Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.

Anwaltsblog 1/2024: Wann darf ein Gericht unter Berufung auf eigene Sachkunde auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten?

Dass es nach wie vor – trotz vieler einschlägiger Urteile des BGH – zur gängigen Praxis mancher Instanzgerichte gehört, Beweisaufnahmen zu verweigern, zeigt eine aktuelle Entscheidung des BGH:

 

Der Kläger verlangt von der Beklagten Architektenhonorar. Die Beklagte hatte ein Grundstück erworben, auf dem sich ein als Bürogebäude genutztes Hochhaus und eine Tiefgarage befanden. Der Kläger erbrachte im Einzelnen streitige Planungsleistungen für den auf dem Grundstück vorgesehenen Neu- und Umbau des Gebäudes. Streitig war zwischen den Parteien, ob dem Kläger mündlich auch die Ausführungsplanung für zwei Teilprojekte (Neubau eines Wohngebäudes für studentisches Wohnen und Errichtung einer Tiefgarage) übertragen worden ist. Das Berufungsgericht (OLG Dresden) hat dem Kläger Honorar für die Ausführungsplanung nicht zugesprochen. Ihm sei es nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass er von der Beklagten in diesem Umfang konkludent beauftragt worden sei. Er habe zwar vorgetragen und durch Vorlage entsprechender Dokumente unter Beweis gestellt, dass er die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht und hierüber die Beklagte fortlaufend unterrichtet habe. Damit habe der Kläger eine Entgegennahme der Architektenleistung durch die Beklagte behauptet. Allerdings werde aus den von ihm vorgelegten Unterlagen (Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen) nicht deutlich, dass es sich dabei um eine vollständige Ausführungsplanung mit allen für die Ausführung notwendigen Einzelangaben (zeichnerisch und textlich) auf der Grundlage der Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur ausführungsreifen Lösung als Grundlage für die weiteren Leistungsphasen handele. Es fehle der Nachweis, dass die von dem Kläger erstellten Ausführungspläne so detailliert ausgearbeitet und vermessen seien, dass aus den Zeichnungen die Mengen und Massen hätten ermittelt werden können, um damit die jeweiligen Bauleistungen umsetzen zu können. Diese Beurteilung sei dem Berufungsgericht aufgrund eigener Sachkunde möglich, weshalb es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht bedürfe.

Der BGH hebt das Berufungsurteil insoweit auf. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen konkludenten Vertragsschluss über die Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung nicht nachgewiesen, beruht auf einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 286 ZPO), die zugleich das rechtliche Gehör des Klägers verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG). Zwar handelt es sich bei der Frage, in welchem Umfang der Kläger mit der Erbringung der Grundleistungen der Ausführungsplanung beauftragt wurde, um eine vom Berufungsgericht vorzunehmende Rechtsprüfung. Für die Würdigung der Gesamtumstände war für das Berufungsgericht allerdings von Bedeutung, ob der Kläger die vollständigen Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat. Diese Beurteilung betrifft eine Fachwissen voraussetzende Frage, deren Klärung einem Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zugänglich ist. Dies folgt aus den verwendeten fachsprachlichen Begriffen, aus dem Erfordernis der „notwendigen zeichnerischen und textlichen Einzelangaben“, aus der vorgeschriebenen Gestaltung der Zeichnungen nach „Art und Größe des Objekts im erforderlichen Umfang und dem Detaillierungsgrad unter Berücksichtigung aller fachspezifischen Anforderungen“, sowie aus der Koordinations- und Integrationspflicht, deren Erfüllung Kenntnisse der beteiligten Gewerke voraussetzt. Das Berufungsgericht hat sich gehörswidrig über den Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob er die Grundleistungen der Ausführungsplanung erbracht hat, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag. Das Berufungsgericht durfte den Beweisantrag auf Einholung eines Gutachtens nicht unter Hinweis auf eine eigene Sachkunde ablehnen. Es hat keine Sachkunde aufzuweisen vermocht, die es zur Beurteilung befähigen könnte, ob die für das Bauobjekt vorgelegten Pläne den technischen Anforderungen genügen, die an die zu erbringende Ausführungsplanung zu stellen sind. Allein eine längere Tätigkeit in einem Bausenat kann nicht ohne weiteres zuverlässige Kenntnisse über das – für die Prüfung der vorgelegten Ausführungsplanung auf Vollständigkeit – erforderliche bautechnische Fachwissen verschaffen.

(BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – VII ZR 17/23)

 

Fazit: Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, darf das Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn es entsprechende eigene besondere Sachkunde aufzuweisen vermag.  Das Gericht muss, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen Gelegenheit geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen.

Anwaltsblog: Kann in der Berufungsinstanz Gegenvortrag auf zulässigen neuen Vortrag der anderen Partei als verspätet zurückgewiesen werden?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob in der Berufungsinstanz Vortrag einer Partei als verspätet zurückgewiesen werden kann, den diese in Erwiderung zu neuem Vortrag gehalten hat, den die in I. Instanz siegreiche Partei nach einem Hinweis des Gerichts vorgebracht hatte:

 

Die Klägerin hatte sich verpflichtet, als „Expertin für Performance Marketing“ (Optimierung von Webseiten) die Beklagte, ein „Legal Tech – Start-Up“, im „Umfang von in Summe 96 Arbeitstagen“ auf dem Themenfeld „Marketing“ unterstützen. Die zum jeweiligen Monatsende fällige Vergütung betrug 1.500 € pro Tag. Nach Unstimmigkeiten kündigte die Klägerin den Vertrag und klagte Restvergütung ein. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 66.187,50 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat die Vergütung mit pro Tag 1.500 € und nicht, wie von der Klägerin abgerechnet, mit pro Tag 1.500 € zuzüglich Umsatzsteuer als vereinbart angesehen. Des Weiteren hat es einige Positionen vom geltend gemachten Anspruch abgesetzt. Das Bestreiten der anderen von der Klägerin angeführten Rechnungspositionen durch die Beklagte mit Nichtwissen hat es als unzulässig und insoweit das Vorbringen der Klägerin als zugestanden angesehen. Das Berufungsgericht hat die Parteien auf Folgendes hingewiesen: „Die Beklagte hat die Leistungen bestritten; zu einzelnen Tagen hat sie konkrete Beanstandungen vorgebracht (Anlage B 1), im Übrigen die Leistungserbringung mit Nichtwissen bestritten. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob die Klägerin hinreichend vorgetragen hat. Sie hat kein einziges Detail dargelegt, weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die ‚Beratung‘ erfolgt sein soll. Andererseits ist aber auch fraglich, ob die Beklagte die Leistungen mit Nichtwissen bestreiten darf nach § 138 Abs. 4 ZPO. Denn es könnte ihr zumutbar sein zu prüfen, ob sie oder in ihrem Verantwortungsbereich tätige Personen an den abgerechneten Tagen eine ‚Beratung‘ der Klägerin erhalten haben. Um Stellungnahme binnen drei Wochen wird gebeten. “ Mit Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Klägerin „zur Detaillierung der Klageforderung“ erstmals die Anlage K 6 vorgelegt, mit der die ihrem Vortrag zufolge erbrachten Leistungen konkretisiert wurden; mit Schriftsatz vom 19. August 2022 hat die Beklagte erstmals die abgerechneten Leistungen der Klägerin detailliert bestritten. Die Berufung der Beklagten hat nur in geringfügigem Umfang Erfolg gehabt; in der Hauptsache hat das Berufungsgericht den Verurteilungsbetrag auf 63.468,75 € herabgesetzt. Die Klägerin habe die Entstehung der abgerechneten Vergütung für Beratungsleistungen hinreichend dargelegt. Hingegen sei das Bestreiten der Leistungserbringung durch die Beklagte prozessual ungenügend. Eine Erklärung mit Nichtwissen sei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen seien. Die Klägerin habe bereits in der Klageschrift unerwidert vorgetragen, sie habe der Beklagten mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 die im Berufungsverfahren als Anlage K 6 eingereichte Übersicht mit weiteren Details über die erbrachten Leistungen übersandt. Dies habe die Beklagte erstinstanzlich nicht bestritten, im Berufungsverfahren habe ihr Geschäftsführer erklärt, er wisse nicht mehr, wann er diese Übersicht erstmals gesehen habe. Sofern hierin ein Bestreiten der vorgerichtlichen Kenntnis von der Übersicht liegen sollte, wäre es im Berufungsverfahren jedenfalls nicht zuzulassen, da kein Grund für die Zulassung dieses neuen Verteidigungsmittels gemäß § 531 Abs. 2 ZPO vorgetragen oder sonst ersichtlich wäre. Wenn der Beklagten aber die Übersicht mit den weiteren Details insbesondere hinsichtlich der Rechnung vom 20. November 2018 vorgerichtlich bekannt gewesen sei, wäre ein Vortrag, der über ein Bestreiten mit Nichtwissen hinausgehe, tatsächlich unschwer möglich und prozessual auch gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erforderlich gewesen. Das erstmals im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 19. August 2022 erfolgte detaillierte Bestreiten der abgerechneten Leistungen seitens der Beklagten sei als neues Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unbeachtlich.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es ihr erstmals im Berufungsverfahren erfolgtes detailliertes Bestreiten der von der Klägerin abgerechneten Leistungen zu Unrecht nach § 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO nicht zugelassen hat, obgleich deren entsprechender (Gegen-)Vortrag seinerseits – nach einem Hinweis des Gerichts – erst in der Berufungsinstanz weiter konkretisiert worden war. Eine in erster Instanz siegreiche Partei – hier die Klägerin – darf darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis erteilt, wenn es in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Außer zur Hinweiserteilung ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall auch verpflichtet, der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen sowie gegebenenfalls auch Beweis anzutreten. Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Das Gericht darf allerdings nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Ist in einem nach Erteilung eines richterlichen Hinweises eingegangenen Schriftsatz des Berufungsbeklagten neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff enthalten, ist der Schriftsatz dem Berufungskläger mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Tritt dieser dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel des Berufungsbeklagten entgegen, ist sein Vorbringen gleichfalls zu berücksichtigen.    Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt es, dass das Berufungsgericht das mit Schriftsatz vom 19. August 2022 „erfolgte detaillierte Bestreiten“ des Inhalts dieser Liste für prozessual unbeachtlich erklärt hat. Zwar ist dieser Sachvortrag erstmals im Berufungsrechtszug gehalten worden. Konkret veranlasst worden ist der neue Vortrag jedoch durch den Hinweis des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2022 und die sich daran anschließende erstmalige Vorlage der Liste im Prozess mit Schriftsatz der Klägerin vom 17. August 2022. Aus besonderen in der Verfahrensordnung angelegten Gründen – § 531 ZPO – durfte der neue Vortrag daher nicht unberücksichtigt bleiben.

(BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – III ZR 184/22)

 

Fazit: Bringt eine Partei auf einen richterlichen Hinweis ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel vor, ist dies der anderen Partei mitzuteilen und das Vorbringen, mit dem diese dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel entgegentritt, gleichfalls zu berücksichtigen.

Anwaltsblog: Keine Vorfrist für Rechtsmittelbegründung notiert – keine Wiedereinsetzung!

Wieder einmal musste der BGH feststellen, dass zu den notwendigen organisatorischen Vorkehrungen eines Anwaltsbüros die allgemeine Anordnung gehört, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren:

Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. Februar 2022 zugestellte Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 hat ihr Prozessbevollmächtigter die Berufung begründet und zugleich Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt. Die Säumnis beruhe auf einem Versehen seiner Angestellten. Diese habe gemäß erteilter Weisung zwar die Berufungsfrist in den Fristenkalender eingetragen, allerdings aus im Nachhinein nicht mehr eruierbaren Gründen nicht auch die Berufungsbegründungsfrist, obwohl beide Fristen als „notiert“ und damit als im Fristenkalender eingetragen vermerkt worden seien. Der Posteingang sei über das beA erfolgt und somit von ihm direkt bearbeitet worden. Nach Kenntnisnahme des erstinstanzlichen Urteils seien durch ihn die Fristen für die Berufung und die Berufungsbegründung notiert worden. Die Angestellte habe dann beide Fristen in den Fristenkalender eintragen sollen. Bei Einlegung der Berufung habe er sich noch einmal vergewissert, dass hinter beiden notierten Fristen ein Eintragungsvermerk aufgebracht worden sei. Er sei deshalb davon ausgegangen, dass auch die Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß eingetragen worden sei. Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Hat eine Partei die Berufungsbegründungsfrist versäumt, ist ihr nach § 233 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war. Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO), das Verschulden sonstiger Dritter hingegen nicht. Fehler des Büropersonals hindern eine Wiedereinsetzung deshalb nicht, solange den Prozessbevollmächtigten kein eigenes Verschulden etwa in Form eines Organisations- oder Aufsichtsverschuldens trifft. Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet. So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin beruht. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter die Notierung von Vorfristen angeordnet hatte. Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, dass ihr Prozessbevollmächtigter diese Vorgaben bei der Organisation seiner Kanzlei eingehalten hatte.

(BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2023 – VI ZB 53/22)

Fazit: Eine wirksame Fristenkontrolle erfordert die Notierung von Vorfristen. In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist im Fristenkalender zu notieren, liegt ein einer Prozesspartei nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten.

BGH: Wirksamkeit einer Zustellung sowie zur Terminsverlegung wegen Krankheit

Im Rahmen eines Verfahrens wegen des Widerrufes ihrer Zulassung als Rechtsanwältin hatte die Klägerin in der Berufungsinstanz vor dem BGH versucht, die Wirksamkeit einer Zustellung in Frage zu stellen. Bei der Beurteilung dieser Frage führt der BGH (Beschl. v. 22.8.2023 – AnwZ (Brfg) 14/23) einiges zur Wirksamkeit einer Zustellung sowie zum Inhalt der Zustellungsurkunde aus, was über das konkrete Verfahren hinaus von allgemeinem Interesse ist:

In der Zustellungsurkunde selbst war beurkundet worden, dass der später angefochtene Bescheid der Klägerin persönlich unter ihrer Privatanschrift übergeben wurde. Allerdings war auf dem der Klägerin übergebenen Umschlag das Datum der Zustellung nicht vermerkt worden. Letztlich ist dies aber unschädlich. Der BGH hat zwar erst vor Kurzem entschieden, dass bei einer Ersatzzustellung durch Einwurf gemäß § 180 S. 3 ZPO das Datum der Zustellung zwingend zu vermerken ist. Wenn es fehlt, gilt das Schriftstück erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt. Dies ergibt sich aus § 180 S. 3 ZPO. Demgegenüber macht jedoch ein Verstoß gegen § 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO die dort geregelte Zustellung gerade nicht unwirksam.

Das Fehlen des erwähnten Umstandes lässt darüber hinaus sogar die Beweiskraft der Zustellungsurkunde selbst unberührt! Die Klägerin musste daher hier gemäß § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis für die Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsache antreten und führen. Dies hatte die Klägerin versucht, der BGH hat jedoch alle insoweit aufgestellten Behauptungen zurückgewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vortrag, Postzustellungen seien bei ihr stets sehr unzuverlässig erfolgt, zur Widerlegung der Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht ausreicht, da sich aus dieser allgemeinen Behauptung keine Falschbeurkundung in einem konkreten Fall herleiten lassen kann. Auch mit der pauschalen Behauptung, ihr während des gesamten Tages anwesender Ehemann habe von der Zustellung nichts bemerkt, kann die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht widerlegt werden. Eine Zustellung nimmt nur wenige Augenblicke in Anspruch und muss nicht zwangsläufig von jedem in der Wohnung Anwesenden bemerkt werden, zumal dieser während der Zustellung z. B. das Badezimmer benutzt haben könnte. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Klägerin zum Zustellungszeitpunkt zwar krank, jedoch nicht bettlägerig war, mithin grundsätzlich dazu in der Lage war, eine Zustellung entgegenzunehmen.

Die Klägerin hatte darüber hinaus noch einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör gerügt, weil ihrem Terminsverlegungsantrag in der Vorinstanz nicht nachgekommen war. Insoweit weist der BGH darauf hin, dass bei einem Verlegungsantrag wegen Erkrankung die Gründe so anzugeben und durch Vorlage eines ärztlichen Attestes zu untermauern sind, dass das Gericht selbst beurteilen kann, ob eine Verhandlungsunfähigkeit vorliegt. Dies hatte die Klägerin hier versäumt.

Fazit: Wird bei der Zustellung durch Übergabe das Datum derselben nicht auf dem Umschlag vermerkt, lässt dies die Wirksamkeit der Zustellung unberührt.

Anwaltsblog: Wird ein erster Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht begründet, darf der Rechtsanwalt nicht auf Bewilligung vertrauen!

Mit den Anforderungen an den ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hatte sich erneut der BGH zu befassen:

Der Beklagte hat gegen ein ihm am 22. Dezember 2022 zugestelltes Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2023 hat sein Prozessbevollmächtigter ohne Begründung beantragt, die Frist zur Berufungsbegründung um einen Monat bis zum 22. März 2023 zu verlängern. Noch am selben Tag hat der Vorsitzende den Beklagtenvertreter aufgefordert, seinen Fristverlängerungsantrag unverzüglich zu begründen. Versehentlich wurde am 22. Februar 2023 jedoch nur das Begleitschreiben ohne die Verfügung per beA übersandt. Nachdem in der Folgezeit keine Reaktion des Beklagten erfolgt war, hat der Vorsitzende des Berufungssenats den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen. Den darauf gestellten Wiedereinsetzungsantrag hat das OLG zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat dem Beklagten zu Recht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und seine Berufung als unzulässig verworfen. Denn die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung beruht auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Ein Berufungsführer darf im Allgemeinen darauf vertrauen, dass einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn dieser auf erhebliche Gründe gestützt wird. Das setzt die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung voraus, auch wenn an diese bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen und beispielsweise der bloße Hinweis auf eine Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten ausreicht, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Entspricht der Fristverlängerungsantrag diesen Anforderungen und darf der Prozessbevollmächtigte deshalb mit der erstmaligen Verlängerung der Begründungsfrist mit großer Wahrscheinlichkeit rechnen, ist er nicht gehalten, sich vor Ablauf der ursprünglichen Frist durch Nachfrage beim Berufungsgericht zu vergewissern, ob dem Fristverlängerungsgesuch stattgegeben wurde. Dagegen kann der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers nicht damit rechnen, dass seinem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wird, wenn in diesem kein erheblicher Grund für die Gewährung einer Fristverlängerung dargelegt wird, sondern der Antrag jeglicher Begründung zur Notwendigkeit einer Fristverlängerung entbehrt. In einem solchen Fall muss der Prozessbevollmächtigte damit rechnen, dass der Senatsvorsitzende in einer nicht mit erheblichen Gesichtspunkten begründeten Verlängerung der Frist eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen wird. Die ihm nach diesen Maßgaben obliegenden Sorgfaltspflichten hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten nicht eingehalten. In dem Antrag vom 21. Februar 2023 sind Gründe für die Erforderlichkeit einer Fristverlängerung um einen Monat nicht dargetan. Dem Schriftsatz ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen die Verlängerung begehrt worden ist. Der Prozessbevollmächtigte, dessen Verschulden sich der Beklagte zurechnen lassen muss, durfte deshalb nicht darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung gewähren werde, sondern wäre gehalten gewesen, sich durch Nachfrage beim Gericht zu vergewissern, ob die Verlängerung wie beantragt gewährt werde.

Das gilt auch, nachdem dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten am letzten Tag der Frist, einen Tag nach Einreichung seines Antrags, ein als Begleitschreiben erkennbares Schreiben des Gerichts übersandt wurde, dem das darin in Bezug genommene Dokument nicht beigefügt war. Denn es war nicht ersichtlich, ob es sich dabei um einen Hinweis auf die fehlende Begründung, die Gewährung oder die Ablehnung der beantragten Fristverlängerung handelte.

(BGH, Beschluss vom 14. November 2023 – XI ZB 10/23)

 

Fazit: Der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers darf nicht damit rechnen, dass seinem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wird, wenn in diesem kein erheblicher Grund für die Gewährung einer Fristverlängerung dargelegt wird, sondern der Antrag jeglicher Begründung zur Notwendigkeit einer Fristverlängerung entbehrt. Der Hinweis auf Arbeitsüberlastung reicht zur Begründung aus (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2017 – VIII ZB 69/16 –, MDR 2017, 895).

Anwaltsblog: Welche Pflichten treffen den Rechtsanwalt, der selbst einen fristgebundenen Schriftsatz aus dem beA versendet?

Übermittelt ein Rechtsanwalt einen fristgebundenen Schriftsatz per beA, entsprechen seine Sorgfaltspflichten denjenigen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Dabei gehört die korrekte Eingabe der Empfängernummer zu seinen Sorgfaltsanforderungen. Ob hiervon ausgehend eine Prozessbevollmächtigte, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet ist, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Mit einem an das Landgericht Berlin adressierten Schriftsatz hat die Klägerin Berufung gegen das Urteil des AG Berlin-Schöneberg eingelegt. Dieser Schriftsatz ist als elektronisches Dokument über das beA an das Amtsgericht versandt worden, wo er am letzten Tag der Rechtsmittelfrist -eingegangen ist. Beim (zuständigen) Landgericht ist er nach Weiterleitung durch das Amtsgericht erst nach Fristablauf eingegangen. Ihren Wiedereinsetzungsantrag hat die Klägerin wie folgt begründet: Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsschrift am Vormittag des Tags des Fristablaufs diktiert und nach Vorlage des Diktats und Kontrolle des Schriftsatzes eigenhändig unterschrieben. Sie habe anschließend eine Mitarbeiterin angewiesen, die Berufungsschrift sofort in ihr beA für den Versand einzustellen. Gegen 14 Uhr habe die Kanzleimitarbeiterin ihr mitgeteilt, die beA-Nachricht sei mit Ausnahme der qualifizierten elektronischen Signatur sofort versandfertig an das Berufungsgericht. Die Prozessbevollmächtigte habe sich sofort in ihren beA-Account eingeloggt, die Berufungsschrift sowie die Anlage jeweils einzeln mit ihrer qualifizierten elektronischen Signatur versehen und den „Senden-Button gedrückt“. Anschließend habe sie die Akte wieder an die Angestellte mit der Anweisung übergeben, den Versand zu überprüfen. Auf spätere Nachfrage habe diese versichert, der Versand sei ordnungsgemäß erfolgt. Tatsächlich aber sei durch ein unerklärliches Versehen der Mitarbeiterin beim Einstellen der beA-Nachricht in das Postfach der Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Auswahl des Empfängers über die globale Adressliste das Amtsgericht Schöneberg anstelle des Landgerichts Berlin ausgesucht worden, obwohl die Berufungsschrift (richtig) an das Landgericht adressiert gewesen sei.

Der Wiedereinsetzungsantrag hat keinen Erfolg. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte, als sie die Berufungsschrift selbst über das beA versandte, ohne Weiteres und rechtzeitig die Fehlerhaftigkeit der zuvor von ihrer Mitarbeiterin getroffenen Auswahl des Amtsgerichts als Empfänger der Nachricht erkennen können und korrigieren müssen. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Entschließt er sich, einen fristgebundenen Schriftsatz selbst bei Gericht einzureichen, hat er auch in diesem Fall geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen fristgerechten Eingang zu gewährleisten.    Hiervon ausgehend war die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vorgenommen hatte, verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihr durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als dem richtigen Empfangsgericht adressiert ist. Dies hat sie nicht mit der gebotenen Sorgfalt getan. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin konnte beim Versand der Berufungsschrift aus der beA-Webanwendung den Adressaten ihrer Nachricht – ähnlich einer E-Mail – dem deutlich sichtbaren Empfängerfeld entnehmen. Für sie war somit erkennbar, wohin sie die beA-Nachricht schickt, wenn sie, wie von ihr ausgeführt, auf den „Senden-Button gedrückt“ hat. Es musste ihr ohne Weiteres auffallen, dass es sich bei dem ausgewählten Amtsgericht nicht um das zuständige Gericht für die Einlegung einer Berufung handeln konnte. Zudem muss ein Rechtsanwalt, auch soweit er sich grundsätzlich auf seine Mitarbeiter verlassen kann, selbst tätig werden und für die ordnungsgemäße Erfüllung der betreffenden Aufgabe Sorge tragen, wenn für ihn bei gehöriger Aufmerksamkeit und Sorgfalt erkennbar ist, dass seinem Büropersonal im Rahmen des ihm übertragenen Aufgabenkreises Fehler unterlaufen sind oder es Anweisungen nicht beachtet hat. Dies ist hinsichtlich des von der Kanzleimitarbeiterin im beA ersichtlich unzutreffend ausgewählten erstinstanzlichen Gerichts als Adressat für die Berufungsschrift der Fall. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte ohne weiteres – insbesondere ohne Abgleich mit dem Schriftsatz – und rechtzeitig erkennen können, dass ihre Mitarbeiterin nicht das richtige Gericht im Empfängerfeld der beA-Nachricht ausgewählt hatte, und hätte dies vor dem Absenden korrigieren müssen.

(BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 – VIII ZB 60/22)

 

Fazit: Ein Prozessbevollmächtigter, der den Versand der Berufungsschrift über das beA selbst vornimmt, ist verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, dass der – von ihm durchgeführte – Sendevorgang an das zuständige Berufungsgericht als das richtige Empfangsgericht adressiert ist.

Anwaltsblog: Wann beginnt bei einer Urteilsberichtigung die Berufungsfrist?

Wann beginnt die Rechtsmittelfrist, wenn die dem Rechtsmittelführer zugestellte Ausfertigung des Urteils einen Mangel aufweist und das Gericht auf entsprechenden Hinweis des Rechtsmittelführers diesem – nach Rückgabe der mangelbehafteten Ausfertigung – eine mit dem Original des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zustellt? Diese Frage stellte sich dem X. Zivilsenat:

Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde am 2. September 2021 eine beglaubigte Abschrift eines Urteils des Patentgerichts zugestellt, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen. Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle, und bat um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei. Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und mit dem Original übereinstimmenden Abschriften zugestellt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am 27. September 2021 zugestellt worden. Ihre Berufungsschrift ist am 27. Oktober 2021 beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist.

Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat eingelegt worden ist. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist hat im Streitfall mit der Zustellung vom 2. September 2021 begonnen. Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte. Entscheidend ist, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist, oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist. Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen. Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Die am 2. September 2021 in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am 27. Oktober 2021 nicht eingehalten worden.

(BGH, Urteil vom 17. Oktober 2023 – X ZR 96/21)

 

Fazit: Die Berichtigung eines Urteils gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit hat grundsätzlich keinen Einfluss auf Beginn und Lauf der Rechtsmittelfrist. Gegen das berichtigte Urteil findet nur das gegen das ursprüngliche Urteil zulässige Rechtsmittel statt, und die Frist zu seiner Einlegung läuft (schon) von der Zustellung der unberichtigten Urteilsfassung an. Den Parteien wird zugemutet, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels eine offenbare Unrichtigkeit des Urteils zu berücksichtigen, schon bevor dieses gemäß § 319 ZPO berichtigt wird (BGH, Beschluss vom 9. November 2016 – XII ZB 275/15 –, MDR 2017, 228).

Anwaltsblog: (Klassischer) beA-Anwendungsfehler – sicherer Übermittlungsweg nicht gewahrt!

Elektronische Dokumente, die von Rechtsanwälten an Gerichte übermittelt werden, müssen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden, wie der Kartellsenat des BGH betont:

Eine am letzten Tag der Frist als elektronisches Dokument übermittelte Beschwerdebegründung wurde nicht qualifiziert, sondern lediglich einfach signiert. Versendet wurde sie nicht aus dem beA des Rechtsanwalts B oder des Rechtsanwalts C, die beide das Dokument einfach signiert haben, sondern aus dem beA der Rechtsanwältin D, die das Dokument nicht signiert hat. Ein (einfach) signiertes Dokument muss auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 130a Abs. 3 ZPO). Als sicher gilt gemäß § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO der Übermittlungsweg zwischen einem beA und der elektronischen Poststelle des Gerichts. Voraussetzung ist, dass die den Schriftsatz verantwortende Person das Dokument selbst versendet. Weil dies nicht der Fall war und die Begründung somit nicht der gesetzlichen Form entspricht, wurde die Begründungsfrist nicht gewahrt.

Es ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Partei muss sich das Verschulden von Rechtsanwältin D zurechnen lassen. Gemäß § 85 Abs. 2 ZPO steht das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich. Als Bevollmächtigter ist auch ein Rechtsanwalt anzusehen, der als Angestellter oder freier Mitarbeiter des Verfahrensbevollmächtigten von diesem mit der selbstständigen Bearbeitung eines Rechtsstreits betraut worden ist und der nicht als bloßer Hilfsarbeiter in untergeordneter Funktion tätig geworden ist. Nach diesem Maßstab ist Rechtsanwältin D als Bevollmächtigte anzusehen. Rechtsanwältin D hat an der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde umfangreich mitgewirkt und wurde von Rechtsanwalt B zur Einreichung der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung unterbevollmächtigt. Danach hätte Rechtsanwältin D die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung signieren und aus ihrem beA versenden müssen. Sie hätte also nach außen hin den Inhalt der Beschwerdebegründung verantworten sollen. Diese Tätigkeit geht über eine bloße Hilfstätigkeit hinaus. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte Rechtsanwältin D erkennen müssen, dass die Einreichung eines nicht von ihr signierten Schriftsatzes über ihr beA nicht den Formerfordernissen des § 130a Abs. 3 ZPO entspricht.

Ein Wiedereinsetzungsgrund ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer für das Versäumnis mitursächlichen Pflichtverletzung des Gerichts, weil der gerichtliche Hinweis auf die Fristversäumnis erst ca. 1,5 Jahre nach Einreichung des Schriftsatzes erfolgt ist. Die Fristversäumnis ist nicht deshalb als unverschuldet anzusehen, weil durch die verzögerte Hinweiserteilung die für eine Wiedereinsetzung regelmäßig erforderliche Glaubhaftmachung erschwert worden wäre, was im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG nicht der Prozesspartei angelastet werden darf. Es kann dahinstehen, ob die Verzögerung eines gerichtlichen Hinweises im besonderen Einzelfall dazu führen kann, dass eine Glaubhaftmachung der den Wiedereinsetzungsantrag begründenden Tatsachen nicht erforderlich ist. Denn der Wiedereinsetzungsantrag ist nicht aufgrund einer fehlenden Glaubhaftmachung der für eine Wiedereinsetzung relevanten Tatsachen unbegründet. Die schuldhafte Pflichtverletzung der Rechtsanwältin D steht vielmehr fest. Der Verfahrensbevollmächtigte eines Beteiligten muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. In seiner eigenen Verantwortung liegt es, das Dokument gemäß den gesetzlichen Anforderungen entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen oder das einfach signierte elektronische Dokument auf einem sicheren Übermittlungsweg persönlich einzureichen, damit die Echtheit und die Integrität des Dokuments wie bei einer persönlichen Unterschrift gewährleistet sind. Dieser Verantwortung sind weder die Rechtsanwälte B und C, die die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung einfach signiert haben, noch Rechtsanwältin D, die den Schriftsatz ohne ihn zu signieren über ihr beA eingereicht hat, nachgekommen.

(BGH, Beschluss vom 12. September 2023 – KVZ 64/21)

Fazit: Jeder beA-Nutzer muss sich die beiden Möglichkeiten der Übermittlung elektronischer Dokumente an Gerichte vergegenwärtigen. Wenn das Dokument nicht qualifiziert signiert ist, reicht die einfache Signatur (= Unterschrift) nur aus, wenn das Dokument aus dem beA des Signierenden versendet wird.

Anwaltsblog: beA – Rechtsmittel unwirksam wegen falschen Dateiformats

Welche Rechtsfolgen die Übermittlung einer Rechtsmittelschrift im falschen Dateiformat hat, musste das Bundesverwaltungsgericht klären:
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihm am 30. Juni 2022 zugestellten Beschluss am 1. Juli 2022 beim Sächsischen OVG Beschwerde durch Übermittlung eines maschinenschriftlich signierten Beschwerdeschriftsatzes im Dateiformat „docx“ über das besondere Anwaltspostfach eingelegt. Ein weiteres, handschriftlich unterzeichnetes Exemplar der Beschwerdeschrift ist postalisch am 4. Juli 2022 beim OVG eingegangen. Das OVG hat die Beschwerde am 13. Juli 2022 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Der dort zuständige Berichterstatter hat den Prozessbevollmächtigten des Klägers unter dem 28. Juli 2022 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde unwirksam eingegangen sei, weil sie im docx-Format und damit nicht in dem nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 ERVV vorgesehenen Format übermittelt worden sei, das Dokument aber als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen gelte, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreiche und glaubhaft mache, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimme. Darauf hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht reagiert.
Die Beschwerde ist unzulässig, weil sie innerhalb der Beschwerdefrist von zwei Wochen nicht formgerecht eingereicht worden ist. Bis Fristablauf ist die Beschwerde weder beim OVG, dessen Entscheidung angefochten wird, noch beim BverwG als zuständigem Beschwerdegericht formgerecht eingereicht worden. Die postalische Einlegung der Beschwerde durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 4. Juli 2022 ist unwirksam. Denn nach dem am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Bei Nichteinhaltung ist die Prozesserklärung nicht wirksam. Auch die elektronische Einreichung der Beschwerdeschrift beim OVH durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 1. Juli 2022 entspricht nicht den Formvorgaben. Zwar war die Beschwerdeschrift mit dem maschinenschriftlichen Namenszug (einfach) signiert und wurde vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach (§ 31a BRAO) und damit auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 55a Abs. 4 Nr. 2 VwGO an die elektronische Poststelle des Gerichts gesandt. Jedoch ist der elektronisch übermittelte Beschwerdeschriftsatz nicht zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet, weil er im falschen Dateiformat eingereicht wurde. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung) ist das elektronische Dokument im Dateiformat PDF zu übermitteln. Grund hierfür ist, dass sich dieses Dateiformat im Rahmen des elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehrs zum Standardformat entwickelt hat und für die Kommunikation im elektronischen Rechtsverkehr besonders geeignet ist. Die Festlegung eines einheitlichen Dateiformates ermöglicht die reibungslose Weiterverarbeitung und elektronische Aktenführung durch die Gerichte, Behörden und anderen Teilnehmer am elektronischen Rechtsverkehr. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV ist die Übermittlung des elektronischen Dokuments im Dateiformat PDG zwingend.
Der Formmangel ist auch nicht geheilt worden. Ist ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet, ist dies dem Absender unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs unverzüglich mitzuteilen (§ 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO). Das Dokument gilt als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt (§ 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO). Trotz Hinweises ist das nicht geschehen.
(Beschluss des Fachsenats vom 4. Oktober 2022 – BVerwG 20 F 15.22)

Fazit: Auch die anderen Verfahrensordnungen kennen eine entsprechende Heilungsmöglichkeit. Voraussetzung ist jeweils, dass der Absender das elektronische Dokument „unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt.“ (vgl. § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO).