Anwaltsblog 7/2024: Anforderung an die Glaubhaftmachung der Ersatzeinreichung bei Störung des beA

Schriftsätze, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, sind nach § 130d Satz 1 ZPO als elektronisches Dokument zu übermitteln. Ist dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt nach § 130d Satz 2 ZPO die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist nach § 130d Satz 3 ZPO bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Mit den Anforderungen an die Glaubhaftmachung hatte sich wieder einmal der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2024 – I ZB 51/23):

 

Nachdem die Klägerin gegen das am 20. Februar 2023 zugestellte Urteil des Landgerichts fristgemäß Berufung eingelegt hatte, hat sie mit einem am 20. April 2023 um 16:37 Uhr per Telefax eingereichten Schriftsatz beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. In einem zeitgleich versandten weiteren Schriftsatz hat sie ausgeführt, eine Versendung des Fristverlängerungsantrags über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) sei nicht möglich. Es bestehe seit 9:00 Uhr „eine Störung von beA im Bundesgebiet Nordrhein-Westfalen“. Zur Glaubhaftmachung hat sie einen als „Störmeldung der BRAK“ bezeichneten zweiseitigen Ausdruck der am 20. April 2023 auf der Internetseite bea.expert veröffentlichten Informationen vorgelegt. Auf dieser Internetseite werden einerseits von Nutzern gemeldete Störungen erfasst, andererseits Inhalte der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) zu aktuellen beA-Störungen wiedergegeben. Der von der Klägerin vorgelegte Ausdruck der Internetseite bea.expert beginnt mit der Mitteilung zum Stand vom 20. April 2023 16:19 Uhr: „keine beA-Störung gemeldet oder festgestellt.“ Weiter ist auf dem Ausdruck eine Störungsmeldung der BRAK, veröffentlicht auf der Internetseite https://portal.beasupport.de/→Aktuelles, Stand 16:00 Uhr, wiedergegeben, nach der im Land Nordrhein-Westfalen im Justizbereich eine Störung seit dem 19. April 2023, 14:12 Uhr, bestehe.

Das Berufungsgericht hat die Berufung verworfen. Sie sei unzulässig, weil sie nicht innerhalb der hierfür geltenden zweimonatigen Frist begründet worden sei. Dem per Telefax am 20. April 2023 eingegangenen Fristverlängerungsantrag habe nicht entsprochen werden können, da er als elektronisches Dokument zu übermitteln gewesen wäre. Die Voraussetzungen einer zulässigen Ersatzeinreichung nach § 130d Satz 2 und 3 ZPO lägen nicht vor. Zwar sei durch eine Mitteilung des Zentralen IT-Dienstleisters der Justiz in Nordrhein-Westfalen gerichtsbekannt, dass das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) vom 19. April 2023 um 14:12 Uhr bis zum 21. April 2023 um 21:20 Uhr in Nordrhein-Westfalen gestört gewesen sei. Dies habe die Klägerin jedoch nicht von der in § 130d Satz 3 ZPO normierten Obliegenheit entbunden, die vorübergehende Unmöglichkeit der Übermittlung eines elektronischen Dokuments unverzüglich glaubhaft zu machen. Die Darstellung im Schriftsatz der Klägerin vom 20. April 2023 entspreche nicht ansatzweise den Anforderungen des § 130d Satz 3 ZPO. Die der Ersatzeinreichung beigefügte Erklärung, dass ausweislich der beigefügten Störmeldung der Bundesrechtsanwaltskammer eine Störung des beA im Gebiet von Nordrhein-Westfalen vorliege, weshalb eine Versendung über das beA nicht möglich sei, enthalte keine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Zudem sei für eine Glaubhaftmachung erforderlich, dass der Anwalt die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versichere, woran es im Schriftsatz vom 20. April 2023 ebenfalls fehle.

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Berufungsgericht hat der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht verwehrt. Die Klägerin war ohne Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist verhindert (§ 233 ZPO). Sie durfte darauf vertrauen, dass ihr am 20. April 2023 per Telefax übermittelter Antrag, die Berufungsbegründungsfrist gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO um einen Monat zu verlängern, nicht abgelehnt werde. Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. So verhielt es sich hier. Ohne Einwilligung des Gegners kann die Frist zur Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit seinem Fristverlängerungsantrag einen konkreten Grund für den Antrag – die Erforderlichkeit der vorrangigen Bearbeitung anderweitiger fristgebundener Angelegenheiten nach einer mehrtätigen Ortsabwesenheit des alleinigen Sachbearbeiters – geltend gemacht. Darin liegt ein erheblicher Grund, der eine Fristverlängerung regelmäßig rechtfertigt.

Der Fristverlängerungsantrag ist auch wirksam gestellt worden. Eine elektronische – und damit formgerechte – Übermittlung des Verlängerungsantrags vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ist zwar nicht erfolgt. Allerdings waren entgegen der Auffassung des OLG die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung gemäß § 130d Satz 2 und 3 ZPO erfüllt. Das OLG hat bereits zu Unrecht angenommen, der Schriftsatz der Klägerin vom 20. April 2023 enthalte keine ausreichende Schilderung der einen Ausnahmefall nach § 130d Satz 2 ZPO begründenden Tatsachen, nach denen es aus vorübergehenden Gründen technisch unmöglich gewesen sei, den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist elektronisch zu übermitteln. Aus dem Inhalt des per Telefax eingereichten Schriftsatzes geht unmissverständlich hervor, dass die Übersendung des Fristverlängerungsgesuchs per Telefax erfolge, weil eine Versendung des Fristverlängerungsantrags auf elektronischem Weg über das beA nicht möglich gewesen sei. Soweit der Klägervertreter in dem per Telefax übermittelten Schriftsatz angegeben hat, es liege eine Störung des beA vor, trifft dies ausweislich der auf der Internetseite bea.expert veröffentlichten Informationen, die sich aus dem mit diesem Schriftsatz vorgelegten Ausdruck ergeben, allerdings nicht zu. Es hat keine Störung des beA, sondern des EGVP im Justizbereich von Nordrhein-Westfalen gegeben. Diese Ungenauigkeit im Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist jedoch unschädlich. Im Ergebnis hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit der Angabe, das beA sei gestört, lediglich die Ursache für die Unmöglichkeit der Übermittlung auf elektronischem Weg unrichtig bezeichnet. In technischer Hinsicht trifft sein Vortrag, eine elektronische Übermittlung über das beA sei nicht möglich gewesen, zu, weil durch die Störung des EGVP eine Übermittlung von Schriftstücken über das beA an die von der EGVP-Störung betroffenen Gerichte nicht erfolgen konnte. Weiterer Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin war nicht erforderlich.

Das Berufungsgericht hat außerdem die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument überspannt, indem es eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns einer solchen Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet hat, ohne den von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin vorgelegten aktuellen Ausdruck der Internetseite bea.expert zu berücksichtigen, aus der die Meldung der Bundesrechtsanwaltskammer betreffend die Störung des EGVP hervorging. Die Vorlage dieses Ausdrucks, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt iSv. § 371 Abs. 1 ZPO handelt, war geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen (§ 294 ZPO).

 

Fazit: Der Rechtsanwalt, der die Ersatzeinreichung veranlasst hat, muss sich vor Fristablauf nicht weiter um eine elektronische Übermittlung bemühen und hierzu vorzutragen. § 130d Satz 2 ZPO stellt auf die vorübergehende technische Unmöglichkeit im Zeitpunkt der beabsichtigten Übermittlung des elektronisch einzureichenden Dokuments ab. Nur hierzu muss vorgetragen werden (BGH, Urteil vom 25. Mai 2023 – V ZR 134/22 –, MDR 2023, 1230).

 

Anmerkung: Ungeklärt ist, ob ein Gericht die Störung des EGVP als gemäß § 291 ZPO offenkundig und damit als nicht beweisbedürftig behandeln darf (BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2023 – XI ZB 1/23 –, MDR 2024, 58). Das BAG meint dagegen, der Gesetzgeber habe mit der Regelung in § 130d Satz 3 ZPO abweichend von § 291 ZPO eine Glaubhaftmachung zur ausnahmslosen Voraussetzung für eine zulässige Ersatzeinreichung gemacht (zu § 46g Satz 4 ArbGG: BAG, Urteil vom 25. August 2022 – 6 AZR 499/21 –, MDR 2023, 457). Vorsorglich sollte daher eine Glaubhaftmachung erfolgen.

Anwaltsblog 6/2024: Wie weit geht das Bankgeheimnis, wenn die Fälschung von Unterschriften im Raume steht?

Darf sich ein Bankinstitut unter Berufung auf das Bankgeheimnis weigern, Original-Urkunden einem Schriftsachverständigen vorzulegen, wenn ein als Bürge Inanspruchgenommener geltend macht, seine Frau habe seine Unterschriften gefälscht? Diese Frage hatte der BGH zu klären (BGH, Beschluss vom 29. November 2023 – XII ZB 141/22):

Getrenntlebende Eheleute sind gemeinsam mit der Mutter des Ehemanns Miteigentümer eines von ihnen bewohnten Anwesens. Auf Antrag der Ehefrau ist das Scheidungsverfahren anhängig. Der Ehemann hat beantragt, von der Durchführung des Versorgungsausgleichs nach § 27 VersAusglG (Wegfall wegen grober Unbilligkeit) abzusehen. Dazu hat er vorgetragen, die Ehefrau habe unberechtigt seine Unterschriften auf einer Bürgschaftsurkunde und einer Eigentümererklärung angebracht. Hiervon habe er erstmals erfahren, als die Bausparkasse ihn auf Zahlung von rund 19.500 € für ein Darlehen des volljährigen Sohnes in Anspruch genommen habe. Zum Beweis der behaupteten Fälschung seiner Unterschriften hat der Ehemann die Einholung eines Schriftsachverständigengutachtens beantragt sowie zu diesem Zweck die an die Bausparkasse gerichtete gerichtliche Anordnung, die in ihrem Besitz befindlichen Originale der in Kopie vorliegenden Bürgschaftsurkunde und Eigentümererklärung vorzulegen, begehrt. Die Bausparkasse hat die Vorlage der beiden Original-Urkunden unter Bezugnahme auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO verweigert, da die Unterlagen ein Darlehensverhältnis zwischen ihr und einer dritten, am gerichtlichen Verfahren nicht beteiligten Person beträfen, die ihr ausdrücklich die Herausgabe der Unterlagen untersagt habe.

Die Bausparkasse muss die Original-Urkunden vorlegen. Nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO sind Personen, denen kraft ihres Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist, in Betreff der Tatsachen, auf welche die Verpflichtung zur Verschwiegenheit sich bezieht, zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt. Die Vorschrift, die auch für die Vorlegung von Urkunden durch Dritte Anwendung findet, begründet ein Zeugnisverweigerungsrecht für die dem zivilrechtlichen Bankgeheimnis unterfallenden Tatsachen. Dieses Bankgeheimnis gilt jedoch nicht grenzenlos. So sieht bereits das Gesetz selbst Durchbrechungen vor (vgl. etwa § 840 ZPO). Darüber hinaus kann es zu einer Kollision des Bankgeheimnisses mit Aufklärungs- oder Auskunftsansprüchen eines anderen Kunden oder eines Dritten kommen, die im Einzelfall durch eine Interessen- und Güterabwägung zu lösen ist. Insbesondere in Fällen von Kreditsicherheiten eines Dritten für eine fremde Darlehensschuld wie bei einer Bürgschaft oder Grundschuld kann im Einzelfall eine Aufklärungs- oder Informationspflicht bestehen, die dem Bankgeheimnis vorgeht. Daher ist die Bausparkasse nicht berechtigt, unter Berufung auf das Bankgeheimnis die Vorlage der Originale der Bürgschaftsurkunde und der Eigentümererklärung zu verweigern.

Denn dem als Drittsicherungsgeber in Anspruch genommenen Ehemann steht gegenüber der Bausparkasse ein Einsichtsrecht nach § 810 Alt. 2 BGB zu, hinter dem das Bankgeheimnis zurücktreten muss. Nach § 810 Alt. 2 BGB kann jeder die Gestattung der Einsicht in eine Urkunde von deren Besitzer verlangen, wenn die Urkunde in seinem Interesse – nämlich zumindest auch für ihn als Beweismittel – errichtet wurde und in dieser ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes – gegebenenfalls unwirksames – Rechtsverhältnis beurkundet ist. Auf ein rechtliches Interesse kann sich jeder berufen, der – wie hier der Ehemann – die Einsichtnahme in eine Urkunde zur Förderung, Erhaltung oder Verteidigung seiner rechtlich geschützten Interessen benötigt. So steht etwa dem Bürgen gegenüber dem Gläubiger des Hauptschuldners grundsätzlich ein Einsichtsrecht in die das Rechtsverhältnis des Gläubigers zum Hauptschuldner betreffenden Urkunden zu. Nichts Anderes kann für denjenigen gelten, der seiner Inanspruchnahme als Bürge mit der substantiierten Behauptung entgegentritt, die Bürgschaftserklärung sei gefälscht, und der die Einsichtnahme in die Bürgschaftsurkunde benötigt, um diese Behauptung zu beweisen. Hinter dem rechtlichen Interesse des Ehemanns muss unter den hier maßgeblichen Umständen das durch das Bankgeheimnis geschützte Geheimhaltungsinteresse der Bausparkasse zurücktreten. Dabei ist bei der erforderlichen Abwägung auch zu berücksichtigen, in welchem Umfang die aufklärungspflichtige Bank gezwungen wäre, Einzelheiten ihrer Geschäftsverbindung mit einem anderen Kunden und über dessen Vermögenslage zu offenbaren. Die beiden Urkunden, insbesondere die Eigentümererklärung, enthalten nur wenige Einzelheiten über die Geschäftsverbindung zwischen der Bausparkasse und ihrem Kunden. Die Bürgschaftsurkunde benennt neben der Bausparvertrag-Nummer den Darlehensnehmer, den Darlehensbetrag sowie die Konditionen des Darlehens. Die Eigentümererklärung beschränkt sich demgegenüber auf die Mitteilung der Darlehensgewährung, des Darlehensnehmers und der Bausparvertrag-Nummer. Diese Umstände sind aber aufgrund der Kopien der Urkunden, die die Bausparkasse zur Realisierung ihrer eigenen Ansprüche übersandt hat, bereits offenbart und bekannt.

 

Fazit: Ein Bankinstitut kann nicht unter Berufung auf das Bankgeheimnis gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO die Vorlage von Original-Urkunden verweigern, wenn im Einzelfall das Interesse des Beweisführers an ihrer Vorlage höher zu gewichten ist (hier: zum Beweis der Unechtheit der Urkunden).

 

Anmerkung: Eine zivilprozessuale Pflicht zur Vorlage von Urkunden der nicht beweisbelasteten Partei kann sich nur aus den speziellen Vorschriften der §§ 422, 423 ZPO oder aus einer Anordnung des Gerichts nach § 142 Abs. 1 ZPO ergeben. § 142 Abs. 1 ZPO ist auch anwendbar, wenn sich der beweispflichtige Prozessgegner auf eine Urkunde bezogen hat, die sich im Besitz der nicht beweisbelasteten Partei befindet. Auch die Vorschrift des § 142 Abs. 1 ZPO befreit die Partei, die sich auf eine Urkunde bezieht, nicht von ihrer Darlegungs- und Substanziierungslast. Daher darf das Gericht die Urkundenvorlegung nicht zum Zwecke bloßer Informationsgewinnung, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags anordnen (BGH, Urteil vom 26.06.2007 – XI ZR 277/05, MDR 2007, 1333).

 

OLG Koblenz: Unwirksamkeit einer Zustellung wegen nicht lesbaren Datums

In konsequenter Fortsetzung einer neueren Entscheidung des BGH (Versäumnisurt. v. 15.3.2023 – VIII ZR 99/22, MDR 2023, 797 – ein fehlender Datumsvermerk auf dem Zustellungsumschlag führt zur Unwirksamkeit der Zustellung) hat das OLG Koblenz (Urt. v. 13.12.2023 – 10 U 472/23) eine Entscheidung zur Frage der Wirksamkeit einer Zustellung für den Fall getroffen, dass das Datum auf dem Umschlag zwar vorhanden, jedoch nicht deutlich lesbar ist.

Es ging um die Frage eines rechtzeitigen Einspruchs. Aus der bei der Gerichtsakte befindlichen Zustellungsurkunde ergab sich, dass die maßgebliche Zustellung am 12.12. erfolgt war. Auf dem Umschlag, worauf das Datum zu vermerken ist (§ 180 S. 3 ZPO), war das Datum jedoch nicht eindeutig lesbar. Es hätte 12.12. oder 17.12. heißen können. Das LG hatte noch die Auffassung vertreten, man hätte sich bei Gericht erkundigen oder vorsichtshalber auf das ältere Datum abstellen müssen. Das OLG Koblenz jedoch erklärt § 180 S. 3 ZPO, wonach der Zusteller auf dem Umschlag das Datum zu vermerken hat, zu einer zwingenden Zustellungsvorschrift, deren Verletzung die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge hat. Konsequenz: Die Zustellung ist insgesamt unwirksam. Die Frist für den Einspruch begann damit erst mit der Kenntnisnahme des Versäumnisurteils (§ 189 ZPO). Eine Nachforschungspflicht lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen, so dass sie einer Partei nicht auferlegt werden kann.

Fazit: Leider ist in der Praxis immer wieder zu beachten, dass bei Zustellungen sehr unsorgfältig gearbeitet wird. Dies liegt natürlich auch daran, dass die Zusteller selbst unter einem hohen Arbeitsdruck stehen. Um Zustellungsfehler noch ausnützen zu können, muss man sich immer den Umschlag der zugestellten Sendung im Original zeigen lassen und gegebenenfalls aufbewahren. So lässt sich durchaus nicht selten, manche Frist noch retten!

Anwaltsblog 5/2024: Welche Mindestangaben muss ein erster Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist aufweisen?

Ob für einen ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist die Angabe des Berufungsführers ausreicht, er sei „nicht in der Lage“, die Berufung fristgerecht zu begründen, hatte aktuell der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2024 – VIII ZB 31/23):

 

Der Kläger hat beantragt, die am 16. Januar 2023 (Montag) ablaufende Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern, da er „nicht in der Lage“ sei, die Berufung fristgerecht zu begründen. Diesen Antrag hat der Vorsitzende des Berufungssenats mit Verfügung vom 13. Januar 2023 abgelehnt und den Kläger anschließend – nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist – darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung mangels Eingangs einer Berufungsbegründung als unzulässig zu verwerfen. Daraufhin hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufungsbegründung eingereicht.  Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe mit seiner Ausführung, wonach er „nicht in der Lage“ gewesen sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, einen erheblichen Grund iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht dargelegt. Es werde lediglich mitgeteilt, dass die Frist nicht eingehalten werden könne, ohne hierfür überhaupt einen sachlichen Grund anzugeben. Eine Schlussfolgerung auf einen erheblichen Grund wäre eine reine Spekulation. Somit habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Berufungsbegründungsfrist mit großer Wahrscheinlichkeit verlängert werde, und diese daher schuldhaft versäumt.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung verletzt nicht die Verfahrensgrundrechte des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs und auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Danach darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren. Gemessen hieran verletzen die Versagung einer Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Berufung als unzulässig den Kläger in seinen vorgenannten Verfahrensgrundrechten nicht, da die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem dem Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht. Denn dieser durfte mangels Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht auf die Gewährung der von ihm beantragten Verlängerung der Frist vertrauen. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Zwar muss ein Berufungskläger grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Ohne Verschulden im Sinne von § 233 ZPO handelt der Rechtsanwalt daher nur dann, wenn (und soweit) er auf die Fristverlängerung vertrauen durfte, das heißt, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Dies ist jedoch bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist im Allgemeinen der Fall, sofern dieser auf erhebliche Gründe iSd. des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestützt wird. An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Wird der Antrag auf Fristverlängerung nicht in diesem Sinne begründet, muss der Rechtsmittelführer hingegen damit rechnen, dass der Vorsitzende in einem solchen Antrag eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen werde.

So liegt der Fall hier. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in seinem Antrag einen erheblichen Grund für die Gewährung der von ihm begehrten Fristverlängerung nicht genannt. Er hat lediglich darauf verwiesen, dass er „nicht in der Lage“ sei, die Berufung fristgerecht zu begründen, was das Berufungsgericht zu Recht als bloße Mitteilung der Nichteinhaltung der Frist angesehen hat. Ein Grund, warum der Prozessbevollmächtigte des Klägers hierzu „nicht in der Lage“ gewesen sei, wird nicht genannt. Somit genügt der Fristverlängerungsantrag selbst den geringen Anforderungen nicht, welche die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Darlegung eines erheblichen Grundes iSv. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO stellt. Anders als der Kläger meint, kann die Erklärung seines Prozessbevollmächtigten nicht dahingehend ausgelegt werden, er habe sich konkludent darauf berufen, aufgrund einer Arbeitsüberlastung „nicht in der Lage“ gewesen zu sein, die Berufung fristgerecht zu begründen. Zwar kann unter Umständen auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen genügen und zählt zu den erheblichen Gründen iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. Einer Auslegung des Fristverlängerungsantrags dahingehend, dass sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers konkludent auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe, steht jedoch entgegen, dass im Antrag keinerlei tatsächlichen Umstände genannt werden, aus denen der Anlass der begehrten Fristverlängerung hätte entnommen und aus denen somit ein Rückschluss auf den erheblichen Grund hätte gezogen werden können. Allein aus der unterbliebenen Angabe anderer Hinderungsgründe folgt entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass sich der Klägervertreter zur Begründung seines Fristverlängerungsantrags (konkludent) auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe.

 

Fazit: An die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Notwendigkeit der Fristverlängerung dürfen bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insoweit reicht der bloße Hinweis auf einen als erheblich anerkannten Grund – wie z.B. Arbeitsüberlastung – aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Die Angabe des Berufungsführers, er sei „nicht in der Lage“, die Berufung fristgerecht zu begründen, reicht aber nicht aus.

 

Anmerkung: Bei Einwilligung des Gegners ist auch das Vertrauen des Berufungsklägers in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt. Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung erneut zu verlängern, darf er darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben wird. (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22 -, MDR 2023, 379). Voraussetzung ist aber, dass mit dem Antrag die Einwilligung des Gegner vorgelegt oder zumindest anwaltlich versichert wird.

Blog powered by Zöller: Video-Verhandlung und faires Verfahren

Die mündliche Verhandlung per Video-Übertragung (§ 128a ZPO) soll den Zivilprozess erleichtern und beschleunigen. Zunehmend müssen sich aber Rechtsmittelgerichte mit Rügen eines verfahrensfehlerhaften Ablaufs befassen – jüngst auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23). Die Kläger in einem finanzgerichtlichen Verfahren  hatten mit der Verfassungsbeschwerde gerügt, ihr Recht auf den gesetzlichen Richter sei dadurch verletzt worden, dass die eingesetzte Kamera nur die gesamte Richterbank abbildete und nicht die Möglichkeit bot, mittels einer von ihnen steuerbarer Zoomfunktion die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu überprüfen.

Die Verfassungsbeschwerde stützte sich auf eine Entscheidung des BFH vom 30.6.2023 – V B 13/22, MDR 2023, 1131 (mit Anm. Greger, MDR 2023, 1366; s. auch Blog vom 4.8.2023), mit der eine Verletzung des  Rechts auf den gesetzlichen Richter bejaht wurde, weil bei der Video-Übertragung  nicht alle Richter ständig zu sehen waren. Von diesem hohen verfassungsrechtlichen Podest hat das BVerfG die Unzulänglichkeiten der Video-Verhandlung aber heruntergeholt. Die Garantie des gesetzlichen Richters werde durch solche nicht verletzt; allenfalls könne das Recht auf ein faires Verfahren tangiert sein. Dazu gehöre nämlich, dass die Verfahrensbeteiligten die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank überprüfen können, und daran könne es fehlen, wenn bei Videoverhandlungen aus der Distanz gefilmt wird und die Übertragungsqualität hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei Anwesenheit vor Ort zurückbleibt.

Im vorliegenden Fall hatten die Beschwerdeführer nicht vorgetragen, dass eine solche Beschränkung vorlag und von ihnen in der Verhandlung beanstandet wurde. Die Verfassungsbeschwerde wurde daher nicht zur Entscheidung angenommen. Dem Nichtannahmebeschluss sind gleichwohl zwei wichtige Aussagen zu entnehmen:

  1. Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert bei Videoverhandlungen eine Übertragungstechnik, die es den Beteiligten ermöglicht, die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank zu überprüfen. Hieran kann es fehlen, wenn wegen zu großer Distanz die Körpersprache nicht hinreichend wahrnehmbar ist.
  2. Beeinträchtigungen des fairen Verfahrens durch Unzulänglichkeiten der Video-Technik sind sogleich zu beanstanden.

Der auf den absoluten Revisionsgrund des „gesetzlichen Richters“ gestützten Ansicht des BFH, Übertragungsmängel könnten auch noch nachträglich gerügt werden, hat der Beschluss die Grundlage entzogen. Es bleibt aber das Risiko, dass eine Video-Verhandlung abgebrochen werden muss, weil eine Partei die Unzulänglichkeit der Übertragungsqualität rügt.

In der Online-Ausgabe des Zöller ist der Beschluss des BVerfG v. 15.1.2024 – 1 BvR 1615/23 bereits berücksichtigt, Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 128a ZPO Rn. 6.2).

KG: Anwaltszwang im einstweiligen Verfügungsverfahren

Das KG hat in einer lehrreichen Entscheidung (Beschl. v. 14.11.2023 – 10 W 185/23) die Grundsätze zum Anwaltszwang im Rahmen von einstweiligen Verfügungsverfahren zusammengefasst.

Bekanntlich besteht vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten nach § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO Anwaltszwang. Gemäß den §§ 936, 920 Abs. 3 ZPO kann aber das „Gesuch“ für einen Arrest und damit auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Gemäß § 78 Abs. 3 ZPO bedeutet dies wiederum, dass hierfür kein Anwaltszwang besteht. Fazit: Für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung besteht beim Landgericht kein Anwaltszwang.

Soweit ist die Sache klar. Im konkreten Fall hatte eine Partei den Antrag gestellt, der jedoch vom Landgericht zurückgewiesen wurde. Gegen diesen Beschluss hat die Partei selbst Beschwerde eingelegt. Die entscheidende Frage war nun, ob diese Beschwerde überhaupt zulässig ist. Die Partei hatte sich auf § 569 Abs. 3 Nr. 1 ZPO berufen. Danach kann die Beschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden, wenn der Rechtsstreit im ersten Rechtszug nicht als Anwaltsprozess zu führen ist oder war. Diese Vorschrift meint aber Prozesse vor dem Amtsgericht. Gemäß § 78 Abs. 1 ZPO sind Verfahren vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten als Anwaltsprozess zu führen. Der Umstand, dass ein Verfahren ohne Anwaltszwang eingeleitet werden kann, bedeutet nicht, dass es nicht als Anwaltsprozess zu führen ist.

Fazit: Die sofortige Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen den Beschluss eines Landgerichts zum Oberlandesgericht unterliegt dem Anwaltszwang.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfalt im Zusammenhang mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Verlängerung der Begründungsfrist nach verspäteter Einlegung eines Rechtsmittels
BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2024 – IV ZR 29/23

Der IV. Zivilsenat befasst sich mit einer haftungsträchtigen Situation.

Der Kläger begehrt Leistungen aus einer privaten Krankenversicherung. Sein Begehren ist in den beiden ersten Instanzen erfolglos geblieben. Das Urteil des OLG wurde ihm am 30. November 2022 zugestellt. Am 27. Januar 2023 hat sein Prozessbevollmächtigter Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Am 9. Februar 2023 beantragte der Prozessbevollmächtigte erstmals, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde und des diesbezüglichen Wiedereinsetzungsantrags bis zum 9. April 2023 zu verlängern.

Der Prozessbevollmächtigte hat die Begründung des Rechtsmittels innerhalb der verlängerten Frist eingereicht. Er beantragt auch bezüglich der Begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trägt er vor, der Kläger habe sich bis 18. Januar 2023 krankheitsbedingt nicht um seine Rechtsangelegenheiten kümmern können. In der Zeit zwischen diesem Tag und dem regulären Ablauf der Begründungsfrist sei es nicht möglich gewesen, die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu prüfen, zumal die Gerichtsakten nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Der BGH lehnt die beantragte Wiedereinsetzung ab und verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht fristgerecht begründet worden. Die zweimonatige Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist mit dem 30. Januar 2023 abgelaufen. Die gewährten Fristverlängerungen sind unwirksam, weil der erste Verlängerungsantrag gestellt wurde, als die Frist bereits abgelaufen war.

Die Versäumung der Frist beruht auf dem Verschulden des Prozessbevollmächtigten. Dieser hätte bei Einlegung des Rechtsmittels am 27. Januar 2023 die Verlängerung der damals noch laufenden Begründungsfrist beantragen können und müssen. Der Antrag hätte schon deshalb Aussicht auf Erfolg gehabt, weil die Gerichtsakten noch nicht vorlagen.

Praxistipp: Ist die Frist zur Begründung des Rechtsmittels bei Wegfall des Hindernisses bereits abgelaufen, muss die Begründung gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO innerhalb eines Monats eingereicht werden. Diese Frist ist nicht verlängerbar (zu einem Ausnahmefall vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 2007 – V ZB 48/06, MDR 2007, 1332).

Konnte die Begründungsfrist deshalb nicht eingehalten werden, weil ein rechtzeitig gestellter Antrag auf Prozesskostenhilfe erst nach Fristablauf bewilligt worden ist, beginnt die Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO bei Berufung, Revision und Nichtzulassungsbeschwerde mit der Wiedereinsetzung in die versäumte Einlegungsfrist, bei einer Rechtsbeschwerde hingegen schon mit Bewilligung der Prozesskostenhilfe (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2008 – IX ZB 197/07, MDR 2008, 1058).

Anwaltsblog 4/2024: Auch ein nicht zu den Akten gelangter per beA übermittelter Schriftsatz wahrt die Frist!

Der BGH hatte zu entscheiden, ob eine verfahrensordnungswidrige Gehörsverletzung vorliegt, wenn eine rechtzeitig bei Gericht eingegangene Berufungsbegründungsschrift unberücksichtigt bleibt, weil sie nicht zur Verfahrensakte gelangt ist:

Der Beklagte hat gegen ein Urteil des Amtsgerichts, durch das er zur Räumung seiner Mitwohnung verurteilt worden ist, fristgerecht Berufung eingelegt. Das Landgericht hat die Berufung wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, weil eine Berufungsbegründung auch nach dem Verstreichen der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vorliege. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen. Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist.

Der Berufungsbegründungsschriftsatz ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen. Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt. Die per beA übersandte Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen Prüfvermerks an diesem Tag („Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17“) und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument – offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens – erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

(BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23)

 

Fazit: Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich. Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag (BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 – XII ZB 240/17 –, MDR 2018, 1334).

 

Anmerkung: Zwar werden bei fehlerhafter gerichtlicher Sachbehandlung für die III. Instanz Gerichtskosten nicht erhoben (§ 21 Abs. 1 Satz 1 GKG). Das ändert aber nichts daran, dass den Parteien, die für Notwendigkeit der Rechtsbeschwerde nicht verantwortlich sind, Anwaltskosten entstanden sind, die im Ergebnis der unterliegenden Partei aufzuerlegen sind. Einen einfacheren Weg, die eklatant falschen Entscheidung des Berufungsgerichts abzuändern, kennt das geltende Recht jedoch nicht. Die Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, die Abhilfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör schafft, ist subsidiär und nicht gegeben, wenn ein Rechtsmittel statthaft ist (§ 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es wäre sinnvoll, wenn der Gesetzgeber Abhilfe schaffen würde, zumal Sachverhalte wie dieser aufgrund der nach wie vor mangelhaften Organisation der Behandlung elektronisch eingereichter Schriftsätze durch die Gerichte immer wieder vorkommen werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Beweiswirkungen einer Behandlungsdokumentation.

Indizwirkung einer Behandlungsdokumentation
BGH, Urteil vom 5. Dezember 2023 – VI ZR 108/21

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit einem Fall, in dem die Behandlungsdokumentation eines Beteiligten auf Fehler eines anderen Beteiligten hindeutet.

Die klagenden Sozialversicherungsträger nehmen die Beklagten wegen Behandlungsfehlern bei der Geburt eines Kindes in Anspruch. Am Tag der Geburt wurde die Mutter in der Klinik der Beklagten zu 1 bis 3 zunächst von der als Beleghebamme tätigen Beklagten zu 5 betreut. Im Laufe des Nachmittags ergaben mehrere CTG-Untersuchungen einen pathologischen Befund. Um 19:45 Uhr übernahm der als Assistenzarzt tätige Beklagte zu 4 die Behandlung. Er ordnete nach einem massiven Abfall der Herztöne einen Not-Kaiserschnitt an. Das Kind war nach der Entbindung leblos und wurde wiederbelebt. Es leidet an einer irreversiblen Hirnschädigung.

Das LG hat die Ansprüche gegen die Hebamme für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt und deren Schadensersatzpflicht festgestellt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.

Die Klagen gegen die Beklagten zu 1 bis 4 hatten in erster Instanz keinen Erfolg. Das OLG erklärte die Klageansprüche auch insoweit für dem Grunde nach gerechtfertigt und stellte die Ersatzpflicht der Beklagten zu 1 bis 4 fest.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG entfaltet die Behandlungsdokumentation der Hebamme, der zufolge der Beklagte zu 4 bereits um 19:10 Uhr das zuvor aufgenommene, hochpathologische CTG gesehen hat, keine Vermutungswirkung zu Lasten der Beklagten zu 1 bis 4.

Als Urkunde begründet eine Behandlungsdokumentation gemäß § 416 ZPO vollen Beweis (nur) dafür, dass die darin enthaltenen Erklärungen abgegeben wurden, nicht aber dafür, dass sie inhaltlich zutreffend sind.

Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kann allerdings zugunsten der Behandlungsseite eine Indizwirkung zukommen, die im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO zu berücksichtigen ist. Daraus ergibt sich aber keine Umkehr der Beweislast. Die Indizwirkung ist schon dann erschüttert, wenn der Beweisgeber Umstände dartut, die Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Dokumentation begründen.

Im Streitfall kommt der Dokumentation der Hebamme im Verhältnis gegenüber den Beklagten zu 1 bis 4 jedoch schon deshalb keine Indizwirkung zu, weil sie ambivalent ist. Der in Rede stehende Eintrag kann sowohl darauf hindeuten, dass die Hebamme die dokumentierte Maßnahme tatsächlich vorgenommen hat, als auch darauf, dass sie ihre Verantwortung für das Geschehen in Abrede stellen und den Beklagten zu 4 belasten wollte.

Der Klinikträger muss sich den Behandlungsfehler der Hebamme auch nicht gemäß § 278 BGB zurechnen lassen. Sobald ein Arzt die Behandlung übernommen hat, ist eine mitwirkende Hebamme zwar dessen Gehilfin im Sinne von § 278 BGB. Im Streitfall ist aber nicht festgestellt, dass eine ärztliche Behandlung bereits vor 19:45 Uhr begonnen hat.

Praxistipp: Nach der in § 630h Abs. 3 BGB normierten und bereits zuvor in der Rechtsprechung etablierten Vermutung, gilt eine nicht dokumentierte Maßnahme als nicht durchgeführt. Darum ging es im Streitfall indes nicht nicht.

Anwaltsblog 3/2024: Noch einmal – Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Ob das Berufungsgericht eine erstinstanzliche durchgeführte Beweisaufnahme wiederholen muss, wenn mit der Berufungsbegründung die Bewertung der Beweisaufnahme durch das erstinstanzliche Gericht angegriffen wird, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Die Klägerin hatte an die Beklagten ein Haupt- und ein Nebenhaus an einem oberbayerischen See mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² vermietet. Sie beabsichtigte zunächst, das Grundstück zu verkaufen. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt. Kurz darauf kündigte die Klägerin das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Sie wolle nunmehr das Haus selbst mit einem ihrer Söhne und dessen Familie bewohnen und ihr anderer Sohn wolle einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen.

Das Amtsgericht hat der auf Räumungsklage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die erstinstanzliche Beweiswürdigung gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht. Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Dem Berufungsgericht ist eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Das Berufungsgericht hat den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.

(BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23, MDR 2023, 1331)

 

Fazit: Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben. Allerdings reicht für eine zweitinstanzliche Wiederholung einer Beweisaufnahme nicht jegliches Infragestellen der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht aus. Bloß subjektive Zweifel sowie abstrakte Erwägungen oder Vermutungen genügen aber nicht (kritisch dazu: Elzer MDR 2023, 1501 und Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 1/2024 Anm. 6.