsziele innerhalb des durch die vorgelegten Musterverfahrensanträge gezogenen Rahmens auch teilweise oder gänzlich „neu fassen“ kann, um die Sachdienlichkeit der Klärung des betreffenden Feststellungsziels im Musterverfahren erst herzustellen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 KapMuG‑E; Empfehlungen des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 20/11787, 46 f.). Gegenüber dem Regierungsentwurf soll damit der Spielraum des Oberlandesgerichts beim Erlass seines Eröffnungsbeschlusses und der Festlegung der Feststellungsziele erweitert werden. In der Regierungsbegründung wurde jedoch zu Recht klargestellt, dass sich das Oberlandesgericht bei der Bestimmung der Feststellungsziele im Einklang mit § 308 Abs. 1 ZPO innerhalb des durch die vorlegten Musterverfahrensanträge bestimmten potenziellen Rahmens des Musterverfahrens halten muss (BT‑Drucks. 20/10942, 34).

Das von der Beschlussempfehlung angestrebte (sehr) weite Ermessen des Oberlandesgerichts bei der Festlegung der Feststellungsziele darf keinesfalls dazu führen, dass das Oberlandesgericht im Eröffnungsbeschluss gleichsam von Amts wegen und damit entgegen § 308 Abs. 1 ZPO den Streitgegenstand des Musterverfahrens selbst bestimmt. Vielmehr muss auch weiterhin die Maxime gelten, dass auf der Grundlage unzulässiger Musterverfahrensanträge kein Musterverfahren durchgeführt werden darf (vgl. zum RegE: Liebscher/Steinbrück/Vollmerhausen, WM 2024, 1058, 1062).

Zu weitgehende Lockerung des Aussetzungsmaßstabs

Dreh- und Angelpunkt einer sachgerechten Verbindung der Ausgangsverfahren vor den Landgerichten mit dem Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht ist das Merkmal der „Abhängigkeit“ der Ausgangsverfahren von der Klärung der Feststellungsziele im Musterverfahren (derzeit § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG).

Die Beschlussempfehlung sieht nun vor, dass alle Ausgangsverfahren ausgesetzt werden sollen, die „voraussichtlich“ von den Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängen (§ 10 KapMuG-E). Das Prozessgericht soll eine „von einem Wahrscheinlichkeitsurteil getragene Prognoseentscheidung“ treffen (Empfehlungen des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 20/11787, 47). Es soll damit ein sog. abstrakter Abhängigkeitsbegriff kodifiziert werden, die eine Abkehr von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bedeuten würde, nach der ein konkreter Maßstab bei der Aussetzungsentscheidung anzulegen ist (vgl. BGH v. 30.4.2019 – XI ZB 13/18, WM 2019, 1553).

Nach der sachgerechten Rechtsprechung des BGH dürfen nur diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen vor der Aussetzung offenbleiben, die den Feststellungszielen des Musterverfahrens nachgelagert sind und die nur auf der Grundlage des Musterentscheids sinnvoll beantwortet werden können. Zu allen anderen Tatsachenfragen ist ggf. Beweis zu erheben, bevor das betreffende Ausgangsverfahren ausgesetzt werden kann. Diese Rechtsprechung beruht auf zentralen verfassungsrechtlich verankerten Rechtsschutzerwägungen: Die Beteiligung an einem Musterverfahren bei gleichzeitiger Aussetzung des eigenen Ausgangsverfahrens vor dem Landgericht ist den Parteien nicht zuzumuten, wenn nicht feststeht, dass es für ihren individuellen Rechtsstreit auf den Ausgang des Musterverfahrens ankommt. Wenn die im Musterverfahren zu klärenden Feststellungsziele für das eigene Ausgangsverfahren unerheblich sind, darf das Ausgangsverfahren nicht ausgesetzt werden, weil den Parteien ansonsten der verfassungsrechtlich gewährte effektive Rechtsschutz verweigert wird.

Schon unter dem geltenden Recht sind die Landgerichte incentiviert, mit leichter Hand selbst unzulässige, unschlüssige und selbst Klagen, in denen es nicht einmal um kapitalmarktrechtliche Haftungsnormen geht, auszusetzen und die Prozessparteien mit ihrem Rechtsstreit gleichsam in einem KapMuG-Verfahren „zu parken“ (vgl. dazu eingehend Liebscher/Steinbrück/Vollmerhausen, WM 2024, 1058, 1065 ff.). Die Einführung eines abstrakten Aussetzungsmaßstabs würde zur Folge haben, dass die Landgerichte noch schneller Verfahren aussetzen könnten, zumal die dann nur noch geforderte „von einem Wahrscheinlichkeitsurteil getragene Prognoseentscheidung“ kaum justiziabel wäre. Die Aussetzungsstreitigkeiten würde sich dann zwangsläufig in das Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht verlagern, was zu erheblichen Verfahrenszögerungen führen würde.

Die angestrebte Lockerung des Gesetzgebers bei der Aussetzung der Ausgangsverfahren wird auch das von ihm angestrebte Ziel, die Anzahl der Beteiligten im Musterverfahren zu verringern (BT‑Drucks. 20/10942, 25, 35), offensichtlich verfehlen. Will der Gesetzgeber die Anzahl der Beteiligten im Musterverfahren verringern, muss er einen konkreten Abhängigkeitsmaßstab wählen, wie ihn die Rechtsprechung bereits vorgegebenen hat, damit nur solche Verfahren ausgesetzt werden, deren Entscheidung in materiell-rechtlicher Hinsicht konkret von den Feststellungszielen abhängt. Bei einem abstrakten Maßstab würden eher mehr als weniger Verfahren ausgesetzt werden (sofern der Kläger einen Antrag auf Aussetzung stellt, dazu sogleich), da die Voraussetzungen niedriger sind.

Will der Gesetzgeber das Musterverfahren „entschlacken“ (zu diesem trügerischen Gesetzgebungsziel s. Liebscher/Steinbrück/Vollmerhausen, WM 2024, 1058, 1064), muss bereits auf der Ebene der Landgerichte – wie in anderen Zivilprozessen auch – frühzeitig die „Spreu vom Weizen getrennt“ werden. Es dürfen nur zulässige und schlüssige Ausgangsverfahren ausgesetzt werden, da nur deren Prozessparteien ein legitimes Interesse am Ausgang des Musterverfahrens haben. Nur dieses Regelungsmodell fördert die Effektivität der Streiterledigung bei kapitalmarktrechtlichen Massenverfahren und wird dem Anspruch der Parteien auf effektiven Rechtsschutz gerecht.

Aussetzungsantrag nur noch vom Kläger

Weiter sieht die Beschlussempfehlung vor, dass nur noch der Kläger einen Aussetzungsantrag stellen kann (§ 10 Abs. 2 KapMuG-E). Der Beklagte soll keine Möglichkeit mehr haben, alle gegen sich gerichteten Verfahren, die von den Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängen, zu bündeln. Seine Verteidigungsmöglichkeiten würden damit erheblich und ohne Sachgrund eingeschränkt. Als Begründung wird angeführt, mit dieser Regelung die „klägerische Dispositionsbefugnis über die Art und Weise der Rechtsverfolgung“ stärken zu wollen. Ein etwaiges Interesse des Beklagten, sich nur in einem einheitlichen Musterverfahren verteidigen zu müssen, trete dahinter zurück (Empfehlungen des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 20/11787, 47).

Die mit dieser Änderung angestrebten vermeintlichen Rechtsschutzverbesserung für die Kläger wird allerdings in der Regel nicht erreicht werden, wenn einzelne Ausgangsverfahren parallel zum Musterverfahren geführt werden. Sofern es in den Parallelprozessen zumindest teilweise um identische Streitfragen geht, besteht – neben der Gefahr von widersprechenden Entscheidungen – das erhebliche Risiko paralleler Beweisaufnahmen in Parallel- und Musterverfahren. Denn der Sachverhalt müsste sowohl im Parallelprozess als auch im Musterverfahren ermittelt werden, so dass bei streitigen entscheidungserheblichen Tatsachen Beweis erhoben werden muss. Der Vorteil des Musterverfahrens liegt schließlich gerade in der einheitlichen Entscheidung über kollektive entscheidungserhebliche Streitfragen. Dieses Kernmerkmal des KapMuG-Modells würde mit der vorgesehenen Änderung weitgehend aufgegeben werden, da nicht einmal der Beklagte Verfahren, die auf demselben Lebenssachverhalt beruhen, in einem Musterverfahren bündeln kann. Es droht eine Zersplitterung der kapitalmarktrechtlichen Massenverfahren. Dies würde das Ziel einer effizienten Verfahrensführung und der Entlastung der Justiz geradezu konterkarieren. Es gilt stattdessen, Waffengleichheit zwischen Kläger und Beklagten herzustellen und beiden Seiten ein Antragsrecht auf Aussetzung des Verfahrens einzuräumen.

Vorlage von Beweismitteln

Gänzlich neu ist § 17 KapMuG-E, der die Vorlage von Beweismitteln regeln und eine Konkretisierung des Regelungsgedankens der §§ 142 ff. ZPO darstellen soll.  Die Regelung ist an § 33g GWB angelehnt (s. dazu Hellmann/Steinbrück, NZKart 2017, 164 ff.).

Bei der prozessualen Dokumentenvorlage nach § 142 ZPO stellen die Gerichte hohe Anforderungen bezüglich der Identifizierung und des behaupteten Inhalts der vorzulegenden Dokumente; eine Ausforschung der Gegenpartei soll vermieden werden (Bünnigmann in Anders/Gehle, 82. Aufl. 2024, § 142 ZPO Rz. 8). Auch nimmt § 142 ZPO dem Kläger nicht seine allgemeine Darlegungs- und Substantiierungslast ab. Diese Grundsätze sollen auch beim neuen § 17 KapMuG-E gelten, wobei die Beweismittel so genau bezeichnet werden müssen, „wie dies auf Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich ist„.

Die Beschlussempfehlung will mit dieser Regelung die bei kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten angeblich bestehenden wechselseitigen Informationsasymmetrien zwischen den Beteiligten abbauen (Empfehlungen des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 20/11787, 48). Dabei soll das Informationsinteresse des Antragstellers mit den Geheimhaltungsinteressen des Anspruchsgegners sorgfältig abgewogen und, sofern möglich, in einen Ausgleich gebracht werden. Dazu sieht § 17 Abs. 3 KapMuG-E eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. In diesem Spannungsfeld obliegt es dem um Auskunft ersuchten Unternehmen bzw. seiner Prozessbevollmächtigten, dessen berechtigten Schutzinteressen durchzusetzen. Vielfach wird auf die zu § 33g GWB entwickelten Grundsätze zurückzugreifen seien, wobei den kapitalmarktrechtlichen Besonderheiten Rechnung zu tragen wäre. Die neuen Regelungen zur Beweismittelbeschaffung werden – sofern sie denn überhaupt Eingang ins Gesetz finden – in künftigen Musterverfahren eine zentrale Rolle spielen und zu erheblichen (Neben-)Streitigkeiten mit entsprechenden Verfahrensverzögerungen führen. Warum ausgerechnet in kapitalmarktrechtlichen Haftungsstreitigkeiten größere Sachaufklärungsmöglichkeiten mit entsprechendem Ausforschungs- und Missbrauchspotential als in anderen Zivilrechtsprozessen bestehen sollen, ist nicht ersichtlich. Gerade das Ziel einer verbesserten Verfahrenseffizienz wird sicherlich nicht dadurch gefördert werden, dass nun auch im Kapitalmarkthaftungsrecht eine am US-Prozessrecht orientierte „Discovery light“ eingeführt wird.

Evaluation in fünf Jahren

Zu begrüßen ist demgegenüber die vorgesehene Evaluation des neuen KapMuG in fünf Jahren. Hier wird sich zeigen, ob die dann getroffenen Änderungen zielführend waren oder – wie hier vorhergesagt – dazu geführt haben, dass sich die Rahmenbedingungen für kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten nicht wesentlich verbessert haben.

Fazit

Der Bundestag hat das Reformgesetz noch vor der Sommerpause in der Sitzung am 13.6.2024 beschlossen, damit das derzeitige KapMuG zum 31.8.2024 nicht ausläuft. Der Bundesratsbeschluss steht noch aus; er kann in der Sitzung am 14.6.2024 oder am 5.7.2024 erfolgen. Die durch den Rechtsausschuss vorgeschlagenen Änderungen kommen sehr spät und sind überwiegend wenig zielführend, sondern vielmehr aus vielerlei Gründen hochproblematisch. Es steht zu befürchten, dass die vom Gesetzgeber angestrebte Verfahrensbeschleunigung mit diesen vorgeschlagenen Änderungen eher konterkariert als bestärkt wird.

SEC mit neuen ESG-Offenlegungspflichten für börsennotierte Unternehmen

In den letzten Monaten berichteten Medien immer wieder von Anti-ESG-Kampagnen und -Bewegungen in den USA, so dass die Wahrnehmung entstand, Nachhaltigkeit sei für den amerikanischen Kapitalmarkt und das Finanzwesen kein Thema mehr. Nun aber – am 6.3.2024 – legte die US-Börsen- und Wertpapieraufsichtsbehörde Vorschriften „zur Verbesserung und Vereinheitlichung“ der klimabezogenen Offenlegung von börsennotierten Unternehmen und bei Wertpapieremissionen vor. Das Paket besteht aus einem Factsheet der SEC über die neuen Anforderungen und einem umfangreichen SEC-Dokument.
Die SEC kommt nach eigenen Aussagen dem grundsätzlichen Investorenwunsch nach, standardisierte und belastbare Informationen über die finanziellen Auswirkungen klimabezogener Risiken auf das Geschäftsmodell oder einzelne Bereiche zu erhalten. Es geht dabei insbesondere um eine bessere (umfassendere) Beurteilung des Risikomanagements eines Unternehmens. Transparenz muss bspw. hergestellt werden hinsichtlich
  • allen klimabezogenen Risiken, die wesentlich sind, d.h. finanzielle Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie oder die Geschäftsergebnisse haben;
  • Aktivitäten, die unternommen werden, um die identifizierten Risiken zu mindern oder Anpassungsmaßnahmen umzusetzen;
  • Überwachung durch die Geschäftsleitung und die Rolle des Managements in Bezug auf die wesentlichen klimabezogenen Risiken;
  • Scope-1-Emissionen und/oder Scope-2-Emissionen bei großen und mittleren Unternehmen;
  • Kosten und Verluste, die durch Unwetter und andere Naturereignisse im jeweiligen Geschäftsjahr entstanden sind.
Die endgültigen Vorschriften treten 60 Tage nach deren Veröffentlichung im Bundesregister (Federal Register) in Kraft und sollen dann schrittweise ab 2025 Anwendung finden.

Fokus-Risiken der BaFin für 2024

Mitte Januar veröffentlichte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ihre Übersicht zu den Risiken, die sie im Jahr 2024 bei der Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Versicherern besonders in den Fokus nehmen wird.

Sie benennt darin sieben Risiken, die am ehesten die Finanzstabilität oder die Integrität der Finanzmärkte in Deutschland gefährden könnten:

  • Risiken aus signifikanten Zinsanstiegen,
  • Risiken aus Korrekturen an den Immobilienmärkten,
  • Risiken aus signifikanten Korrekturen an den internationalen Finanzmärkten,
  • Risiken aus dem Ausfall von Krediten an deutsche Unternehmen,
  • Risiken aus Cyber-Attacken mit gravierenden Auswirkungen,
  • Risiken aus unzureichender Geldwäscheprävention,
  • Risiken aus Konzentrationen bei der Auslagerung von IT-Dienstleistungen.

Ergänzend zu den Risiken legt die BaFin auch ein Augenmerk bei Kreditinstituten und Versicherern auf die angemessene Berücksichtigung und den Umgang mit langfristigen Trends. Digitalisierung, Nachhaltigkeit und geopolitische Umbrüche werden genannt und sind für die Beaufsichtigung des Finanzwesens relevant.

Fokus: Nachhaltigkeit

Wie auch schon im „Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeit“ (2019) sieht die BaFin Klima- und Umweltrisiken nicht als eigenständige (neue) Risikoart, sondern als Teil von Kredit-, Markt-, Liquiditäts-, Haftungs- und Reputationsrisiken sowie von operationellen, versicherungstechnischen und strategischen Risiken. Sie übernahm diesen Ansatz in die neue MaRisk (2023).

Die BaFin verweist in diesem Zusammenhang auf eine Auswertung der Deutschen Bundesbank, in der das Management von Nachhaltigkeitsrisiken bei weniger bedeutenden Instituten (Less Significant Institutions) untersucht wurde. Im Ergebnis lässt sich ein Verbesserungsbedarf hinsichtlich des Risikomanagements von Kreditinstituten und Versicherern ableiten. Dementsprechend erwartet die BaFin, dass die von ihr beaufsichtigten Unternehmen Erkenntnisse aus Stresstests und Szenarioanalysen, die auch Nachhaltigkeitsrisiken integrieren, zunehmend in die Strategie und ins Risikomanagement einfließen lassen.

Darüber hinaus nimmt auch die Prüfung der Offenlegungspflichten nach der Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR – Offenlegungs-VO (EU) 2019/2088) sowie die Nachhaltigkeitsberichterstattung i.S.d. der Taxonomie-VO (EU) 2020/852 und zukünftig der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD – RL (EU) 2022/2464) Raum in der Beaufsichtigung ein.

BaFin: Aktualisierte FAQs zu Stimmrechtsmitteilungen und neues Muster zu § 41 WpHG wegen Mehrstimmrechtsaktien

Aufgrund der Einführung von Mehrstimmrechtsaktien durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz (BGBl. 2023 I Nr. 354) hat die BaFin Ende Dezember 2023 ihre FAQs zu den Publikationspflichten der §§ 33 ff. WpHG und §§ 48 ff. WpHG aktualisiert und ein neues Muster für die Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte nach § 41 WpHG publiziert.

  1. Aktualisierte BaFin-FAQs

Im Rahmen der aktualisierten BaFin-FAQs wird zum einen erläutert, wie Mehrstimmrechte in einer Stimmrechtsmitteilung anzugeben sind. Demnach habe der Halter von Mehrstimmrechten diese unter „7.a. Stimmrechte (§§ 33, 34 WpHG)“ mit ihrer eigenen ISIN in einer separaten Zeile anzugeben. Sofern die Mehrstimmrechtsaktien über keine ISIN verfügen, sei in der ISIN-Spalte „MehrstimmR“ einzutragen. Unter „10. Sonstige Informationen“ könne zusätzlich ein Hinweis darauf erfolgen, dass es sich bei der gemeldeten Position um Mehrstimmrechtsaktien handelt.

Zum anderen wird in den FAQs unter Verweis auf ein (unverbindliches) neues Musterformular für die Veröffentlichung nach § 41 WpHG (siehe hierzu unter 2.) präzisiert, wie Mehrstimmrechte in der Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte anzugeben sind. Hintergrund ist, dass nach der Gesetzesreform gem. § 41 Abs. 1 Satz 1 WpHG n.F. in der Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte auch die auf „diese entfallende Anzahl von Mehrstimmrechten“ anzugeben ist.

Unverändert zu beachten ist, dass seit Juli 2020 Mitteilungen über Änderungen bedeutender Stimmrechtsanteile nur noch in elektronischer Form an die BaFin und die Gesellschaft zu übermitteln sind. Die elektronische Übermittlung einer Mitteilung an die BaFin hat über die dortige Melde- und Veröffentlichungsplattform (MVP) zu erfolgen.

  1. Muster: Gesamtzahl der Stimmrechte nach § 41 WpHG

Im Rahmen des aktualisierten Word-Musters für die Veröffentlichung der Gesamtzahl der Stimmrechte gem. § 41 WpHG stellt die BaFin klar, dass zum einen auch die Ausgabe oder das Erlöschen von Mehrstimmrechtsaktien eine „sonstige (Kapital-)Maßnahme“ i.S.d. § 41 Abs. 1 WpHG darstellt, die zu einer Zu- oder Abnahme von Stimmrechten und damit einer Veröffentlichungspflicht nach § 41 WpHG führt. Überdies nahm die BaFin eine Unterteilung des Felds „3. Neue Gesamtzahl der Stimmrechte“ vor, indem in einer gesonderten Zeile die Rubrik „davon Anzahl Mehrstimmrechte:“ aufgenommen wurde. Von Emittenten, die keine Mehrstimmrechtsaktien (mehr) ausgegeben haben, sei in dieser Zeile eine „0“ einzutragen.

  1. Fazit

Durch die Anpassung ihrer FAQs und des Musters für die Veröffentlichung nach § 41 WpHG hat die BaFin schnell auf die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien reagiert. Hierdurch wurden frühzeitig Darstellungsunsicherheiten für alle Emittenten beseitigt, und zwar unabhängig davon, ob sie Mehrstimmrechtsaktien emittiert haben.

Zukunftsfinanzierungsgesetz: Änderungen im Parlament

Nach dem Eckpunktepapier vom Juni 2022 (s. etwa Kuthe, AG 2022, R208), dem Referentenentwurf vom April 2023 (dazu u.a. Harnos, AG 2023, 348; Joser, ZIP 2023, 1006; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 1077) und dem Regierungsentwurf vom August 2023 (hierzu u.a. Kuthe/Reiff, AG 2023, R308; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292) hat der Bundestag am 17.11.2023 das Zukunftsfinanzierungsgesetz beschlossen und dabei einige Änderungen vorgenommen, die auf Vorarbeiten des Finanzausschusses zurückgehen (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363). Nun steht das ZuFinG auf der Tagesordnung der 1038. Bundesratssitzung am 24.11.2023 (TOP 58). Die Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf werden im Folgenden dargestellt.

Aktienrecht

Die Neuregelungen der Mehrstimmrechtsaktie, eAktie und SPACs haben das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren weitgehend unverändert verlassen. Die Änderungen, die der Finanzausschuss angestoßen hat, sind redaktioneller Natur:

  • Die Neuregelung in § 67 Abs. 1 Satz 7 AktG, der eine Informationsversorgung von Emittenten elektronischer Aktien sicherstellen soll (hierzu Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 109 f.), wird auf § 67 Abs. 1 Satz 2 AktG i.d.F. des MoPeG erstreckt. Damit sollen Emittenten elektronischer Aktien auch mit Informationen über Aktionäre, die eine juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft sind, versorgt werden (s. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung).
  • Im Vergleich zum Regierungsentwurf neu gefasst wurde § 12 Satz 2 AktG. Die Mehrstimmrechtsaktien sind darin nun vor den Vorzugsaktien genannt, was ausweislich des Ausschussberichts deutlich machen soll, dass die Mehrstimmrechtsaktie keine Unterart der Vorzugsaktie ist (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung; zur anderweitigen Deutung des § 12 Satz 2 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG s. von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292). Nach § 135a Abs. 4 AktG n.F. berechtigen – und nicht berechtigten – die Mehrstimmrechtsaktien bei Beschlüssen nach § 119 Abs. 1 Nr. 5, § 142 Abs. 1 AktG zu nur einer Stimme. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 WpHG n.F., der an § 49 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG n.F. angelehnt ist, muss der Inlandsemittent bei einer Zu- oder Abnahme von Stimmrechten die Gesamtzahl der Stimmrechte unter Angabe der auf diese entfallenden Anzahl von Mehrstimmrechten veröffentlichen.

Auch im Bereich des Kapitalerhöhungsrechts bleiben einige Elemente des Regierungsentwurfs erhalten: Der Bundestag hat es bei der Anhebung der Wertgrenzen in § 186 Abs. 3 Satz 4, § 192 Abs. 3 Satz 1 AktG n.F. belassen (dazu statt vieler Harnos, AG 2023, 348 Rz. 17 ff.) und auch nicht den Riegel des § 202 Abs. 1 Satz 2 AktG n.F. entfernt, wonach die Ausgabe von Mehrstimmrechtsaktien nicht im Rahmen des genehmigten Kapitals vorgesehen werden kann (hierzu etwa Kuthe/Reiff, AG 2023, R308, R309; von der Linden/T. Schäfer, DB 2023, 2292, 2293). Größere Anpassungen inhaltlicher Art hat das parlamentarische Verfahren im Kontext des Wertverwässerungsschutzes gem. §§ 255 ff. AktG n.F. nach sich gezogen. Die Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf, die im Wesentlichen den Vorschlägen von Bungert/Strothotte, DB 2023, 2422, 2424 entsprechen, verringern aus der Perspektive der Emittenten und Inferenten die Hürden und Risiken bei Sachkapitalerhöhungen, führen aber auch zu einer spürbaren Absenkung des Aktionärsschutzniveaus:

  • Nach § 255 Abs. 2 und 4 AktG n.F. sollen die vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre auch in Fällen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses i.S.d. § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG n.F. weder den Kapitalerhöhungsbeschluss anfechten noch einen Barausgleich verlangen können. Dies soll augenscheinlich auch dann gelten, wenn der Börsenkurs – dem der Wert der neu geschaffenen Aktien gem. § 255 Abs. 5 Satz 1 AktG n.F. grundsätzlich entsprechen muss – gem. § 255 Abs. 5 Satz 3 AktG n.F., also bei Verletzung der Ad-hoc Pflicht (Nr. 1), Marktmanipulation (Nr. 2) oder Marktenge (Nr. 3), nicht allein maßgeblich ist und deshalb eine Unternehmensbewertung durchgeführt werden muss.
  • Überdies ist § 255 Abs. 4 Satz 3 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG weggefallen. Die Vor-schrift sah einen Freistellungsanspruch der gem. § 255 Abs. 4 Satz 2 AktG i.d.F. des RegE ZuFinG barausgleichspflichtigen Gesellschaft gegen den neu eintretenden Aktionär vor.

Investmentrecht

Gemäß §§ 231, 260b, 261, 284 KAGB i.d.F. des RegE ZuFinG sollten Immobilienfonds zu Investitionen in Grundstücke ermächtigt werden, auf denen sich ausschließlich Erneuerbare-Energien-Anlagen befinden oder auf denen solche Anlagen alsbald errichtet werden sollen (Freiflächenanlagen). Zudem sollte die Zulässigkeit von Erwerb und Betrieb von mit Immobilien verbundenen Erneuerbare-Energien-Anlagen (Aufdachanlagen) und Ladeinfrastruktur für Elektromobilität sowie von Direktinvestitionen in Erneuerbare-Energien-Anlagen durch Infrastrukturfonds klargestellt werden. All diese Regelungen, die die Energiewende durch privates Kapital ankurbeln sollten (s. Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 154 ff.), wurden auf Vorschlag des Finanzausschusses gestrichen (vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung). Die Koalitionsfraktionen haben aber zu Protokoll erklärt, dass die Erweiterung der Investmentoptionen für Immobilienfonds im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2024 aufgegriffen werden soll (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 106 – Vorabfassung).

Bank- und Kapitalmarktrecht

Im Bereich des Crowdfunding hat der Bundestag die Neufassung der Regelungen über die Haftung für Angaben im Anlagebasisinformationsblatt in §§ 32c ff. WpHG, die namentlich auf Vermeidung der persönlichen Geschäftsleiteraußenhaftung bei Crowdfunding-Plattformbetreibern abzielen (im Einzelnen Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, S. 94), mit der neuen Übergangsregelung in § 143 WpHG flankiert. Damit hat er den zeitlichen Geltungsbereich der reformierten Haftungsvorschriften auf Fälle erstreckt, in denen das fehlerhafte Anlagebasisinformationsblatt vor dem Inkrafttreten des ZuFinG erstellt, der Crowdfunding-Vertrag aber nach dem Inkrafttreten abgeschlossen wurde (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 127 – Vorabfassung).

In Umsetzung des Koalitionsvertrags (vgl. dort S. 135) hat der Bundestag das Koppelungsverbot des § 492a BGB in einem neuen Abs. 1a auf Fälle erstreckt, in denen der Abschluss eines Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags vom Abschluss eines Restschuldversicherungsvertrags abhängig gemacht wird (BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 126 – Vorabfassung). Flankiert wird diese Regelung durch die Neufassung des § 7a Abs. 5 VVG: Künftig darf ein Versicherer einen Restschuldversicherungsvertrag, der sich auf einen Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag bezieht, nur dann abschließen, wenn der Versicherungsnehmer die Vertragserklärung frühestens eine Woche nach Abschluss des Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags abgegeben hat (im Einzelnen BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 131 – Vorabfassung). Etwaige Verstöße gegen die neuen Verbotsgesetze führen nach § 492a Abs. 2 BGB n.F., § 7a Abs. 5 Satz 2 VVG n.F. zur Nichtigkeit des Restschuldversicherungsvertrags, nicht aber des Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrags.

Mit den Änderungen der §§ 16 ff. ZKG n.F. wird das Konzept des zertifizierten privaten Betriebs von Vergleichswebseiten über Zahlungskontenentgelte aufgegeben. Künftig wird ausschließlich die BaFin eine Vergleichswebseite betreiben (vgl. auch BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung).

Die Bereichsausnahme für die AGB-Kontrolle in der Finanzbranche in § 310 Abs. 1a BGB n.F. wurde minimalinvasiv geändert: Nach dem Wortlaut des § 310 Abs. 1a Satz 1 BGB i.d.F. des RegE ZuFinG sollte die Bereichsausnahme eingreifen, wenn ein Vertragspartner eine Finanzdienstleistung i.S.d. § 310 Abs. 1a Satz 2 BGB n.F. rechtmäßig gewerbsmäßig tätigt. Nunmehr soll es darauf ankommen, ob der Vertragspartner die Finanzdienstleistung rechtmäßig gewerbsmäßig tätigen kann. Überdies wird der Kreis privilegierter Unternehmen in § 310 Abs. 1a Satz 4 Nr. 5 BGB n.F. auf Zentralbanken der EWR-Staaten und des Vereinigten Königreichs erweitert (s. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 126 – Vorabfassung).

Steuerrecht

Der Regierungsentwurf wollte die Leistungen im Zusammenhang mit der Verwaltung von Krediten und Kreditsicherheiten von der Umsatzsteuer befreien, um die Rahmenbedingungen für Konsortialführer an den Standard in den anderen EU-Mitgliedstaaten anzugleichen (Begr. RegE ZuFinG, BT-Drucks. 20/8292, 133), und schlug eine entsprechende Erweiterung des Ausnahmekatalogs in § 4 Nr. 8 UStG vor. Der Bundestag hat diese steuerlichen Erleichterungen für die Kreditbranche wegen der potenziellen finanziellen Auswirkungen und der angespannten Haushaltslage gestrichen (zum Entfall der Steuermindereinnahmen i.H.v. 100 Mio. € vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 130 – Vorabfassung). Spielte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des zweiten Nachtragshaushalts 2021 insoweit eine zentrale Rolle?

Überdies wollte die Ministerialbürokratie im Zuge des Zukunftsfinanzierungsgesetzes einige Hebel im Steuerrecht bewegen, um die Anreize für Aktieninvestitionen zu erhöhen (hierzu etwa Lay/Neubauer/Schäfer, AG 2023, R156 ff.): Bei Mitarbeiterkapitalbeteiligung sollte die Regelung zur Lösung des Dry-Income-Problems in § 19a EStG verbessert werden. Außerdem sollte der Freibetrag in § 3 Nr. 39 EStG i.d.F. des RegE ZuFinG von 1.440 € auf 5.000 € pro Kalenderjahr angehoben werden.

Der Bundestag hat die Dry-Income-Regelung nachjustiert. Nach § 19a Abs. 1 Satz 3 EStG n.F. gilt ein nicht steuerbarer Vorteil i.S.d. § 19a Abs. 1 Satz 1 EStG a.F. auch dann als zugeflossen, wenn es dem Arbeitnehmer rechtlich unmöglich ist, über die Vermögensbeteiligung zu verfügen. Mit dieser begrüßenswerten Änderung hat das Parlament auf den Umstand reagiert, dass Mitarbeiter von Start-ups in aller Regel mit vinkulierten Anteilen vergütet werden, was nach § 19a EStG a.F. dazu führte, dass sie nicht in den Genuss der aufgeschobenen Besteuerung kamen (vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 129 – Vorabfassung). Diese Änderung dürfte in der Tat die Aktienkultur fördern. Gegenläufig könnten sich indes weitere Änderungen des Einkommensteuerrechts gegenüber dem Regierungsentwurf auswirken:

– Die Nachversteuerungsfrist des § 19a Abs. 4 EStG wurde im Vergleich zum Regierungsentwurf von 20 auf 15 Jahre verkürzt.

– Die Konzernklausel, die noch in § 19a Abs. 1 Satz 3 EStG i.d.F. des RegE ZuFinG vorgesehen war, ist weggefallen. Damit genießen Arbeitnehmer, die nicht mit Anteilen des Arbeitgebers, sondern eines Konzernunternehmens i.S.d. § 18 AktG vergütet werden, keine steuerliche Privilegierung nach § 19a EStG.

– Der Freibetrag in § 3 Nr. 39 EStG wird auf lediglich 2.000 € angehoben. Auch insoweit könnte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des zweiten Nachtragshaushalts 2021 eine gewisse Rolle gespielt haben (zum Wegfall der Steuermindereinnahmen i.H.v. 225 Mio. € durch Absenkung des Freibetrags gegenüber dem Regierungsentwurf vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 129 – Vorabfassung).

Schließlich wird die Einkommensgrenze bei der Arbeitnehmer-Sparzulage für die Anlage der vermögenswirksamen Leistungen in Vermögensbeteiligungen und Bausparverträge nach § 13 Abs. 1 Satz 1 5. VermBG verdoppelt (40.000 € statt 20.000 € bei Einzelveranlagung und 80.000 € statt 40.000 € bei Zusammenveranlagung, vgl. BeschlussE FinanzA ZuFinG, BT-Drucks. 20/9363, 132 – Vorabfassung).

Baustellen im SPACs-Regime nach dem Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Im Blog-Beitrag v. 24.8.2023 hat Niklas Joser die Grundzüge der Börsenmantelaktiengesellschaft (BMAG) nach §§ 44 ff. BörsG-E erläutert und zugleich dargestellt, an welchen Stellen der Regierungsentwurf des Zukunftsfinanzierungsgesetzes die Regelungsvorschläge aus dem Referentenentwurf nachgebessert hat. Auch wenn der Vorstoß der Bundesregierung, die deutsche AG durch punktuelle Modifikationen des Aktienrechts SPACs-fähig zu machen, generell zu begrüßen ist und die Nachbesserungen im Regierungsentwurf ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben doch einige Baustellen offen, die im Gesetzgebungsverfahren geschlossen werden sollten.

Baustelle 1: Konkretisierung des Vollständigkeitsbegriffs in § 44 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E

Der Gegenstand einer BMAG erstreckt sich gem. § 44 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E auf die Vorbereitung und den Abschluss einer Zieltransaktion. Nach § 44 Abs. 2 BörsG-E umfasst die Zieltransaktion sämtliche Erwerbsvorgänge einschließlich Umwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz, bei denen die BMAG mindestens drei Viertel der Anteile der Zielgesellschaft erwirbt (share deal) oder das Vermögen der Zielgesellschaft vollständig auf die Gesellschaft übergeht (asset deal). Für den letztgenannten Fall sollte der Gesetzgeber im Regelungswortlaut oder zumindest in den Materialien klarstellen, wann ein vollständiger Übergang des Vermögens der Zielgesellschaft auf die BMAG zu bejahen ist: Ist die Vollständigkeit wörtlich zu verstehen oder ist der Begriff in Anlehnung an die – durchaus umstrittenen – Grundsätze auszulegen, die im Kontext des § 179a Abs. 1 AktG entwickelt wurden (s. dazu Seibt in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 179a AktG Rz. 8)?

Baustelle 2: Konkretisierung des Durchführungsbegriffs in § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E

Nach § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E ist der Bestand der BMAG von der Durchführung der Zieltransaktion innerhalb der in der Satzung festgelegten Frist abhängig. Der Durchführungsbegriff ist konkretisierungsbedürftig, weil sich aus dem Gesetz nicht ergibt, wann die Zieltransaktion durchgeführt wurde. Vielmehr kann an mehrere Ereignisse angeknüpft werden, etwa den Abschluss des schuldrechtlichen Geschäfts (signing), den Hauptversammlungsbeschluss über die Zieltransaktion oder den „dinglichen“ Vollzug der Zieltransaktion (closing). Der Gesetzgeber sollte eindeutig im Gesetz regeln oder zumindest in den Materialien Auslegungshinweise darauf geben, was unter der Durchführung i.S.d. § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E zu verstehen ist.

Zudem sollte § 44 Abs. 3 Satz 1 BörsG-E nicht den irreführenden Eindruck erwecken, dass die BMAG nach dem Verstreichen der Durchführungsfrist als Rechtsträger erlischt. Anders als im Gesetzeswortlaut angedeutet, hängt der Bestand der Gesellschaft nicht von der Durchführung der Zieltransaktion ab. Vielmehr ist der erfolglose Fristablauf gem. § 47b Abs. 1 Satz 1 BörsG-E lediglich ein Auflösungsgrund (hierzu mit gelungenem Formulierungsvorschlag Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drucks. 362/23, 15).

Baustelle 3: terminologische Ungereimtheiten

Wie bereits an einer anderen Stelle moniert, bedient sich das Gesetz einer uneinheitlichen Terminologie (s. Harnos, AG 2023, 348 Rz. 35 Fn. 165): In § 44 Abs. 1 Satz 1 BörsG-E ist vom „Gegenstand der Gesellschaft“, in § 44 Abs. 4 Nr. 1 BörsG-E vom „Geschäftsgegenstand“ die Rede. Vorzugswürdig erscheint es, in Anlehnung an § 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG auch in § 44 BörsG-E einheitlich vom Unternehmensgegenstand zu sprechen.

Baustelle 4: Börsenzulassung der Wertpapiere

Nach § 44 Abs. 4 Nr. 2 BörsG-E gelten die Sonderregelungen in §§ 44 ff. BörsG-E, wenn die Wertpapiere der Gesellschaft zum Handel am regulierten Markt zugelassen sind. Zumindest in den Gesetzesmaterialien sollte klargestellt werden, dass die Wertpapiere der Initiatoren (§ 44 Abs. 6 BörsG-E) – wie in der internationalen Transaktionspraxis üblich – nicht zum Börsenhandel zugelassen werden müssen (vgl. hierzu auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740).

Baustelle 5: Zeitpunkt für den Rechtsformzusatz

Nicht ganz klar geregelt ist der Zeitpunkt, ab dem die Gesellschaft den Rechtsformzusatz „Börsenmantelaktiengesellschaft“ führen muss (zu dieser Vorgabe s. § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E). Da die Wertpapiere der Gesellschaft bei ihrer Gründung nicht automatisch zum Börsenhandel zugelassen sind, ist § 44 Abs. 4 Nr. 2 BörsG-E nicht erfüllt, so dass § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E im Zeitpunkt der Gründung nicht einschlägig ist. Dies spricht dafür, dass die Gesellschaft zunächst als eine „reguläre“ AG firmieren muss; den besonderen Rechtsformzusatz kann und muss sie erst nach dem Börsengang annehmen. Folgt man dem, muss nach dem Börsengang eine Hauptversammlung einberufen werden, um den Rechtsformzusatz in der Satzung zu ändern. Um diesen umständlichen Weg zu vermeiden, sollte § 44 Abs. 5 Satz 2 BörsG-E der Gesellschaft gestatten, schon in der Gründungsphase und bis zum Börsengang den Rechtsformzusatz „BMAG i. Gr.“ zu führen (dafür DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740). Alternativ könnte der Aufsichtsrat in § 44 Abs. 5 Satz 3 BörsG-E – in Anlehnung an § 179 Abs. 1 Satz 2 AktG (s. dazu Seibt in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 179 AktG Rz. 23 ff.) – zu einer Fassungsberichtigung nach dem Börsengang gesetzlich ermächtigt werden.

Baustelle 6: generelle Zulässigkeit selbständiger Aktienoptionen

Es ist zu begrüßen, dass § 47a BörsG-E die Emission selbständiger Optionsscheine (naked warrants) durch die BMAG gestattet. Dabei vermeidet der Regierungsentwurfs eine Formulierung, die noch im Referentenentwurf enthalten war („… abweichend von § 221 des Aktiengesetzes …“) und die nahelegen würde, dass selbständige Aktienoptionen im allgemeinen Aktienrecht unzulässig seien (zur unglücklichen Formulierung des Referentenentwurfs s. Joser, Blog-Beitrag v. 24.8.2023 unter 3. und Joser, ZIP 2023, 1006, 1008 f.). Vorzugswürdig wäre es, wenn der Gesetzgeber einen Schritt weiter gehen und die Zulässigkeit selbständiger Aktienoptionen – im Einklang mit der ganz herrschenden Auffassung (s. nur Fest in Hopt/Seibt, Schuldverschreibungsrecht, 2. Aufl. 2023, § 221 AktG Rz. 238 ff.; Koch, 17. Aufl. 2023, § 221 AktG Rz. 75) – in §§ 187, 192, 221 AktG bestätigen würde; § 47a Abs. 1 BörsG-E wäre dann zu streichen (dafür und die Anhebung der Höchstgrenze in § 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG erwägend DAV-HRA, NZG 2023, 738, 742). Die Ausnahme für Vorstands- und Mitarbeiteroptionen, die in § 47a Abs. 2 BörsG-E vorgesehen ist (keine Frist nach § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG), sollte hingegen im Gesetz verbleiben.

Baustelle 7: Verzinsung beim Andienungsrecht

Erklärt ein Aktionär der BMAG gegen den Hauptversammlungsbeschluss über die Zieltransaktion (s. § 46 BörsG-E) Widerspruch zur Niederschrift, kann er gem. § 47 Abs. 1 BörsG-E ein Andienungsrecht geltend machen. Der Gesetzgeber sollte klarstellen, dass der Anspruch des Aktionärs auf Rückzahlung der Bareinlage nebst Aufgeld zu verzinsen ist. Die Verzinsung des Rückzahlungsanspruchs steht systematisch im Einklang mit § 45 Abs. 2 Satz 2 BörsG-E, wonach das Treuhandkonto für Einlagen der BMAG-Aktionäre angemessen zu verzinsen ist.

Baustelle 8: Ungereimtheiten bei Vermeidung unbedeutender Zieltransaktionen

Wird die Zieltransaktion nicht während der statutarischen Frist durchgeführt, so wird die BMAG gem. § 47b Abs. 1 Satz 1 BörsG-E grundsätzlich aufgelöst (s. dazu bereits Baustelle 2). Dies gilt nach § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E nicht, wenn die Zieltransaktion einschließlich der Bedienung des Andienungsrechts erfolgreich durchgeführt wurde, soweit der Wert der im Zuge der Zieltransaktion durch die BMAG erworbenen Vermögenswerte nicht um mehr als 20 Prozent hinter dem Wert der Einlagen einschließlich Aufgeld zurückbleibt. Mit der Einführung der 20-Prozent-Grenze will der Gesetzgeber vermeiden, dass die BMAG-Initiatoren eine unbedeutende Zieltransaktion durchführen, um einen Ansehensverlust zu vermeiden und ihre Vergütung – die über BMAG-Aktien und selbständige Optionen auf BMAG-Aktien erfolgt – zu realisieren (zum teleologischen Hintergrund des § 47b Abs. 1 Satz 2 BörsG-E s. Joser, Blog-Beitrag v. 24.8.2023 unter 4.; für die Einführung einer solchen Regelung DAV-HRA, NZG 2023, 738, 740).

Dieses Ziel ist im Ausgangspunkt zu begrüßen. Allerdings erscheint das eingesetzte Instrument problematisch: Wird die 20-Prozent-Grenze überschritten, folgt aus dem Wortlaut des § 47b Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E, dass die BMAG aufgelöst wird. Gilt dies auch in Fällen, in denen die Zieltransaktion inklusive ggf. nötiger Registereintragungen durchgeführt wurde, weil die in § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E geregelte Grenzüberschreitung niemandem aufgefallen ist? Wenn man bedenkt, dass die Anwendung des § 47 Abs. 1 Satz 2 BörsG-E die Bewertung einer nicht börsennotierten Zielgesellschaft erfordert und die Unternehmensbewertung mit Unsicherheiten behaftet ist, erscheint ein solches Szenario – also eine „versehentliche“ Registereintragung einer unbedeutenden Transaktion – nicht völlig ausgeschlossen. Wird in einem solchen Fall die Auflösung nach § 47b Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E wegen der Bestandskraft der Zieltransaktion nach der Registereintragung verdrängt, um die Transaktionssicherheit zu erhöhen? Dieses Problem sollte der Gesetzgeber umschiffen, indem er die Regelung über die Vermeidung unbedeutender Transaktionen von den Auflösungsvorschriften trennt und sie als eine Vorstandsvorgabe formuliert. Als Regelungsstandort bietet sich etwa ein (neuer) § 44 Abs. 3 Satz 2 BörsG-E an.

Baustelle 9: share deal im Zieltransaktionsbericht

Die Zieltransaktion bedarf der Zustimmung der Hauptversammlung der BMAG. Für Umwandlungsmaßnahmen folgt dies aus dem Umwandlungsgesetz, für sonstige Zieltransaktionen aus § 46 Abs. 1 Satz 1 und 2 BörsG-E. Im letztgenannten Fall muss der Vorstand der BMAG gem. § 46 Abs. 1 Satz 4 BörsG-E einen Zieltransaktionsbericht erstellen und dabei u.a. „die Angemessenheit der der Zielgesellschaft versprochenen Gegenleistung im Verhältnis zum Wert der Zielgesellschaft“ erläutern und begründen. Diese Formulierung ist allein auf den asset deal zugeschnitten. Bei einem share deal erhält nicht die Zielgesellschaft eine Gegenleistung, sondern deren Gesellschafter. Diesen Fall sollte der Gesetzgeber in § 46 Abs. 1 Satz 4 BörsG-E ebenfalls erfassen.

Baustelle 10: Unklarheiten in § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E

Unklar ist der Regelungsgehalt des § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E, wonach sich die Bekanntmachungspflicht nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG auch auf den Zieltransaktionsbericht erstreckt (krit. auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741). Es leuchtet nicht ein, wieso der Zieltransaktionsbericht Gegenstand des Beschlussvorschlags der Verwaltungsorgane sein soll. Wenn sich der Beschlussvorschlag der Verwaltungsorgane auf die Zieltransaktion selbst beziehen soll (was selbstverständlich erscheint und deshalb nicht speziell für die BMAG geregelt werden muss), ist § 46 Abs. 1 Satz 8 BörsG-E entsprechend anzupassen.

Baustelle 11: Anfechtungsrelevanz fehlerhafter Zieltransaktionsberichte

Ein Fehler des Zieltransaktionsberichts kann unter Umständen ein Anfechtungsgrund i.S.d. § 243 Abs. 1, Abs. 4 AktG sein. In einem solchen Fall sind nach § 245 Nr. 1 AktG diejenigen BMAG-Aktionäre anfechtungsbefugt, die gegen den Zustimmungsbeschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt haben. Zugleich können diese Aktionäre nach § 47 Abs. 1 AktG das Andienungsrecht geltend machen. Dieses Nebeneinander ist bedenklich. Es leuchtet nicht unmittelbar ein, wieso die Aktionäre wegen etwaiger Berichtsfehler gegen die gesamte Zieltransaktion vorgehen können, wenn sie sich durch die Ausübung des Andienungsrechts schützen können. Im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren sollte deshalb ein genereller Anfechtungsausschluss erwogen werden (vorsichtig in diese Richtung DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741).

Baustelle 12: Freigabeverfahren für begleitende Beschlüsse

Hinzu kommt, dass die Aktionäre unter Berufung auf einen Berichtsfehler die Zieltransaktion ausbremsen könnten: Wird aus der BMAG eine „reguläre“ AG mit operativem Geschäftsbetrieb, muss deren Satzung zum einen wegen des Unternehmensgegenstandes, zum anderen wegen des Rechtsformzusatzes geändert werden. Weil der Satzungsänderungsbeschluss kein Gegenstand des Freigabeverfahrens nach § 246a AktG sein kann, könnte er ein Ziel etwaiger Beschlussmängelklagen sein, die sich auf (womöglich nur behauptete) Fehler des Zieltransaktionsberichts stützen. Vor diesem Hintergrund sollte der Gesetzgeber erwägen, das Freigabeverfahren auf registerpflichtige (Satzungsänderungs-)Beschlüsse im Umfeld der Zieltransaktion zu erstrecken (dafür auch DAV-HRA, NZG 2023, 738, 741).

Baustelle 13: kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts

Während die Baustellen 11 und 12 die gesellschaftsrechtlichen Folgen des Zieltransaktionsberichts betreffen, hat die Baustelle 13 die kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts zum Gegenstand: Wenn Anleger im Rahmen eines Börsengangs Wertpapiere eines operativ tätigen Unternehmens erwerben, können sie sich anhand des (Börsenzulassungs-)Prospekts u.a. über das Geschäftsmodell, die Finanzzahlen und weitere investitionsrelevante Umstände informieren. Der Prospekt einer BMAG ist weniger aussagekräftig. Er erstreckt sich wegen des Mantelcharakters der BMAG in erster Linie auf die Umschreibung potenzieller Zielgesellschaften (etwa nach Branchenzugehörigkeit oder Region) und der Erwerbsstrategie (dazu etwa Hell, BKR 2021, 26, 29). Detaillierte Informationen über die unternehmerische Ausrichtung der BMAG enthält der Prospekt nicht, weil die BMAG keinen eigenen operativen Geschäftsbetrieb hat. Die Anleger erhalten Informationen zum (künftigen) operativen Geschäftsbetrieb erst mit dem Zieltransaktionsbericht. Insoweit kann der Bericht als eine Verlängerung des Prospekts und damit als eine Kapitalmarktinformation angesehen werden.

Folgt man der Einordnung des Zieltransaktionsberichts als eine besondere Art der Kapitalmarktinformation, könnten diejenigen Aktionäre, die das Andienungsrecht aus § 47 Abs. 1 BörsG-E nicht ausgeübt haben, wegen etwaiger Berichtsfehler analog §§ 9 ff. WpPG Ansprüche geltend machen, die auf Rückabwicklung der Investition in die BMAG gerichtet sind. Für die Praxis hilfreich wäre ein Hinweis des Gesetzgebers darauf, ob ein fehlerhafter Zieltransaktionsbericht solche kapitalmarktrechtlichen Folgen nach sich ziehen kann. Bleibt ein gesetzgeberischer Hinweis aus, dürften Praxis und Wissenschaft die kapitalmarktrechtliche Dimension des Zieltransaktionsberichts dogmatisch vermessen.

Baustelle 14: Vorstandshaftung

Praxis und Wissenschaft werden zudem die Aufgabe meistern müssen, die Grundsätze der Vorstandshaftung wegen einer ungünstigen Zieltransaktion und eines fehlerhaften Zieltransaktionsberichts herauszuarbeiten (erste Ansätze bei Fuhrmann, AG 2022, R91, R92). So bleibt etwa zu klären, inwieweit der Zustimmungsbeschluss gem. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG eine Enthaftungswirkung erzeugt und ob sich die Vorstandsmitglieder trotz etwaiger Interessenkonflikte auf die Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) berufen können.

Baustelle 15: Regelungsstandort

Schließlich sollte der Standort des deutschen SPACs-Regimes im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren überdacht werden. Aus systematischen Gründen spricht viel dafür, die BMAG-Großbaustelle vom Börsengesetz ins Aktiengesetz zu verlegen (dafür etwa Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drucks. 362/23, 10 f.; Herzog/Gebhard, NZG 2023, 1055, 1056; Kuthe, BB 2023, 1603, 1606 f.; s. auch bereits Harnos, AG 2023, 348 Rz. 40 f.).

Die Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktien: Nachbesserungsbedarf beim Regierungsentwurf des ZuFinG

Dieser Blog-Beitrag basiert auf dem Vortrag, den der Autor am 26.9.2023 auf dem Hamburger Forum zum Gesellschafts- und Kapitalmarktecht gehalten hat. Die vollständige Schriftfassung ist hier verfügbar.

Im Fahrwasser der Initiative für einen EU Listing Act sieht der Regierungsentwurf für das Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG) vor, die vor 25 Jahren abgeschafften Mehrstimmrechtsaktien wieder zuzulassen – allerdings nicht uneingeschränkt, sondern ergänzt um ein Regime zum Schutz der übrigen Aktionäre. Die Abkehr vom bislang in § 12 Abs. 2 AktG statuierten Verbot der Mehrstimmrechte kommt nicht überraschend, sondern war bereits im Koalitionsvertrag angekündigt worden. Dass es sich bei der Einführung eigentlich um eine Wiedereinführung handelt (Nicolussi, AG 2022, 753), verschweigt der Entwurf nicht, sieht sich aber durch „Erfahrungen aus dem Ausland“ bekräftigt. In der Sache liegt der Wiederzulassung durch § 12 Satz 2, § 135a AktG-E eine heterogene Konzeption zu Grunde.

In der nichtbörsennotierten Gesellschaft geht es im Kern um eine Lockerung der Satzungsstrenge, die mit der Begrenzung auf das Zehnfache des Stimmrechts durch § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG-E und den Ausnahmen vom Mehrstimmrecht bei der Bestellung von Abschluss- und Sonderprüfer durch § 135a Abs. 4 AktG-E lediglich grob eingehegt ist.

In der börsennotierten Gesellschaft konzipiert der Entwurf die Mehrstimmrechte hingegen als personalisierte Übergangsstruktur für Wachstumsunternehmen. Das verdeutlichen die Begründungen sowohl zum Erlöschen der Mehrstimmrechte im Falle der Aktienübertragung nach § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG-E als auch zu ihrer gesetzlichen Befristung nach § 135a Abs. 2 Satz 2 AktG-E.

I. Rechtspolitische Fragezeichen

So klar der Entwurf auf den ersten Blick erscheint, verbleiben eine Reihe rechtspolitischer Fragezeichen. So erscheinen die Regelungen zum Erlöschen der Mehrstimmrechte in Teilen inkonsistent (1., 2.). Gleichzeitig lassen die Hürden für ihre Einführung und Verlängerung Zweifel an der Praktikabilität aufkommen (dazu 3., 4.). Schließlich adressieren die vorgesehenen Regelungen die Risiken von Mehrstimmrechten nur unvollständig (dazu 5.).

1. Erlöschen im Übertragungsfall bei Zulassung des Haltens durch juristische Personen?

Das Erlöschen im Übertragungsfall gründet nach dem Entwurf auf der Einsicht, „dass die bisherigen Inhaber im Umfang der Übertragung nicht mehr an der Entwicklung des Unternehmens teilnehmen. Der Zweck der Mehrstimmrechte, ihnen auch nach dem Börsengang in der Wachstumsphase eine Kontrolle über die Unternehmensstrategie zu ermöglichen, entfällt.“ Dementsprechend will der Entwurf den Begriff der Übertragung weit verstehen. Gleichwohl lässt er es zu, dass Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften auch von juristischen Personen gehalten werden. Das führt nicht nur zu erheblichen Anwendungsproblemen bei der Übertragung von Anteilen an der Beteiligungsgesellschaft (unten II.2.). Versteht man Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften als personalisierte Übergangsstruktur, wäre es konsequent, sie auf natürliche Personen – zumal solche in Organfunktion – zu begrenzen.

2. Nur einmalige Fristverlängerung?

Mit der Befristung der Mehrstimmrechte in börsennotierten Gesellschaften greift der Entwurf die verbreiteten Vorbehalte gegenüber einem dauerhaften Auseinanderfallen von Kontrolle und Kapitalbeteiligung auf. Dass § 135a Abs. 2 Satz 3 AktG-E den übrigen Aktionären die Möglichkeit einräumt, die Mehrstimmrechte zu verlängern, setzt hingegen einen Anreiz für den Mehrstimmrechtsaktionär, im Interesse der übrigen Aktionäre zu handeln. Es ist daher unverständlich, dass der Entwurf die Möglichkeit auf eine einmalige Verlängerung beschränken will.

3. Zu hohe Hürden für die Einführung?

Der Entwurf will die Einführung von Mehrstimmrechten nach § 135 Abs. 1 Satz 3 AktG-E nur mit „Zustimmung aller betroffenen Aktionäre“ zulassen. Das ist praktisch bedenklich, da auch gewachsene Start-ups eine breite Investorenbasis haben können. Jedenfalls besteht keine Veranlassung für ein Einstimmigkeitserfordernis, solange alle Aktionäre gleichbehandelt werden – sei es bei Ausstattung aller Aktien mit Mehrstimmrechten oder bei Ausgabe von Mehrstimmrechtsaktien unter Aufrechterhaltung des Bezugsrechts aller Aktionäre. So ließe sich ein Börsengang auch dann praktikabel vorbereiten, wenn man in den übrigen Fällen am Einstimmigkeitserfordernis festhalten wollte.

4. Zu hohe Hürden für die Verlängerung?

Die Entwurfsbegründung konzediert, dass die Befristung der Mehrstimmrechte „von Gründern […] als erneutes Hindernis für einen Börsengang wahrgenommen“ werden könnte. Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass der Entwurf nach § 135a Abs. 2 Satz 4 AktG-E für die Verlängerung der Mehrstimmrechte abweichend von ihrer Einführung einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit genügen lässt. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass Gründern damit ein aussichtsreicher Weg eröffnet ist, langfristig die Zügel in der Hand zu behalten. Insofern wäre eine Absenkung des Quorums auf die einfache Mehrheit der außenstehenden Aktionäre erwägenswert, zumal auch eine solche nicht ohne die Unterstützung von institutionellen Investoren zu erreichen wäre.

5. Hinreichende Erfassung der Risiken?

Der Regierungsentwurf begründet die Notwendigkeit gesetzlicher Schutzvorkehrungen damit, dass die Inhaber von Mehrstimmrechten „ein verhältnismäßig geringeres Risiko beim Scheitern des Unternehmens [tragen], zudem sind Missbräuche und Interessenkonflikte denkbar“. Diese Problemanalyse trifft zu. Sie bringt indes nicht deutlich genug zum Ausdruck, dass (a) die Governance-Risiken zunehmen, je geringer der Kapitalanteil des kontrollierenden Aktionärs ist, und (b) die Zunahme jener Risiken umgekehrt proportional zur Abnahme des Kapitalanteils verläuft.

Das illustriert der Unterschied einer Kontrolle mit verschiedenen Kapitalanteilen bei der Verfolgung einer Geschäftsstrategie mit negativem Erwartungswert, aber privaten Vorteilen – z.B. in Form der Verfolgung von politischen Überzeugungen à la Twitter / Elon Musk: Ist der kontrollierende Minderheitsaktionär für diese Überzeugung bereit, einen Wertverlust seiner Beteiligung in Höhe von EUR 1 Mio. in Kauf zu nehmen, so impliziert das bei 20 Prozent Kapitalbeteiligung die Inkaufnahme einer Verminderung des Gesellschaftswerts in Höhe von EUR 5 Mio., bei 10 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 10 Mio., bei 5 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 20 Mio., bei 3 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 33 Mio. und bei 2 Prozent Kapitalbeteiligung von EUR 50 Mio.

Hieraus folgt zugleich, dass sich das klassische Missbrauchsrisiko der Vermögensverschiebung auf den kontrollierenden Aktionär (sog. tunneling) durch Mehrstimmrechte potenziert, weil der Mehrstimmrechtsinhaber den Kapitalabfluss auf Seiten der Gesellschaft nur im Umfang seines Kapitalanteils finanziert.

a) Deckelung auf das Zehnfache des Stimmrechts

Dieses Risikoprofil adressiert der Entwurf unzureichend, indem er mit § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG-E Mehrstimmrechte auf das zehnfache Stimmrecht deckelt. Diese Deckelung soll zwar sicherstellen, dass „die Inhaber der Mehrstimmrechte für die Kontrolle zumindest einen relevanten Anteil am Grundkapital halten müssen.“ Tatsächlich kann bei einem zehnfachen Stimmgewicht bereits ein Kapitalanteil von knapp über 9 Prozent genügen. Zudem steht der Entwurf einer Verbindung von Mehrstimmrechten mit der Ausgabe stimmrechtsloser Vorzugsaktien nicht entgegen, sodass die Mehrstimmrechte bereits bei unter 5 Prozent Kapitalanteil eine Mehrheit der Stimmrechte vermitteln. Und dabei bleibt noch unberücksichtigt, dass angesichts der Hauptversammlungspräsenzen bereits ein deutlich niedrigerer Kapitalanteil genügen dürfte.

Es liegt freilich in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, in welchem Umfang das Auseinanderfallen von Kapitalbeteiligung und Stimmrecht hingenommen werden kann. Es erscheint gleichwohl erwägenswert, zu regeln, dass Vorzugsaktien ohne Stimmrecht nicht ausgegeben werden dürfen, wenn die Satzung bereits Mehrstimmrechtsaktien vorsieht.

b) Minderheitskontrolle ohne unabhängige Aufsichtsratsmitglieder

Selbst wenn man davon ausgeht, dass das geltende Aktienrecht die Governance-Risiken materiell aufzufangen vermag, erscheint es doch bedenklich, auf die Kontrolle durch jene Aufsichtsratsmitglieder zu vertrauen, die der Mehrstimmrechtsaktionär selbst bestellt hat. Es erscheint daher erwägenswert, den übrigen Aktionären die Bestellung zumindest eines Aufsichtsratsmitglieds anheimzustellen.

c) Unveränderte Aufgreifschwelle für Related Party Transactions

Da Mehrstimmrechte die Anreize für tunneling erhöhen, rückt bei ihrer Zulassung das Regelungsregime für related party transactions in den Fokus. Dieses erweist sich zwar insofern als gewappnet, als § 111b Abs. 2 AktG bereits vorsieht, dass bei der Beschlussfassung des Aufsichtsrats konfliktbefangene Mitglieder ihr Stimmrecht nicht ausüben können. Da kontrollierende Minderheitsaktionäre jedoch bereits aus geringen Wertverschiebungen erhebliche Vorteile ziehen können, erscheint erwägenswert, die in § 111b Abs. 1 AktG definierte Aufgreifschwelle für Geschäfte mit Mehrstimmrechtsaktionären niedriger anzusetzen – jedenfalls, wenn man es dabei belassen wollte, dass diese die Gesellschaft mit einer Kapitalbeteiligung von unter 10 Prozent beherrschen könnten.

d) Kein Dispens der Mehrstimmrechte für Say on Pay, Disposition über Ersatzansprüche

Dieselben Erwägungen streiten dafür, vergütungsbezogene Hauptversammlungsbeschlüsse in den Katalog des § 135a Abs. 4 AktG-E aufzunehmen und die Mehrstimmrechte insoweit zu dispensieren. Denn ein kontrollierender Minderheitsaktionär beschließt insoweit über die Vergütung von ihm strukturell nahestehenden Personen, während die hierfür anfallenden Kosten von den übrigen Aktionären getragen werden. Aus denselben Gründen sollten Beschlüsse über den Verzicht auf Ersatzansprüche gegen Organmitglieder vom Mehrstimmrecht ausgenommen werden. Eine solche Ausdehnung wäre – ebenso wie die Erstreckung auf Beschlüsse zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gemäß § 147 AktG – außerdem nur konsequent, nachdem der Entwurf mit § 135a Abs. 4 AktG-E die Mehrstimmrechte bereits für die Bestellung von Sonderprüfern dispensiert.

II. Ausgewählte Anwendungsprobleme

Unabhängig von den vorstehend diskutierten rechtspolitischen Fragen wirft der Entwurf eine Reihe von Anwendungsproblemen auf, die im Gesetzgebungsverfahren noch geklärt werden sollten.

1. Mehrstimmrechte und künftige Kapitalmaßnahmen

a) Notwendigkeit von Sonderbeschlüssen?

Nach der Entwurfsbegründung bilden Mehrstimmrechtsaktien eine eigene Gattung. Mit Blick auf § 11 Satz 2 AktG kann daran kein Zweifel bestehen. Zweifelhaft erscheint demgegenüber, ob der Entwurf auch die Konsequenzen im Blick hat. Denn der Gattungsbegriff macht bei künftigen Kapitalmaßnahmen Sonderbeschlüsse gemäß § 182 Abs. 2, § 222 Abs. 2 AktG notwendig – und das verschiebt wiederum das Machtgefüge zwischen mehr- und einfachstimmberechtigten Aktionären. So erhält einerseits der Mehrstimmrechtsaktionär ein noch stärkeres Vetorecht. Vor allem aber stärkt die Notwendigkeit von Sonderbeschlüssen die Position der übrigen Aktionäre gegenüber dem Mehrstimmrechtsinhaber. Denn ebenso wie die Mehrstimmrechtsaktien bilden dann auch die einfachstimmberechtigten Aktien eine separate Gattung, von deren Zustimmung der Erfolg der Kapitalmaßnahme abhängt. Und bei dieser Beschlussfassung ist der Mehrstimmrechtsaktionär gänzlich außen vor: Er gehört nicht zur Gattung und ist deshalb nicht stimmberechtigt.

b) Bezugsrecht auf Mehrstimmrechtsaktien?

Nimmt man § 135a Abs. 1 Satz 3 AktG-E beim Wort, bedarf die Ausgabe von Aktien mit Mehrstimmrechten stets der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre. Die dahinterstehende Sorge vor einer Verschiebung der Stimmrechtsverhältnisse hat ihre Berechtigung. Im Rahmen von Kapitalerhöhungen ist die Ausgabe neuer Mehrstimmrechtsaktien jedoch für die Wahrung der Stimmrechtsverhältnisse erforderlich. Denn die überproportionale Stimmkraft des Mehrstimmrechtsaktionärs verwässerte, würde er mit den übrigen Aktionären lediglich einfachstimmberechtigte Aktien beziehen. Selbst wenn man mit der herrschenden Lehre annimmt, dass § 186 Abs. 1 Satz 1 AktG ein verhältniswahrendes Gattungsbezugsrecht gewährt, wirft § 135a Abs. 1 Satz 3 AktG-E die Frage auf, ob eine verhältniswahrende Kapitalerhöhung dann trotzdem die Zustimmung aller betroffenen Aktionäre verlangt.

2. Anwendungsprobleme der Erlöschenstatbestände

a) Kontrollwechsel bei juristischer Person als Übertragungsfall?

Die wichtigste Frage bei der Anwendung der Erlöschenstatbestände betrifft den Übertragungsfall. Die Entwurfsbegründung will den Begriff weit verstehen, weil damit „[d]er Zweck der Mehrstimmrechte, ihnen auch nach dem Börsengang in der Wachstumsphase eine Kontrolle über die Unternehmensstrategie zu ermöglichen, entfällt“. Dass der Entwurf es gleichwohl zulässt, dass Mehrstimmrechte von juristischen Personen gehalten werden, ist rechtspolitisch schwer verständlich (oben I.1.). Sollte daran festgehalten werden, wäre es dringend erforderlich, die Kriterien festzulegen, nach denen die Übertragung von Anteilen an der Beteiligungsgesellschaft als Übertragung im Sinne des § 135a Abs. 2 Satz 1 AktG-E zu qualifizieren ist. Insoweit gälte es insbesondere, das Verhältnis zum Zurechnungsregime des WpÜG zu klären.

b) Einbeziehung in den Freiverkehr ohne Zustimmung der Gesellschaft?

Die Erlöschenstatbestände gelten nicht nur für börsennotierte Gesellschaften, sondern auch für Gesellschaften, deren Aktien in den Handel im Freiverkehr einbezogen sind. Diese Einbeziehung erfordert indessen kein Einverständnis des Emittenten. Damit unterliegen Mehrstimmrechtsaktionäre in der nichtbörsennotierten Gesellschaft dem Risiko, gegen ihren Willen dem Minderheitenschutzregime börsennotierter Gesellschaften unterworfen zu werden. Dadurch wird die Erweiterung der Gestaltungsfreiheit in der nichtbörsennotierten Gesellschaft untergraben. Auch dieser Weg ist freilich gangbar, nicht zuletzt aus Anlegerschutzerwägungen. Jedoch bestehen auch insoweit Zweifel, wie bewusst er eingeschlagen wurde. Die Alternative bestünde darin, § 135a Abs. 1 Satz 1 AktG-E auf Gesellschaften zu beschränken, deren Aktien mit Zustimmung des Emittenten in den Handel im Freiverkehr einbezogen sind.

3. Pflichtangebot nach Erlöschen der Mehrstimmrechte?

Aus Sicht der Übernahmepraxis wirft der Entwurf eine Reihe von Detailfragen auf (siehe nur Denninger/von Bülow, AG 2023, 417). Explizit adressiert die Entwurfsbegründung indessen die Folgen des passiven Kontrollerwerbs infolge des Erlöschens von Mehrstimmrechten. Sie verweist darauf, dass „in derartigen Fällen eine Befreiung von den übernahmerechtlichen Pflichten […] gemäß § 37 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 1 Nummer 5 WpÜG-Angebots-VO möglich [ist]“. Sie ist indes regelmäßig nicht gerechtfertigt: Das Erlöschen der Mehrstimmrechte und der damit verbundene relative Stimmzuwachs der einfachstimmberechtigten Aktionäre ist nach der Konzeption des Entwurfs sehr wohl erwartbar. Unsicherheiten bestehen allein über den Zeitpunkt.

4. Verhältnis zum Konzernrecht

Das Konzernrecht ist gleichsam der Elefant im Raum der Diskussion über eine Minderheitskontrolle qua Mehrstimmrecht. Denn es steht zu vermuten, dass die Anwendung des Konzernrechts gerade jene Gründer abschrecken dürfte, die der Entwurf durch die Bereitstellung von Mehrstimmrechten gerade zum Börsengang ermutigen möchte. Für die Annahme eines beherrschenden Einflusses genügt allerdings die Möglichkeit, „für einen längeren Zeitraum Beschlüsse mit einfacher Mehrheit durchzusetzen“ (BGHZ 135, 107). Die entscheidende Frage lautet daher, ob ein kontrollierender Mehrstimmrechtsaktionär dem konzernrechtlichen Begriff des „Unternehmens“ im Sinne der §§ 15 ff. AktG unterfällt. Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH „ist ein Aktionär dann Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne, wenn er neben der Beteiligung an der Aktiengesellschaft anderweitige wirtschaftliche Interessenbindungen hat, die nach Art und Intensität die ernsthafte Sorge begründen, er könne wegen dieser Bindung seinen aus der Mitgliedschaft folgenden Einfluss auf die Aktiengesellschaft zu deren Nachteil ausüben.“ (BGHZ 148, 123). Zugleich geht die herrschende Meinung davon aus, dass der Unternehmensbegriff jene Privataktionäre privilegiert, deren unternehmerische Interessen sich in der Wahrnehmung der Beteiligung an einer Aktiengesellschaft beschränken. Danach wären zumindest kontrollierende Mehrstimmrechtsaktionäre, die (i) ihre Aktien persönlich halten und (ii) neben der Beteiligung an der Gesellschaft über keine wesentlichen anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindungen verfügen, nicht als herrschende Unternehmen zu qualifizieren. Zuletzt ist dieser Unternehmensbegriff allerdings wieder unter Druck geraten (siehe nur J. Vetter, 50 Jahre Aktienkonzernrecht, 2015, S. 231, 239).

Will der Gesetzgeber Mehrstimmrechtsaktionäre mit Blick auf die Schutzmechanismen des § 135a AktG-E von den konzernrechtlichen Vorschriften ausnehmen, sollte er dies zumindest in den Gesetzgebungsmaterialen klarstellen. Rechtspolitisch ließe sich ein safe harbor jedenfalls für jene Personen rechtfertigen, die auch im Fokus des Entwurfs stehen: Maßgebliche Ideengeber, die in der Wachstumsphase nach dem Börsengang die Kontrolle über die Strategie „ihres“ Unternehmens behalten wollen und deshalb neben der Beteiligung an der Gesellschaft über keine wesentlichen anderweitigen wirtschaftlichen Interessenbindungen verfügen. Ein solcher Ansatz würde noch an Überzeugungskraft gewinnen, wenn der Entwurf noch stärker auf die Governance-Risiken der Mehrstimmrechtsaktien reagierte (oben I.5.).

Stellungnahme des DAV-Handelsrechtsausschusses zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL

Die Diskussion über die Einführung der Mehrstimmrechtsaktien im Zuge des Listing Acts ist im vollen Gange (zum Entwurf der Mehrstimmrechtsaktien-RL s. etwa Casper, ZHR 187 (2023), 5, 29 f.; Gumpp, BKR 2023, 82, 88 f.; Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; Kuthe, AG 2023, R28, R29; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193; Schlitt/Ries, NZG 2023, 145). Am 27.2.2023 hat der Ausschuss Handelsrecht des Deutschen Anwaltvereins eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er den Vorstoß der Europäischen Kommission zwar grundsätzlich begrüßt, aber eine Reihe von Änderungsvorschlägen unterbreitet. Zahlreiche Anregungen des Ausschusses sind durchaus erwägenswert: eine ausdrückliche Regelung zur KGaA und SE, eine Klarstellung hinsichtlich der Zulässigkeit von Sonderbeschlüssen benachteiligter Aktionäre, eine weitere Klarstellung, dass die Schaffung der Mehrstimmrechtsaktien durch Ausübung genehmigten Kapitals unzulässig ist, und die Konkretisierung der Obergrenzen für die Stimmrechtsmacht in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Überzeugend sind zudem die Überlegungen zur Ausgestaltung der sunset clauses, zur Erweiterung der gegenständlichen Beschränkungen in Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E sowie zu den Transparenzvorgaben in Art. 6 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Zwei Vorschläge des DAV-Handelsausschusses sind dagegen bedenklich: die erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrstimmrechtsaktien-RL und die Streichung der „Klimaschutz-Regelung“ in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E.

Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL zwischen Mindest- oder Vollharmonisierung

Nach dem bisherigen Konzept der EU-Kommission soll die Mehrstimmrechtsaktien-RL nur insoweit einen Harmonisierungsdruck erzeugen, als Mehrstimmrechtsaktienstrukturen lediglich für Aktiengesellschaften geöffnet werden sollen, die eine Notierung auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben (vgl. Art. 4 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E). Werden die Aktien bereits auf einem KMU-Wachstumsmarkt oder einem anderen Handelsplatz gehandelt oder will der (künftige) Emittent die Aktien von vornherein in einem anderen Marktsegment als KMU-Wachstumsmarkt – etwa im geregelten Markt – platzieren, können die Mitgliedstaaten die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen gem. Art. 3 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E zulassen, müssen es aber nicht. Kein Zwang zur Zulassung der Mehrstimmrechtsaktien gilt ferner für geschlossene Aktiengesellschaften; auch insoweit folgt der Richtlinienentwurf dem Konzept der Mindestharmonisierung (vgl. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30: große Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten).

Dagegen schwebt dem DAV-Handelsrechtsausschuss eine Vollharmonisierung dahingehend vor, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für alle Aktiengesellschaften zu öffnen – und zwar unabhängig davon, ob die Aktien bereits auf einem geregelten Markt oder in einem multilateralen Handelssystem (MTF), das kein KMU-Wachstumsmarkt ist, gehandelt werden oder ob die Eigentümer der Gesellschaft überhaupt den das Börsenparkett betreten möchten (vgl. S. 9 ff. der Stellungnahme; für Erstreckung auf alle MTF Gumpp, BKR 2023, 82, 89). Dabei vermisst der Ausschuss eine tragfähige Begründung für die Ausklammerung der Gesellschaften, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrstimmrechtsaktien-RL fallen.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in allen Kapitalmarktsegmenten

Der Vorschlag des DAV-Handelsrechtsausschusses, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften in allen Kapitalmarktsegmenten zu öffnen, klingt bei unbefangener Betrachtung verlockend, weil er einer weiteren Fragmentierung des – ohnehin unübersichtlichen – Aktien- und Kapitalmarktrechts in der Europäischen Union entgegenwirkt. Zudem will der Ausschuss offenbar erreichen, dass die Kapitalmarktteilnehmer mit den Füßen darüber abstimmen, ob sie Unternehmen mit einer „one share, one vote“-Kultur oder mit einer Mehrstimmrechtsaktienstruktur für vorzugswürdig halten (zur Einstellung der Investoren und Stimmrechtsberater vgl. Denninger, DB 2022, 2329, 2334; Kuthe, AG 2023, R28, R29; Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 43; von der Linden/Wilk, NZG 2023, 193). In Zeiten eines übergreifenden Paternalismus wirkt die damit verbundene Liberalisierungsbrise erfrischend.

Dennoch geht die Kritik an der Harmonisierungskonzeption der EU-Kommission zu weit. Die Kommission versteht die Zulassung von Mehrstimmrechtsaktienstrukturen augenscheinlich als ein Instrument, um kleine und mittlere Unternehmen an den öffentlichen Kapitalmarkt zu locken und damit ihre Finanzierungsbasis zu stärken: Die Investoren der ersten Stunde können einerseits den externen Anlegern die Beteiligung am Unternehmen ermöglichen, müssen aber andererseits keinen Machtverlust befürchten, wenn sie sich ausreichend Mehrstimmrechtsaktien sichern. Ist ein KMU bereits auf einem Handelsplatz notiert, bedarf es der Mehrstimmrechtsaktien als Lockmittel nicht mehr; insoweit ist das Konzept der EU-Kommission durchaus in sich schlüssig.

Will die Gesellschaft von vornherein ins kalte Wasser springen und eine Notierung auf einem „höherwertigen“ Marktsegment anstreben, kann die Zurückhaltung der EU-Kommission mit einem Verweis auf die kritischen Stimmen begründet werden, die vor einer allzu breiten Öffnung des Gesellschaftsrechts für Mehrstimmrechtsaktienstrukturen warnen: Die Mehrstimmrechtsaktien schaffen das Risiko, die Kontrollfunktion der Kapitalmärkte auszuhebeln und die Governance-Strukturen zu schwächen (s. nur Casper, ZHR 187 (2023), 5, 24 ff.; Denninger, DB 2022, 2329, 2331 ff.; Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893, 1899 f.). Dies relativiert die Zwangsläufigkeit, die der DAV-Handelsrechtsausschuss im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Marktsegmente vorspiegelt.

Namentlich ist die Schaffung eines level playing field, auf das der DAV-Handelsrechtsausschuss mehrfach Bezug nimmt, bei Lichte besehen nicht zwingend. Wieso sollte der Richtliniengeber den Wettbewerb zwischen den nationalen Aktienrechtsordnungen durch eine zwingende Vorgabe unterbinden, deren Daseinsberechtigung nicht unumstritten ist? Das bisherige Konzept der EU-Kommission hat – auch im Lichte des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) – den Charme, im Zeitalter der Mobilitäts-RL die Bedingungen für einen Systemwettbewerb zu schaffen, in dem beobachtet werden kann, welche Anziehungskraft Mehrstimmrechtsaktien für notierungswillige Gründer haben (s. dazu bereits Nicolussi, AG 2022, 753 Rz. 17; zur Competition of Policy Makers jüngst auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 27 ff.). Erweisen sich Rechtsordnungen, die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen generell zulassen, als überlegen, kann die EU-Kommission diesen Umstand im Rahmen der ohnehin vorgeschriebenen Überprüfung berücksichtigen und den Anwendungsbereich der Richtlinie erweitern (vgl. Gumpp, BKR 2023, 82, 89: Test; trial and error).

Nebenbei: Entscheidet sich der Richtliniengeber dafür, von der ursprünglichen Konzeption der EU-Kommission abzurücken und die Vorschläge des DAV-Handelsrechtsausschusses umzusetzen, sollte er über den Standort der Regelung nachdenken, die die Mehrstimmrechtsaktienstrukturen für Gesellschaften aller Kapitalmarktsegmente öffnet. Jedenfalls für börsennotierte Aktiengesellschaften spricht viel dafür, insoweit die Aktionärsrechte-RL zu ändern, statt die Zulässigkeit der Mehrstimmrechtsaktien in einer separaten Richtlinie zu regeln.

Mehrstimmrechtsaktienstrukturen in geschlossenen Gesellschaften

In der Sache überzeugend sind die Ausführungen des DAV-Handelsrechtsausschusses zu Mehrstimmrechtsaktiensystemen in geschlossenen Gesellschaften. Es ist in der Tat kein Grund ersichtlich, solchen Unternehmen die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien zu verbieten (s. bereits Harnos, Blog-Beitrag vom 13.12.2022; s. auch Casper, ZHR 187 (2023), 5, 30). Nur: Ist eine EU-Richtlinie der richtige Ort, um die Governance-Vorgaben für Unternehmen jenseits des Kapitalmarkts zu lockern?

Die EU-Kommission stützt ihren Vorschlag auf Art. 50 AEUV und Art. 114 AEUV. Wieso das Verbot der Mehrstimmrechtsaktien in kapitalmarktfernen Gesellschaften die Niederlassungsfreiheit einschränkt und deshalb qua Richtlinie abgeschafft werden muss, liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Auch ein Binnenmarktmarktbezug drängt sich bei geschlossenen Unternehmen nicht auf. Insoweit sollte der Richtliniengeber – ggf. mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip – an der bisherigen Konzeption festhalten und die Entscheidung den Mitgliedstaaten überlassen.

Streichung des „ESG-Artikels“

Auf S. 20 f. der Stellungnahme beschäftigt sich der DAV-Handelsrechtsausschuss mit Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E. Diese Vorschrift enthält eine Regelung für Fälle, in denen die Mehrstimmrechte ausgeübt werden, um Hauptversammlungsbeschlüsse zu blockieren, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Dass der „ESG-Artikel“ überrascht, wurde bereits im Blog-Beitrag v. 13.12.2022 näher erläutert – eine Streichung erscheint aber dennoch vorschnell.

Insbesondere verstößt Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E nicht zwingend gegen das aktienrechtliche Kompetenzsystem. Wenn der DAV-Handelsrechtsausschuss auf § 119 AktG verweist, blendet er aus, dass die deutsche Organisationsverfassung nicht alternativlos ist und die EU-Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung flexibel sind. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht verpflichtet wäre, Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. d Mehrstimmrechtsaktien-RL-E umzusetzen. Vielmehr enthält Art. 5 Abs. 2 Mehrstimmrechtsaktien-RL-E lediglich eine Liste mit optionalen Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten (ggf. in modifizierter Form) erlassen können. Im Hinblick darauf und die derzeitige Diskussion um „Say on ESG“ wirkt der Vorschlag des Ausschusses wie ein (nicht zeitgemäßer) Versuch, jeglichen Gedanken an eine Erweiterung der HV-Kompetenzen im Keim zu ersticken.