BGH: Aufklärung von Widersprüchen zwischen Sachverständigengutachten

Die Klägerin lieferte der Beklagten ein Substrat zur Pflanzenaufzucht. Die darin alsdann aufgezogenen Pflanzen wiesen einen Trauermückenbefall auf und konnten deswegen nicht verkauft werden. Die Klägerin verlangte daraufhin von der Beklagten Schadensersatz. Das LG hatte der Klage stattgegeben, das OLG hatte sie abgewiesen und war im Wesentlichen der Auffassung eines von der Beklagten eingeschalteten Privatgutachters gefolgt, die der gerichtlich bestellte Gutachter allerdings überwiegend nicht geteilt hatte.

Der BGH (BGH, Beschl. v. 5.11.2019 – VIII ZR 344/18, MDR 2020, 114) hebt die Entscheidung des OLG auf und verweist – sogar an einen anderen Spruchkörper – zurück. Er wirft dem OLG vor, ohne logische und nachvollziehbare Begründung von den Ausführungen des Privatgutachters ausgegangen zu sein. Auch wenn es sich bei einem Privatgutachten nur um urkundlich belegten Parteivortrag handelt, muss das Gericht Widersprüchen zwischen dem Privatgutachten und dem Gerichtsgutachten nachgehen. Wie dies erfolgt, steht im Ermessen des Gerichts, beispielsweise können die Gutachter in einem Termin gegenübergestellt werden. Unter Umständen muss dann noch gemäß § 412 Abs. 1  ZPO ein weiteres Gutachten eingeholt werden, wenn es nicht gelingt, die Widersprüche aufzuklären. Erst wenn alle Aufklärungsbemühungen erfolglos geblieben sind, dürfen die verbliebenen Diskrepanzen frei gewürdigt werden.

Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall war zunächst zu beachten, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sich jede Partei ein ihr günstiges Beweisergebnis jedenfalls hilfsweise zu eigen macht. Dies galt hier für verschiedene Umstände, die der Gerichtssachverständige zu Gunsten der Klägerin ermittelt hatte. Eben auf diese verschiedenen Umstände wurde im Rahmen der Entscheidungsgründe vom OLG gar nicht eingegangen, wenngleich der Widerspruch zum Privatgutachten auf der Hand lag.

Damit kann festgehalten werden: Klärt das Gericht entscheidungserhebliche Widersprüche zwischen den Schlussfolgerungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen und denjenigen eines Privatgutachters nicht hinreichend auf, sondern folgt ohne logische und nachvollziehbare Begründung den Ausführungen eines von ihnen – vorliegend denjenigen des Privatgutachters -, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts (§ 286 ZPO) und ist damit das rechtliche Gehör (Art 103 Abs. 1 GG) derjenigen Partei, die sich das ihr günstige Beweisergebnis – vorliegend in Form eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens – zu eigen gemacht hat, verletzt.

Fazit: Für die Praxis bedeutet dies, dass das Gericht bei Widersprüchen zwischen verschiedenen Sachverständigengutachten nicht vorsichtig genug sein kann und sich sehr tief in die Materie einarbeiten muss. Keinesfalls darf einem von zwei Gutachten ohne überzeugende Begründung gefolgt werden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Statthaftigkeit einer Beschwerde im selbständigen Beweisverfahren.

Ablehnung einer Bauteilöffnung im selbständigen Beweisverfahren
Beschluss vom 15. Januar 2020 – VII ZB 96/17

Mit der Statthaftigkeit einer Beschwerde gegen die Nichterteilung einer Weisung an den gerichtlichen Sachverständigen befasst sich der VII. Zivilsenat.

Der Antragsteller begehrt die Begutachtung der von der Antragsgegnerin erbrachten Werkleistungen an seinem Einfamilienhaus. Der gerichtliche Sachverständige teilte dem LG mit, zur Beurteilung einer der Beweisfragen sei eine Bauteilöffnung erforderlich. Der Antragsteller beantragte, den Sachverständigen anzuweisen, die Bauteilöffnung vorzunehmen. Das LG lehnte den Antrag durch Beschluss ab. Das OLG wies die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde als nicht statthaft zurück.

Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers bleibt ebenfalls erfolglos. Der BGH tritt dem OLG darin bei, dass die Beschwerde gegen die Entscheidung des LG nicht statthaft war. Nach § 404a ZPO obliegt es dem Gericht von Amts wegen, die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und diesem gegebenenfalls Weisungen zu Art und Umfang seiner Tätigkeit zu erteilen. Ein diesbezüglicher Antrag einer Partei ist deshalb nicht ein das Verfahren betreffendes Gesuch im Sinne von § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, sondern eine bloße Anregung.

Praxistipp: Eine Beschwerde ist in der betreffenden Konstellation auch innerhalb des Hauptsacheverfahrens nicht statthaft. Das Berufungsgericht hat aber gemäß § 512 ZPO zu überprüfen, ob die Vorinstanz zu Recht von einer beantragten Weisung abgesehen hat. Entsprechendes gilt gemäß § 557 Abs. 2 ZPO in der Revisionsinstanz, sofern die betroffene Partei eine zulässige Verfahrensrüge erhoben hat.

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Diese Woche geht es um eine im Alltag häufig auftretende Fallkonstellation.

Haftung des Fahrzeughalters für erhöhtes Parkentgelt
Urteil vom 18. Dezember 2019 – XII ZR 13/19

Mit den Rechtsfiguren des Anscheinsbeweises und der sekundären Darlegungslast befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Klägerin betreibt einen öffentlichen Parkplatz, auf dem mit Schildern darauf hingewiesen wird, dass die Nutzung auf den dafür gekennzeichneten Flächen für eine Höchstdauer von zwei Stunden kostenlos ist und bei Überschreitung dieses Zeitraums oder Nutzung anderer Flächen ein erhöhtes Parkentgelt von 30 Euro erhoben wird. Die Beklagte ist Halterin eines Autos, das im Lauf von zwei Jahren insgesamt dreimal unberechtigt auf dem Parkplatz abgestellt war. Die Klage auf erhöhtes Parkentgelt und Inkassokosten in Höhe von insgesamt 214,50 Euro blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Er tritt dem LG darin bei, dass ein Vertrag über die Nutzung des Parkplatzes nur mit dem Fahrer zustande kommt, der das Fahrzeug auf einer betroffenen Fläche abstellt, nicht aber mit einem Dritten, der Halter des Fahrzeugs ist. Er bestätigt ferner, dass die Vereinbarung mit dem Fahrer über das erhöhte Parkentgelt im Streitfall wirksam geschlossen wurde und einer AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle standhält. Zu Recht hat das LG überdies entschieden, dass kein Anscheinsbeweis dafür spricht, dass der Halter des Fahrzeugs zugleich dessen Fahrer war. Abweichend von der Auffassung der Vorinstanzen trifft den Halter in der gegebenen Konstellation aber eine sekundäre Darlegungslast. Er kann die gegnerische Behauptung, das Fahrzeug selbst gefahren zu haben, nur dann wirksam bestreiten, wenn er jedenfalls die Personen benennt, die im fraglichen Zeitraum die Möglichkeit hatten, das Fahrzeug als Fahrer zu nutzen.

Praxistipp: Für Abschleppkosten haftet der Halter unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag grundsätzlich schon dann, wenn er das Fahrzeug einem Dritten überlassen hat (BGH, Urt. v. 18.12.2015 – V ZR 160/14 Tz. 21 f. – MDR 2016, 267; BGH, Urt. v. 11.3.2016 – V ZR 102/15 Tz. 6 ff. – MDR 2016, 764).

BGH: Und wieder einmal zum rechtlichen Gehör

Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist in den letzten Jahren einer der beliebtesten Aufhebungsmuster des BGH geworden. Fast in jeder aufhebenden Revisionsentscheidung liest man davon und darüber. Dies ist zwar im Gesetz durchaus angelegt (§ 544 Abs. 7 ZPO), jedoch würde man sich oftmals doch gerne andere Aufhebungsmuster mit abweichenden Begründungen wünschen.

In einer der letzten Entscheidungen hierzu hat der BGH (Beschl. v. 18.7.2019 – IX ZR 276/17) jedoch einige Ausführungen vorgelegt, die man sich merken sollte:

Jedes Gericht ist – das sollte selbstverständlich sein – dazu verpflichtet, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dies bedeutet aber nicht, dass sich ein Gericht auch mit jedem Vorbringen einer Partei in den Entscheidungsgründen (und damit auch im Tatbestand) ausdrücklich befassen müsste. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass ein Gericht jegliches Vorbringen zur Kenntnis genommen hat, auch wenn in dem Urteil selbst das fragliche Vorbringen gar nicht erwähnt wurde.

Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, die zweifelsfrei darauf schließen lassen, dass ein bestimmtes Vorbringen tatsächlich nicht zur Kenntnis genommen bzw. erwogen wurde. Nur dann liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Diese Sichtweise entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BVerfG.

Jede andere Sicht der Dinge wäre auch abwegig: Die Parteien hätten dann die Möglichkeit, den Umfang eines Urteils durch den Vortrag von offensichtlich Unerheblichem mittelbar zu bestimmen.

Für die Parteien ist dies auch nicht unzumutbar oder gar „gefährlich“. In der Revisionsinstanz besteht immer noch die Möglichkeit, eine Verfahrensrüge anzubringen und das übergangene Vorbringen als doch erheblich zu rügen.

Im konkreten Fall wurden die besonderen Umstände bejaht, da hier offensichtlich etwas übersehen wurde. Der Beklagte hatte konkret etwas behauptet, was das OLG als nicht vorhanden bezeichnet hat. Dies stellt natürlich eine „klassische“ Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs dar.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um einen eher ungewöhnlichen, aber nicht vollständig überraschenden Aspekt des so genannten Abgasskandals.

Befangenheit bei Beteiligung an einer Musterfeststellungsklage
Beschluss vom 10. Dezember 2019 – II ZB 14/19

Dass der so genannte Abgasskandal weite Kreise zieht, belegt eine Entscheidung des II. Zivilsenats.

Der Kläger wendet sich gegen Beschlüsse der Hauptversammlung der Beklagten, mit denen die damaligen Vorsitzenden des Vorstands und des Aufsichtsrats sowie ein weiteres Aufsichtsratsmitglied für das Geschäftsjahr 2016 entlastet worden sind. Er macht geltend, Vorstand und Aufsichtsrat trügen die uneingeschränkte Verantwortung für Manipulationen der Abgassteuerung bestimmter Dieselmotoren in von der Beklagten hergestellten und veräußerten Fahrzeugen. Das LG wies die Anfechtungsklage ab. Die Vorsitzende des für die Berufung zuständigen OLG-Senats zeigte an, sie habe im Juli 2015 privat ein Auto aus einer betroffenen Baureihe gekauft und sich im Dezember 2018 als Anmelderin an einer gegen die Beklagten gerichteten Musterfeststellungsklage beteiligt. Die Beklagte lehnte die Vorsitzende als befangen ab. Das OLG erklärte das Ablehnungsgesuch als unbegründet.

Der BGH erklärt das Ablehnungsgesuch für begründet. Abweichend von der Vorinstanz ist eine Ablehnung nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der vorliegende Rechtsstreit einen anderen Gegenstand betrifft als die Musterfeststellungsklage. Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 42 ZPO kann vielmehr auch dann bestehen, wenn ein Richter über einen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine Partei geltend macht. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Der Kläger stützt seine Angriffe gegen den angefochtenen Beschluss unter anderem darauf, dass den Käufern der betroffenen Modellreihen Ersatzansprüche gegen die Beklagte zustehen. Über denselben Sachverhalt geht es in der Musterfeststellungsklage.

Praxistipp: Die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs in der Berufungsinstanz kann nur dann mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden, wenn das Berufungsgericht diese zulässt. Unterbleibt eine Zulassung, kann die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch gemäß § 557 Abs. 2 ZPO auch in einem späteren Revisionsverfahren nicht mehr überprüft werden (BGH, B. v. 30.11.2006 – III ZR 93/06 Tz. 4 – MDR 2007, 599, 600).

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Diese Woche geht es um die Voraussetzungen einer Parteivernehmung von Amts wegen.

Subsidiarität der Parteivernehmung von Amts wegen
Urteil vom 12. Dezember 2019 – III ZR 198/18

Mit den Voraussetzungen des § 448 ZPO befasst sich der III. Zivilsenat.

Die beiden Kläger sind Erben eines im Oktober 2015 verstorbenen Erblassers, der mit ihrer bereits im Mai 2015 verstorbenen Tante verheiratet war. Der Beklagte war Nachfolger des Erblassers als Chef der Wertpapierabteilung einer örtlichen Bankfiliale und mit den Eheleuten seit Jahren befreundet. Von Januar 2015 bis kurz nach dem Tod des Erblassers hob er mittels einer EC-Karte mehrfach größere Geldbeträge von Konten des Erblassers und dessen Ehefrau ab. Gegenüber der auf Herausgabe dieser Beträge gerichteten Klage verteidigte er sich unter anderem damit, er habe dem Kläger zu 2 bei drei Anlässen im Juni und Oktober 2015 insgesamt 63.600 Euro in bar übergeben, teils in einem Briefumschlag, teils in Geldtaschen. Das LG wies die Klage ab. Das OLG verurteilte den Beklagten unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung zur Zahlung von rund 60.500 Euro.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Er tritt dem OLG darin bei, dass der Beklagte für die behaupteten Zahlungen an den Kläger zu 2 die Beweislast trägt und dass die Aussagen der von ihm hierfür benannten und bereits vom LG vernommenen Zeugen hierfür keinen unmittelbaren Beweis liefern.

Der BGH sieht die Entscheidung des OLG aber schon deshalb als fehlerhaft an, weil dieses die Zeugen nicht erneut vernommen, sondern seine Würdigung allein auf die erstinstanzlichen Aussageprotokolle gestützt hat. Die erneute Vernehmung eines Zeugen gemäß § 398 ZPO sei nicht nur dann geboten, wenn dessen Aussage abweichend von der Vorinstanz gewürdigt werden soll, sondern auch dann, wenn die Feststellungen der Vorinstanz unvollständig ist.

Darüber hinaus hätte das Berufungsgericht prüfen müssen, ob sich den Aussagen der Zeugen zumindest hinreichende Anhaltspunkte entnehmen lassen, die Anlass zu einer Parteivernehmung des Beklagten von Amts wegen gemäß § 448 ZPO geben. Entgegen der Auffassung des OLG scheidet diese Form der Beweisaufnahme nicht schon deshalb aus, weil der Beklagte noch die Ehefrau des Klägers zu 2 als Zeugin hätte benennen können. Eine Parteivernehmung nach § 448 ZPO kommt zwar nur dann in Betracht, wenn die beweisbelastete Partei alle anderen zumutbaren Beweisangebote ausgeschöpft hat. Die Benennung eines im Lager der Gegenseite stehenden Zeugen oder ein Antrag auf Parteivernehmung des Gegners sind aber nicht zumutbar in diesem Sinne. Deshalb hängt die Frage, ob Veranlassung zu einer Vernehmung nach § 448 ZPO bestand, im Streitfall allein davon ab, ob sich aus den Aussagen der vernommenen Zeugen der erforderliche „Anbeweis“ ergibt. Dies wird das OLG im neu eröffneten Berufungsverfahren zu klären haben.

Praxistipp: Zu den zumutbaren Beweismitteln, die die Partei ausschöpfen muss, gehört auch ein Antrag auf (eigene) Parteivernehmung nach § 447 ZPO. Eine solche Vernehmung ist nur mit Zustimmung des Gegners zulässig.

Zivilprozess: Spezialisierung, Verstetigung der Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde

PräsOLG Clemens Lückemann und PräsObLG Dr. Hans-Joachim Heßler nehmen im Interview mit juris zur neuen gesetzlichen Regelung Stellung 

Der Bundestag hat am 14.11.2019 das Gesetz zur Regelung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften beschlossen. Der Gesetzgeber möchte die unbefriedigende Situation der bisher nur befristet geltenden Wertgrenze beseitigen und mit den übrigen Regelungen dem Wandel der Lebensverhältnisse und der wachsenden Komplexität der Rechtsbeziehungen begegnen.

Thomas Reiter von juris hat mit Clemens Lückemann[1], Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, über die ab dem 1.1.2021 geltenden Regelungen zu den Spezialspruchkörpern gesprochen. Dr. Hans-Joachim Heßler [2], Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts, hat er um eine Stellungnahme zur Verstetigung der Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde gebeten, die bereits am 1.1.2020 in Kraft trat. Clemens Lückemann und Dr. Hans-Joachim Heßler sind Mit-Autoren des soeben in der 33. Auflage erschienenen Zöller ZPO Kommentars, der bereits über juris abrufbar ist.

 

Spezialspruchkammern: Begrüßenswert, im Erbrecht problematisch

juris: Sehr geehrter Herr Lückemann, der Katalog obligatorischer Spezialspruchkammern in den Land- und Oberlandesgerichten in § 72a GVG bzw. § 119a GVG wird deutlich erweitert. Die Landesregierungen werden zudem ermächtigt, Spezialspruchkörper für weitere Sachgebiete einzurichten. Begrüßen Sie die Regelungen? Sehen Sie Probleme?

Lückemann: Die obligatorische Einrichtung von spezialisierten Kammern und Senaten an Land- und Oberlandesgerichten für ausgewählte Rechtsgebiete, in denen regelmäßig besonders komplexe Rechtsfragen oder Sachverhalte zu behandeln sind, ist ein wichtiger Beitrag zur Modernisierung der deutschen (Zivil-)Justiz und schreibt eine bewährte Praxis vieler Gerichtspräsidien fort. Die Regelung greift u.a. einen Beschluss des 70. Deutschen Juristentages 2014 auf. Die Einrichtung von Spezialspruchkörpern ist auch eine Reaktion auf die zunehmende Spezialisierung in der Anwaltschaft und soll als Maßnahme der Qualitätssicherung und -steigerung der Rechtsprechung zur Attraktivität des Justizstandorts Deutschland, auch im Wettbewerb mit außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen gerade bei hohen und damit auch für den Staatshaushalt attraktiven Streitwerten, beitragen. Grundsätzlich begrüße ich die Regelung also sehr. Für die Abgrenzung des neuen Spezialgebiets der sogenannten Pressesachen sehe ich keine gravierenden Probleme; hier kann man auf die bewährte Regelung des § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a ZPO zurückgreifen; danach ist z.B. bemerkenswert, dass auch Honoraransprüche unter die Spezialzuständigkeit fallen werden. Eher für unproblematisch halte ich auch die neue Spezialzuständigkeit für insolvenzrechtliche Streitigkeiten; hier kann man zur Abgrenzung auf die insoweit eingehende und präzise Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. 19/13828 S. 22 f.) zurückgreifen. Für sehr problematisch halte ich jedoch die Spezialzuständigkeit für „erbrechtliche Streitigkeiten“, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal halte ich die Regelung für überflüssig; denn ich gehe davon aus, dass alle Zivilrichterinnen und Zivilrichter auf dem zivilrechtlichen Kerngebiet des Erbrechts fit sind; wir brauchen ja auch keine Spezialspruchkörper für Kaufrecht. Vor allem aber sehe ich ganz erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten und damit Zuständigkeitsstreitigkeiten voraus, die die jeweiligen Ausgangsverfahren verzögern: Der Begriff der erbrechtlichen Streitigkeit ist bisher in der Rechtsordnung nicht geläufig. Der Hinweis der Gesetzesbegründung, erfasst seien die Streitigkeiten nach dem 5. Buch des BGB, hilft nicht wirklich weiter. Es empfiehlt sich zur Definition der erbrechtlichen Streitigkeit der Rückgriff auf § 27 Abs. 1 ZPO (Schultzky, Gutachterliche Stellungnahme zur Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 4.11.2019, S 7, hier abrufbar (PDF)). Ansonsten könnte z.B. unklar sein, ob die Zuständigkeit auch bei Ansprüchen gilt, die den Erben als Nachlassverbindlichkeit treffen, oder was bei Verfügungen unter Lebenden auf den Todesfall gelten soll (Schultzky aaO). In beiden Fällen dürfte die Spezialzuständigkeit zu verneinen sein, weil für die Entscheidung keine besonderen erbrechtlichen Kenntnisse und Erfahrungen erforderlich sind.

juris: Der neugefasste § 13a GVG ermächtigt die Landesregierungen zudem, Spruchkörper auch gerichtsübergreifend einzurichten. Wann ist eine solche Konzentration sinnvoll?

Lückemann: Die Erleichterung gerichtsbezirksübergreifender Zuständigkeitskonzentrationen auch über Ländergrenzen hinweg ist gerade im Kontext mit der erweiterten obligatorischen Errichtung von Spezialspruchkörpern an den Land- und Oberlandesgerichten gem. § 72a I, § 119a I GVG zu sehen: Wenn z.B. an kleinen Landgerichten die sieben vorgeschriebenen Spezialzuständigkeiten auf nur zwei bestehende Zivilkammern verteilt werden, die zudem noch die verbleibenden allgemeinen Sachen bearbeiten müssen, kann von einer wirklichen Spezialisierung der Richter nicht mehr die Rede sein. Allerdings darf die Zuständigkeitskonzentration nicht zu einem Rückzug der Ziviljustiz aus der Fläche und zu einem Ausbluten der kleineren Land- und Oberlandesgerichte führen; dann wäre die vom Gesetz verlangte Zweckmäßigkeit nicht mehr gegeben. Es empfiehlt sich eine von benachbarten Gerichten einvernehmlich vorgeschlagene wechselseitige Konzentration, von der jeweils alle beteiligten Gerichtsstandorte profitieren.

juris: Impliziert die Spezialisierung der Spruchkörper auch eine Änderung der Richter-Laufbahnen?

Lückemann: Voraussetzung für einen Erfolg der Neuregelung der obligatorischen Spezialisierung ist eine Mitwirkung der Justizverwaltung durch gezielte Fortbildung und eine gesteigerte Kontinuität der Personalverwendung der Mitglieder der Spezialspruchkörper. Hierzu gehört eine entsprechende Würdigung der Tätigkeit bei der weiteren Personalentwicklung. Vielleicht wird man auch über einen beamtenrechtlichen Paradigmenwechsel nachdenken müssen, nämlich über die Möglichkeit einer dienstpostenbezogenen Stellenausschreibung im Einzelfall: Wenn ein Präsidium den (Absichts-)Beschluss fasst, einen neu zu ernennenden Vorsitzenden Richter einem Spezialspruchkörper zuzuweisen, sollte in der Ausschreibung der Nachweis fundierter Kenntnisse auf dem jeweiligen Rechtsgebiet verlangt werden dürfen.

Wertgrenze der Nichtzulassungsbeschwerde: Gelungene Neuregelung

juris: Sehr geehrter Herr Dr. Heßler, seit 2002 war die Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden befristet, aber mehrfach verlängert, in § 26 EGZPO geregelt. Die aktuelle Grenze von 20.000 Euro wird nun dauerhaft in § 544 ZPO festgeschrieben. Hielten Sie die befristete Wertgrenze – wie die Bundesregierung – auch für eine „auf Dauer unbefriedigende“ Situation?

Heßler: Die Revision nach dem ZPO-Reformgesetz von 2001 war als reine Zulassungsreform konzipiert, enthielt mit der Wertgrenze nach § 26 Nr. 8 EGZPO aber von Anfang an auch ein Wertelement. Das spiegelt die Ambivalenz der Revision: sie ist Parteirechtsmittel, führt aber zum BGH (und neuerdings auch wieder zum BayObLG), also den höchsten Gerichten im Gerichtsaufbau, die der Rechtseinheit, der Fortbildung des Rechts verpflichtet sind und Fälle von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden haben. Naturgemäß sind die Ressourcen beschränkt. Eine Ausdehnung des Personaleinsatzes ist letztlich auch nur begrenzt möglich, will man den Senaten weiterhin den Überblick über die gesamte Rechtsprechung ermöglichen. Der BGH ist in erheblichem Umfang mit Nichtzulassungsbeschwerden nach § 544 ZPO befasst: dort geht es erst mal nicht um die Sache selbst, sondern um das Vorliegen der Zulassungsgründe. Man sollte dem BGH schon dauerhaft die Möglichkeit geben, seine Rechtsprechung in der Sache weiter zu entwickeln. Allein dass die als Übergangsvorschrift konzipierte Wertgrenze insgesamt fünf Mal verlängert wurde, zeigt das Bedürfnis nach einer dauerhaften Lösung. Oft wurde die Verlängerung in letzter Sekunde in einem Hauruck-Verfahren ins Bundesgesetzblatt gehievt, immer wieder verbunden mit dem Versuch, den Ländern Änderungen der Berufungsrechts zu Lasten ihrer Gerichte abzuhandeln.

juris: Die Einführung der Wertgrenze sollte den Bundesgerichtshof entlasten. Haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass die Wertgrenze dauerhaft benötigt wird – und die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung nicht besteht? Oder wäre eine gewisse Flexibilität durch periodische Überprüfungen nicht doch sinnvoll?

Heßler: Die jetzt gefundene Kombination aus dem Grundsatz der Zulassungsrevision mit einem Wertelement halte ich für sehr sinnvoll. Seit 2002 konnte man doch jetzt wirklich lange genug Erfahrungen sammeln. Man ist ja durchaus behutsam vorgegangen. Die Wertgrenze wurde nicht etwa erhöht, wie dies durchaus auch gefordert wurde. Denken Sie daran, dass die Wertgrenze im alten System 60.000 DM betrug. Die Dauerregelung ist also auch keine Rückkehr zu alten Verhältnissen.

juris: Jeder Mindeststreitwert führt zu einer Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten – ist die Anhörungsrüge als letzter Strohhalm ausreichend?

Heßler: Nicht jeder Fall kann und muss in die Revisionsinstanz gelangen. Es ist ja auch nicht so, dass man mit einem niedrigen Streitwert nie in die Revisionsinstanz kommt. Immerhin müssen die Instanzgerichte bei jedem Fall von grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts und zur Herstellung der Rechtseinheit die Revision zulassen. Wird die Revision nicht zugelassen, obwohl dies nahe gelegen hätte und die Nichtzulassungsentscheidung sich deshalb als objektiv willkürlich darstellt, ist dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter. Fazit: Die Neuregelung halte ich für gelungen. Einzelfallgerechtigkeit und Funktionsfähigkeit des BGH im Interesse der Rechtseinheit werden in einen sachgerechten Ausgleich gebracht.

juris: Herr Lückemann, Herr Dr. Heßler, vielen Dank für das Gespräch!

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Hinweis: Dieser Beitrag ist ursprünglich im juris-Magazin erschienen und wird hier mit freundlicher Erlaubnis der juris GmbH veröffentlicht.

[1] Clemens Lückemann ist seit 2013 Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, seit 2015 berufsrichterliches Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, zuvor Generalstaatsanwalt in Bamberg, Ministerialrat. Seit 1981 ist er im bayerischen Justizdienst, in Verwendung als Richter, Staatsanwalt und im Bayerischen Staatsministerium der Justiz tätig. Er ist Mit-Autor des „Zöller ZPO“ und bearbeitet dort das GVG und EGGVG.

[2] Dr. Hans-Joachim Heßler ist seit 2018 Präsident des Bayerischen Obersten Landesgerichts, seit 2010 berufsrichterliches Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Er ist seit 1985 im bayerischen Justizdienst, in Verwendung im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, als Staatsanwalt und Richter tätig. Promotion zu einem Thema des Internationalen Privatrechts (summa cum laude, Fakultätspreis). Mit-Autor des „Zöller ZPO„.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Vergütung des Rechtsanwalts im Falle einer Zurückverweisung vom Rechtsmittelgericht an ein erstinstanzliches Gericht, das mit der Sache bislang noch nicht befasst war.

Anwaltsvergütung bei Diagonalverweisung
Beschluss vom 20. November 2019 – XII ZB 63/19

Der XII. Zivilsenat entscheidet eine in Literatur und Instanzrechtsprechung umstrittene Frage.

Der Antragsteller hatte seine frühere Ehefrau kurz nach der Scheidung beim LG auf Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch genommen. Das LG wies die Klage als unzulässig ab. Der Zivilsenat des OLG verwies die Sache an das zuständige Familiengericht. Dieses wies das Zahlungsbegehren als unbegründet ab. Der Familiensenat des OLG entschied teilweise zugunsten des Ehemanns, legte ihm aber die Mehrkosten auf, die durch die Klage beim LG entstanden sind. Das AG setzte zugunsten der Ehefrau für das Verfahren vor dem LG und vor dem Zivilsenat des OLG jeweils eine Verfahrens- und eine Terminsgebühr fest. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Ehemanns blieb erfolglos.

Die Rechtsbeschwerde des Ehemanns hat ebenfalls keinen Erfolg. Der BGH tritt der vom Beschwerdegericht vertretenen Auffassung bei, dass die beim Landgericht entstandenen Gebühren in vollem Umfang Mehrkosten darstellen, weil nach der Zurückverweisung der Sache an das Familiengericht sowohl die Verfahrensgebühr als auch die Terminsgebühr von neuem entstanden sind. Bei einer Verweisung oder Abgabe an ein anderes Gericht bilden die Verfahren vor dem verweisenden und dem übernehmenden Gericht nach § 20 Satz 1 RVG einen einheitlichen Rechtszug. Nach § 20 Abs. 2 RVG entsteht hingegen ein neuer Rechtszug, wenn die Verweisung oder Abgabe an ein Gericht einer niedrigeren Instanz erfolgt. Diese Vorschrift greift unabhängig davon, ob sich das zuerst angerufene Gericht als zuständig angesehen hat oder nicht. Entgegen einer verbreiteten Auffassung gilt sie darüber hinaus nicht nur im Verhältnis zwischen dem verweisenden und dem übernehmenden Gericht, sondern auch im Verhältnis zwischen dem übernehmenden und dem zuerst angerufenen Gericht. Im Streitfall sind damit gesonderte Gebühren für insgesamt vier Instanzen angefallen (LG – OLG Zivilsenat – AG – OLG Familiensenat). Die Gebühren für die beiden ersten Rechtszüge gehören zu den vom Ehemann zu tragenden Mehrkosten.

Praxistipp:  Bei einer Zurückverweisung an ein Gericht, das mit der Sache bereits befasst war, entsteht nach § 21 Abs. 1 RVG ebenfalls ein neuer Rechtszug. In diesem Fall ist die im ersten Durchgang entstandene Verfahrensgebühr aber gemäß Vorbem. 3 Abs. 6 VV-RVG auf die Verfahrensgebühr für das erneute Verfahren anzurechnen.

Schriftsatz des Kanzleikollegen per beA versenden? Das BAG erklärt, wie es geht.

Immer neue Rechtsfragen wirft das besondere elektronische Anwaltspostfach auf. Das BAG (Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 8 AZN 589/19) hatte kürzlich den Fall zu entscheiden, dass unter einem per beA übersandten Dokument der Namenszug des Rechtsanwalts A. aufgebracht war, das Dokument aber aus dem Anwaltspostfach des in derselben Kanzlei tätigen Rechtsanwalts B. übermittelt wurde.

Nach § 130a Abs. 3 Alt. 2 ZPO ist die Form als elektronisches Dokument gewahrt, wenn es „von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden ist“. Als sog. einfache Signatur reicht in diesem Fall die Wiedergabe des Namenszugs am Ende des Textes aus (vgl. nur Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 130a ZPO Rn. 9) aus. Das beA ist gem. § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO ein sicherer Übermittlungsweg. Alles wäre also in Ordnung, wenn nicht § 130a Abs. 3 ZPO die Signatur der „verantwortenden“ Person verlangen würde. Darunter wird bisher ganz überwiegend verstanden, dass zwischen der signierenden und der das Anwaltspostfach verwendenden Person Identität bestehen muss (OLG Braunschweig, Beschluss vom 08. April 2019 – 11 U 146/18, MDR 2019, 1019; kritisch Lapp jurisPR-ITR 17/2019 Anm. 3). Rechtsanwalt B. hätte daher ebenfalls noch seinen Namenszug unter das Dokument setzen müssen, um die Form zu wahren, was sich in der Praxis aber als schwierig darstellen könnte, wenn ihm das Dokument „versandfertig“ als pdf-Datei vom Kollegen zur Verfügung gestellt wurde.

Das BAG musste diese Frage nicht entscheiden, denn Rechtsanwalt B. hatte das Dokument vor der Versendung außerdem mit seiner eigenen qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Da diese die gleiche Rechtswirkung wie seine handschriftliche Unterschrift hat, sah es die Form des § 130a Abs. 3 Alt. 1 ZPO als gewahrt an: Rechtsanwalt B. habe die Verantwortung für das Dokument übernommen. Dass Rechtsanwalt A. unter dem Schriftsatz genannt wurde, hat das BAG zutreffenderweise nicht gestört.

Möchte also Rechtsanwalt B. einen Schriftsatz für den Kollegen A. aus seinem Anwaltspostfach versenden, den dieser nicht selbst qualifiziert elektronisch, sondern lediglich „einfach“ signiert hat, empfiehlt es sich dringend, ihn qualifiziert elektronisch zu signieren! Dann ist nur noch darauf zu achten, dass auch Rechtsanwalt B. Prozessvollmacht hat.

 

 

BGH zum stillschweigenden Wiedereinsetzungsantrag

Im Rahmen eines Teilungsversteigerungsverfahrens hatte die Antragsgegnerin gegen einen am 25.1.2018 zugestellten Beschluss am 21.2.2018 Beschwerde eingelegt. Die Frist zur Begründung wurde antragsgemäß bis zum 20.4.2018 verlängert. Mit Schriftsatz vom 16.4.2018 bat die Verfahrensbevollmächtigte um eine weitere Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist, weil noch eine ausführliche Besprechung mit der Antragsgegnerin notwendig sei, diese aber krankheitsbedingt noch nicht durchgeführt werden konnte. Die Antragsgegnerin befinde sich in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme, die voraussichtlich vier Wochen (12.4. bis 10.5.2018) andauern werde. Am 11.5.2018 teilte das OLG der Antragsgegnerin mit, die Frist könne mangels Zustimmung des Gegners nicht nochmals verlängert werden und sei damit versäumt. Mit Schriftsatz vom 29.5. begründete die Verfahrensbevollmächtigte die Beschwerde ausführlich und teile nochmals ergänzend weitere Umstände zur Erkrankung der Antragsgegnerin mit. Nach einem weiteren Hinweis des OLG beantragte die Antragsgegnerin am 22.6.2018 schließlich Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist. Dies wurde u.a. damit begründet, der Antragsgegnerin sei durchgängig von ärztlicher Seite geraten worden, sich während der Rehabilitation nicht mit Prozessen zu befassen. Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag und die Beschwerde verworfen.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg! Nach der Auffassung des BGH (Beschl. v. 12.6.2019 – XII ZB 432/18, MDR 2019, 1149 = MDR 2019, 1299 [Elzer]) hat das OLG mit der angefochtenen Entscheidung das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes der Antragsgegnerin verletzt. Die Wiedereinsetzung sei nicht verspätet beantragt worden. Der Schriftsatz vom 29.5.2018 sei vielmehr als stillschweigender Wiedereinsetzungsantrag anzusehen. Ausreichend dafür sei bereits, dass in dem Schriftsatz konkludent zum Ausdruck gebracht werde, dass das Verfahren trotz einer verspäteten Einreichung eines Schriftsatzes fortgesetzt werden solle. Die erforderliche, aus sich heraus verständliche und geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus denen sich die Gründe für die Fristversäumnis ergeben, sei in dem Schriftsatz enthalten. Der ausdrückliche Wiedereinsetzungsantrag vom 22.6.2018 enthalte nur noch ergänzende Angaben.

Damit stehe allerdings noch nicht fest, dass die beantragte Wiedereinsetzung auch bewilligt werden kann. Die Erkrankung des Rechtsmittelführers kann grundsätzlich eine Wiedereinsetzung rechtfertigen, wenn dieser nicht dazu in der Lage ist, den Rat eines Rechtsanwalts einzuholen und diesen sachgemäß zu unterrichten. Notwendig dafür ist allerdings, dass selbst eine telefonische Verständigung über eine fristgerecht vorzulegende Beschwerdebegründung mit einem Verfahrensbevollmächtigten nicht möglich war. Der BGH gibt dem OLG dann auf, zu prüfen, ob dies vorliegend wirklich glaubhaft gemacht wurde. Insbesondere dränge es sich hier auf, unter Umständen weitere ärztliche Bescheinigungen anzufordern. Die Antragsgegnerin hat somit nur einen Etappensieg errungen. Ob sie tatsächlich Wiedereinsetzung bewilligt bekommt, bleibt zunächst offen.

Für den Rechtsanwalt ist es wichtig, die Fristen für einen Wiedereinsetzungsantrag immer im Auge zu behalten. Sobald diesbezüglich etwas auffällt, ist die Frist zu berechnen und im Kalender – auffällig (!) – zu notieren. Lediglich als Notanker muss in Zweifelsfällen noch geprüft werden, ob ein anderer, noch fristgemäß eingereichter Schriftsatz unter Umständen schon als stillschweigender Wiedereinsetzungsantrag ausgelegt werden kann. Dies kann dann vielleicht eine „Rettung“ sein. Verlassen sollte man sich darauf jedoch besser nicht.