Anwaltsblog 11/2024: Wann darf das Gericht eine beantragte Zeugenvernehmung zurückweisen?

Unter welchen Voraussetzungen ein Gericht eine Partei mit einem Beweismittel (hier: Zeugenvernehmung) wegen dessen Nichterreichbarkeit ausschließen darf, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2025 – XII ZR 5/23):

 

Die Beklagte ist zur Zahlung rückständiger Miete für eine Gaststätte in Höhe von 22.120,10 € nebst Zinsen verurteilt worden. Mit ihrer Berufung hat sie behauptet, es sei mündlich eine Mietreduzierung vereinbart worden, und zum Beweis das Zeugnis ihrer Mutter angeboten. Das Berufungsgericht hat von der Vernehmung der Zeugin abgesehen und den Beweis als nicht erbracht angesehen. Die Zeugin sei reise- und verhandlungsunfähig. Eine Beweisaufnahme in  Form einer Video-Übertragung sei auf unabsehbare Zeit nicht durchführbar, sodass die Beklagte beweisfällig geblieben sei. Die Verurteilung wurde daher lediglich auf 20.902 € nebst Zinsen korrigiert und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Die Beklagte rügt mit Recht, dass sie durch die angefochtene Entscheidung in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist. Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Steht der Aufnahme des Beweises ein Hindernis von ungewisser Dauer entgegen, so hat das Gericht nach § 356 ZPO durch Beschluss eine Frist zu bestimmen, nach deren fruchtlosem Ablauf das Beweismittel nur benutzt werden kann, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts dadurch das Verfahren nicht verzögert wird.

Im vorliegenden Fall fehlt es hinsichtlich der Vernehmung der angebotenen Zeugin bereits an einem Hindernis iSv. § 356 ZPO. Denn das Berufungsgericht hat nicht sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die Durchführung der Zeugenvernehmung ausgeschöpft. Aufgrund der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen war die Zeugin zwar nicht reisefähig. Sie konnte danach weder vor dem Berufungsgericht noch vor dem vom Berufungsgericht für eine Videovernehmung ausgewählten Amtsgericht erscheinen. Daraus ergibt sich aber noch keine Undurchführbarkeit der Zeugenvernehmung. Vielmehr standen dem Berufungsgericht dazu weitere Möglichkeiten zur Verfügung, welche die Reisefähigkeit der Zeugin nicht voraussetzten. So bestand die Möglichkeit, die Zeugin nach § 375 Abs. 1 Nr. 2 ZPO durch ein Mitglied des Berufungssenats zu vernehmen. Hätte dem entgegengestanden, dass ein unmittelbarer Eindruck von der Zeugin unerlässlich war, hätte das Berufungsgericht eine Vernehmung der Zeugin durch den vollbesetzten Senat in deren Wohnung gemäß § 219 Abs. 1 ZPO in Erwägung ziehen und erforderlichenfalls durchführen müssen. Dagegen hat das Berufungsgericht neben der von ihm verworfenen schriftlichen Beantwortung der Fragen lediglich eine Videovernehmung versucht, was mangels Reisefähigkeit der Zeugin gescheitert ist. Zwar hat das Berufungsgericht daneben noch eine mangelnde Verhandlungsfähigkeit der Zeugin angeführt. Abgesehen davon, dass es bei Zeugen nicht auf die Verhandlungs-, sondern auf die Vernehmungsfähigkeit ankommt, fehlt es an einer Begründung, warum die Zeugin nicht zu einer Aussage in der Lage gewesen sein sollte. Allein ihr Alter von seinerzeit 83 Jahren und ihre fehlende Reisefähigkeit genügen dazu nicht.

 

Fazit: Die Zurückweisung einer beantragten Zeugenvernehmung wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass diese Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann; weder die Unwahrscheinlichkeit der Tatsache noch die Unwahrscheinlichkeit der Wahrnehmung der Tatsache durch den benannten Zeugen berechtigen den Tatrichter dazu, von der Beweisaufnahme abzusehen (BGH, Beschluss vom 12. Mai 2021 – XII ZR 152/19 –, MDR 2021, 958).

BGH: Zulässigkeit und Prüfungsumfang bei Rechtsmitteln

Nicht nur die unteren Instanzen werden beständig mit mehr oder weniger nicht zielführenden Eingaben beschäftigt, manche davon erreichen auch den BGH. Im hier zu berichtenden Fall führte ein solcher Fall sogar zu zwei Entscheidungen des BGH (Beschl. v. 13.3.2024 und 4.12.2024 – II ZB 17/23)!

Das LG hatte einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die von dem Antragsteller gegen den Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde wurde von dem OLG zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde wurde von dem OLG nicht zugelassen, jedoch vom Antragsteller gleichwohl eingelegt.

Der BGH verwarf zunächst die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Der Beschluss des OLG ist unanfechtbar (§ 577 Abs. 1 S. 2, § 574 Abs. 1 S. 1, § 127 Abs. 2 ZPO). Die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde ist gleichfalls unanfechtbar, da es im Beschwerdeverfahren an einer dem § 544 ZPO (Nichtzulassungsbeschwerde) entsprechenden Vorschrift fehlt. Der Gesetzgeber hatte von einer solchen Möglichkeit im Beschwerdeverfahren bewusst abgesehen. Die Zulassung einer außerordentlichen Beschwerde ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Der Antragsteller muss den Beschluss des OLG mithin hinnehmen.

Die Konsequenz dieser Entscheidung war: Der Kostenbeamte des BGH musste dem Antragsteller eine Festgebühr in Höhe von 132 € in Rechnung stellen (GKG Anlage 1 Nr. 1826), und zwar ohne Rücksicht darauf, dass der vorstehend geschilderte Beschluss keine Kostenentscheidung erhielt. Die erwähnte Gebühr entsteht kraft Gesetzes (§ 22 Abs. 1 S. 1 GKG). Zwar ist das Verfahren für die Beantragung von Prozesskostenhilfe, einschließlich des diesbezüglichen Beschwerdeverfahrens, grundsätzlich kostenfrei; dies gilt jedoch nicht für eine unzulässige Rechtsbeschwerde. Gegen die Kostenanforderung legte der Antragssteller Erinnerung ein und verwies darauf, dass die vorherige Entscheidung unrichtig sei.

Damit konnte er keinen Erfolg haben. Die Erinnerung ist allerdings gemäß § 66 Abs. 1 GKG zulässig. Auch bei dem BGH ist der Einzelrichter zur Entscheidung berufen. Die Erinnerung ist jedoch unbegründet. Im Rahmen eines Erinnerungsverfahrens können nur noch die Entscheidungen im Kostenansatzverfahren auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Eine erneute Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung, auf der die Kostenrechnung beruht, ist nicht möglich. Die Erinnerung wurde daher zurückgewiesen. Diese Entscheidung erging zum Glück für den Antragsteller kostenfrei und auch ohne Kostenerstattungspflicht (§ 66 Abs. 8 ZPO).

Fazit: Beim Einlegen unzulässiger Rechtsmittel muss stets an die Kostenkonsequenz gedacht werden. Dies muss der Rechtsanwalt gegenüber dem Mandanten immer deutlich kommunizieren. Hier ging es nur um eine recht niedrige Festgebühr. Wenn sich jedoch die Gebühren nach dem Streitwert richten, können sehr unliebsame Überraschungen drohen!

Anwaltsblog 10/2024: Befangenheit eines Richters bei Mitwirkung an Versäumnisurteil in erster Instanz?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob der Vorsitzende eines Berufungssenats gemäß § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist, wenn er in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hatte, das in dem die Instanz abschließenden streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2025 – I ZB 40/24):

 

In einem Wettbewerbsprozess war Vorsitzender Richter am OLG K., damals noch als Vorsitzender einer Zivilkammer des Landgerichts, in erster Instanz am Erlass eines (ersten) Versäumnisurteils gegen die Beklagte beteiligt. Durch Endurteil, erlassen ohne die Beteiligung von K., erhielt die Kammer das Versäumnisurteil im Wesentlichen aufrecht. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. K. sitzt dem zuständigen Berufungssenat des OLG vor. Die Beklagte meint, er sei wegen Mitwirkung an der angefochtenen Entscheidung nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen. Der Berufungssenat hat das Ablehnungsgesuch der Beklagten für unbegründet erklärt.

Der BGH ist mit dem OLG der Ansicht, dass ein Richter, der in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil gegen den Beklagten mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist, nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen ist. Er möchte die Rechtsbeschwerde daher zurückweisen, sieht sich an einer solchen Entscheidung aber gehindert, weil er damit von der Rechtsprechung des 5. Senats des BAG abwiche. Nach dessen Auffassung ist ein Richter, der in der Vorinstanz ein Versäumnisurteil erlassen hat, das auf Grund eines Einspruchs in einer neuen Entscheidung, an der ein anderer Richter mitgewirkt hat, aufgehoben oder bestätigt worden ist, gegen die nunmehr Berufung eingelegt wird, jedenfalls dann gemäß § 41 Nr. 6 ZPO von der weiteren Ausübung des Richteramts im Berufungsverfahren ausgeschlossen, wenn es sich – wie vorliegend – um ein nach § 331 Satz 1 ZPO gegen den säumigen Beklagten erlassenes Versäumnisurteil handelt, das gemäß § 343 ZPO aufrechterhalten worden ist (BAG, Beschluss vom 7. Februar 1968 – 5 AR 43/68). Deshalb ist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 RsprEinhG beim 5. Senat des BAG anzufragen, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält:

Nach Ansicht des Senats hat das OLG zu Recht entschieden, dass K. im vorliegenden Berufungsverfahren nicht nach § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen ist. Danach ist ein Richter in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt, von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen. Dieser Ausschlussgrund greift nicht ein, wenn der Richter – wie im Streitfall – in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist. Es liegt zwar eine Mitwirkung in einem früheren Rechtszug vor, die sich nicht lediglich auf die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters erstreckt. Die Mitwirkung betrifft jedoch nicht den Erlass der angefochtenen Entscheidung. Nach § 511 Abs. 1 ZPO findet die Berufung gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt. Vorliegend ist das die erste Instanz beendende Urteil nicht das Versäumnisurteil vom 8. März 2023, an dem K. mitgewirkt hat, sondern das Urteil vom 23. November 2023 aufgrund streitiger mündlicher Verhandlung, an dem K. nicht mitgewirkt hat. Dass mit dem angefochtenen Urteil ein unter Mitwirkung des Richters erlassenes Versäumnisurteil aufrechterhalten worden ist, stellt keine Mitwirkung des Richters an der angefochtenen Entscheidung dar. Bei einem zulässigen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil ist das Gericht zu einer vollständigen Prüfung der Sache verpflichtet, und zwar auch dann, wenn der durch § 342 ZPO bewirkte Wegfall der Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht zu einer Veränderung der Tatsachengrundlage führt. Insbesondere kann und muss es die Schlüssigkeit der Klage ohne Bindung an das Versäumnisurteil neu beurteilen.

Es ist nicht geboten, die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO über ihren Wortlaut hinaus auf die Mitwirkung an einem ersten Versäumnisurteil anzuwenden, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist. Die ZPO wird von dem Gedanken geprägt, dass Richterinnen und Richter grundsätzlich auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn sie sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet haben. Das Verfahrensrecht sieht sie dazu in der Lage, ihre rechtliche Beurteilung fortlaufend zu überprüfen, sei es innerhalb desselben Verfahrens, sei es in einem nachfolgenden Verfahren. Die Regelung des § 41 Nr. 6 ZPO stellt eine begrenzte Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Rechtsmittelverfahrens sollen Richterinnen und Richter eine Entscheidung, an der sie selbst mitgewirkt haben, nicht in einem späteren Rechtszug überprüfen. Darüber hinaus eröffnet § 42 Abs. 1 Fall 2, Abs. 2 und 3 ZPO jeder Partei das Recht, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Für eine analoge Anwendung des § 41 Nr. 6 ZPO fehlt es daher bereits an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.

 

Fazit: Der Ausschlussgrund des § 41 Nr. 6 ZPO greift nicht ein, wenn der Richter in der Vorinstanz an einem ersten Versäumnisurteil mitgewirkt hat, das in dem die Instanz abschließenden und nunmehr angefochtenen streitigen Urteil ohne Mitwirkung des Richters aufrechterhalten worden ist.

 

Anwaltsblog 9/2025: Folgen der verzögerten Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses (eEB)

Wie ein ungewöhnlich langer Zeitraum (sechs Wochen) zwischen dem Zeitpunkt der elektronischen Übersendung eines gerichtlichen Dokuments und dem eEB des Rechtsanwalts angegebenen Zustelldatum zu bewerten ist, hatte das OLG Celle zu entscheiden (OLG Celle, Beschluss vom 31. Januar 2025 – 20 U 8/24):

In einem Berufungsverfahren hat der Senat den Kläger gemäß § 522 Abs. 2 ZPO mit Beschluss vom 28. Oktober 2024 auf die Aussichtslosigkeit seiner Berufung hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Wochen ab Zustellung gegeben. Die elektronische Eingangsbestätigung aus dem System des Klägervertreters weist als Datum des Eingangs auf seinem Server den 5. November 2024 um 13:08:24 Uhr aus. Am 16. Dezember 2024 (13:31:08 Uhr) hat der Klägervertreter das elektronische Empfangsbekenntnis zurückgesandt und als Zustelldatum den 16. Dezember 2024 angegeben. Mit Beschluss vom selben Tag hat der Senat den Klägervertreter aufgegeben mitzuteilen, ob es sich bei der Datumsangabe um ein Versehen handele und – verneinendenfalls – die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals zu der elektronischen Übersendung des Senatsbeschlusses vom 28. Oktober 2024 bis zum 23. Dezember 2024 angeordnet. Daraufhin hat der Kläger beantragt, ihm eine Frist zur Erwiderung bis zum 23. Januar 2025 einzuräumen. Diesen Antrag hat der Senat zurückgewiesen, aber darauf hingewiesen, nicht vor dem 14. Januar 2025 über die Berufung des Klägers zu entscheiden. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2025 hat der Kläger Stellung genommen.

Das OLG stellt fest, dass der Schriftsatz vom 13. Januar 2025 erst nach Ablauf der insoweit nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO gesetzten Frist eingegangen. Der Hinweisbeschluss vom 28. Oktober 2024 ist dem Klägervertreter schon deutlich vor dem 16. Dezember 2024 gemäß § 173 Abs. 3 ZPO zugestellt worden. Davon ist der Senat überzeugt, nachdem der Kläger seiner sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist und sich – trotz entsprechender Hinweise des Senats – nicht substantiiert zu den Umständen erklärt hat, die die Richtigkeit des vorliegenden Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Zudem hat er – trotz gerichtlicher Anordnung – auch nicht das beA-Nachrichtenjournal des Klägervertreters vorgelegt. Die Zustellung eines elektronischen Dokuments an einen Rechtsanwalt nach § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO wird gem. § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch ein eEB nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Für die Rücksendung des eEB in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des eEB setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen. Darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein eEB nicht ausgelöst wird. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt insoweit gemäß § 175 Abs. 3 ZPO (= § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F.) gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. Der Gegenbeweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem anderen Zeitpunkt erreicht hat, ist damit zwar nicht ausgeschlossen; nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im eEB. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, also jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden. An die Führung des die Beweiswirkungen eines anwaltlichen Empfangsbekenntnisses beseitigenden Gegenbeweises sind strenge Anforderungen zu stellen. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz bzw. ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis für sich genommen noch nicht. An den Beweis der Unrichtigkeit des eEB dürfen aber auch keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Es gelten die Grundsätze der sekundären Darlegungslast, wenn konkrete Umstände – wie beispielsweise ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im eEB angegebenen Zustelldatum – die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Das ist bei der Annahme- bzw. Empfangsbereitschaft als Voraussetzung für die Zustellung gegen EB nach §§ 173, 175 ZPO der Fall. Zu der subjektiven Willensentscheidung, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen, können nur die betreffende Partei und ihr Prozessbevollmächtigter vortragen. Für das Empfangsbekenntnis hat das zur Folge, dass sich der Prozessgegner zu Umständen, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, substantiiert erklären muss. Er kann sich daher nicht damit begnügen, pauschal die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zu behaupten, sondern muss seinerseits erklären, wann sein Rechtsanwalt die Nachricht zum ersten Mal gelesen hat und wie es zu der Verzögerung kam.

Außerdem kann nach §§ 142, 144 ZPO die gerichtliche Anordnung getroffen werden, das beA-Nachrichtenjournal des Rechtsanwalts vorzulegen, wenn begründete Zweifel an der Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses bestehen, wenn auch die Beweislast damit nicht übergeht. Denn in der beA-Infrastruktur wird für jede Nachricht, die gesendet oder empfangen wird, ein Eintrag als sog. Nachrichtenjournal erzeugt. .Die beA-Nachrichten inklusive des zugehörigen Journals werden nach 120 Tagen automatisch gelöscht. Ob Rechtsanwälte darüber hinaus gemäß § 50 BRAO die beA-Nachrichten und damit auch das Nachrichtenjournal vor der Löschung zu exportieren und zu archivieren haben, kann dahinstehen, weil der Zeitraum der automatischen Löschung von 120 Tagen im Zeitpunkt der Anordnung durch den Senat noch nicht verstrichen war. Dabei ist zwar stets zu berücksichtigen, dass auch das beA-Nachrichtenjournal lediglich objektive Umstände nachzuweisen vermag, aber keinen unmittelbaren bzw. zwingenden Rückschluss im Hinblick auf die (subjektive) Willensentscheidung des Empfängers zulässt, das elektronische Dokument als zugestellt entgegenzunehmen. Allerdings muss sich die betroffene Partei gleichwohl substantiiert zu den Umständen erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses – etwa wegen der zeitlichen Diskrepanz – zweifelhaft erscheinen lassen, und es kann ggf. auf einen (konkludenten) Annahmewillen geschlossen werden. Diesen Maßstab zugrunde gelegt ist der Senat davon überzeugt, dass die Zustellung des Hinweisbeschlusses nach § 173 Abs. 3 ZPO tatsächlich schon so früh – mithin (deutlich) vor dem 29. November 2024 – erfolgt ist, dass die Stellungnahmefrist im Zeitpunkt des Schriftsatzes vom 23. Dezember 2024 und erst recht bei Eingang des Schriftsatzes vom 13. Januar 2025 bereits abgelaufen war. Der Kläger ist weder seiner sekundären Darlegungslast nachgekommen noch hat er das beA-Nachrichtenjournal seines Prozessbevollmächtigten vorgelegt. Vielmehr hat er den Hinweisbeschluss des Senats vom 16. Dezember 2024 ignoriert und die benannten Ungereimtheiten in Bezug auf die zeitlichen Abläufe nicht erklärt. Der Gegenbeweis zu dem in dem elektronischen Empfangsbekenntnis von dem Klägervertreter angegebenen Datum ist damit – trotz der an ihn zu stellenden strengen Anforderungen – geführt; es ist ausgeschlossen, dass die Zustellung (erst) am 16. Dezember 2024 erfolgt ist.

 

Fazit: Ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem dokumentierten Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis des Rechtsanwalts angegebenen Zustelldatum erbringt den Beweis der Unrichtigkeit der Datumsangabe für sich genommen noch nicht. In einem solchen Fall kann die Partei nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtet sein, sich substantiiert zu den Umständen zu erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, und zu dem tatsächlichen Zeitpunkt der subjektiv empfangsbereiten Kenntnisnahme vorzutragen. Außerdem kann das Gericht nach §§ 142, 144 ZPO die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals des Rechtsanwalts der Partei anordnen. Erklärt sich die Partei nicht und legt auch das beA-Nachrichtenjournal ihres Rechtsanwalts nicht vor, kann der Beweis der Unrichtigkeit des in dem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums geführt sein.

BAG: Notwendige Verkündung eines Urteils

Leider ereignen sich in der hektischen Alltagspraxis in den Tatsacheninstanzen immer wieder Versäumnisse, die Zeit und Geld kosten und eigentlich vermieden werden sollten. Im hier zu berichtenden Fall erließ das ArbG nach mündlicher Verhandlung in einem Verkündungstermin ein Teilurteil. Dieses Urteil wurde auch schriftlich verfasst und war von allen Richtern unterzeichnet. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hatte darauf einen Verkündungsvermerk angebracht. Weiterhin wurde das Urteil aufgrund einer Verfügung der Urkundsbeamtin an die Parteien zugestellt. Ein Verkündungsprotokoll existierte allerdings nicht.

Die Beklagte legte gegen das Urteil Berufung ein, die vom LAG zurückgewiesen wurde. Auf die Revision der Beklagten wurde der Rechtsstreit an das Arbeitsgericht zurückverwiesen!

Das BAG (Beschl. v. 24.10.2024 – 3 AZR 260/23) sieht hier einen nicht mehr behebbaren Verfahrensfehler, da es an einer Verkündung des erstinstanzlichen Urteils fehlte. Damit ist die erste Instanz noch nicht abgeschlossen. Das Urteil war nur ein Urteilsentwurf. Folglich war auch nichts in der zweiten Instanz angefallen und das LAG hätte das Scheinurteil, wogegen eine Berufung zweifellos zulässig ist, aufheben und die Sache an das ArbG zurückverweisen müssen. Dies hat das BAG nunmehr nachgeholt.

Im Einzelnen gilt: Ein Urteil muss in öffentlicher Sitzung verkündet werden (§§ 60, 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, 311 Abs. 2 S. 1 ZPO, 173 Abs. 1 GVG). Erst dadurch wird das Urteil existent. Davor liegt nur ein Entwurf vor. Der Nachweis der Förmlichkeit kann nur durch das Protokoll bewiesen werden (§ 165 S. 1 ZPO). Allerdings führen Verkündungsmängel nur dann zur Unwirksamkeit des Urteils, wenn gegen elementare Formerfordernisse verstoßen wurde. Dabei muss allerdings die Verlautbarung vom Gericht wenigstens beabsichtigt worden sein. Ausreichend ist es, wenn beispielsweise der Vorsitzende die Zustellung an die Parteien verfügt, da damit der Wille, die Entscheidung zu erlassen, klar zu Tage getreten ist. Daran fehlte es vorliegend jedoch gleichfalls: Die Zustellung des Urteils wurde von der Urkundsbeamtin verfügt, diese kann den Vorsitzenden diesbezüglich nicht ersetzen, da sie das Urteil nicht verfasst hat.

Die Parteien waren durch diese Entscheidung überrascht worden, da sie diese Umstände nicht gerügt haben. Dies ist jedoch unerheblich, da derartige Mängel von Amts wegen zu beachten sind. In einer solchen Fallkonstellation steht auch § 68 ArbGG der Zurückverweisung an das ArbG nicht entgegen. Die Gerichtskosten für das Revisionsverfahren wurden gemäß § 21 Abs. 1 S. 1 GKG nicht erhoben. Die Kosten für die Berufungsinstanz darf die Revisionsinstanz nicht niederschlagen.

Fazit: Für die Gerichte ist es im Regelfall unerlässlich, ein Verkündungsprotokoll anzufertigen. Dies gilt auch und gerade nach der Einführung der elektronischen Akte. Natürlich darf auch die Signatur nicht vergessen werden! In diesem Zusammenhang können sich kleinere Versäumnisse durch überlastete Richter leider bitter rächen.

Anwaltsblog 8/2025: Folgen der beharrlichen Verweigerung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses

Mit einem Rechtsanwalt, der bei einem elektronisch übersandten Urteil das eEB nicht zurückschickte, hatte sich das Kammergericht zu befassen (KG Berlin, Beschluss vom 24. Januar 2025 – 7 U 17/24):

 

Das angefochtene Urteil vom 16. Januar 2024 ist von der Geschäftsstelle des Landgerichts an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin – wie auch an den Beklagtenvertreter – mit eEB-Anforderung am 17. Januar 2024, 13:28 Uhr versandt worden. Unmittelbar darauf, um 13:28:17 Uhr, gingen elektronische Eingangsbestätigungen beider Parteivertreter ein. Nachdem das eB des Klägervertreters vom LG erfolglos moniert worden war, hat das LG das Urteil dem Klägervertreter erneut gegen Postzustellungsurkunde am 6. März 2024 zugestellt. Am 15. März 2024 ging die Berufung des Klägervertreters beim KG als elektronisches Dokument ein. Der Senat hat daraufhin den Prozessbevollmächtigten der Kläger darauf hingewiesen, dass Bedenken hinsichtlich der Wahrung der Berufungsfrist bestehen, und ihm aufgegeben zu erklären, wie es dazu kam, dass er trotz zweimaliger Aufforderung kein eB über die Zustellung des ihm am 17. Januar 2024 elektronisch übersandten Urteils zurückgesandt hat. Insbesondere wurde er dazu aufgefordert mitzuteilen, ob er keinen Empfangswillen hatte und, wenn ja, warum nicht. Auf dieses Schreiben hat der Klägervertreter nicht geantwortet. Daraufhin hat der Senat gemäß § 142 Abs. 1 ZPO angeordnet, dass die Kläger bis zum 2. Oktober 2024 das beA-Nachrichtenjournal des Klägervertreters zu der elektronischen Übersendung des Landgerichtsurteils am 16. Januar 2024 in ausgedruckter Form vorzulegen haben. Da auf die elektronische Zustellung dieses Beschlusses kein eeB seitens des Klägervertreters zurückgesandt worden ist, hat der Senat mit Beschluss vom 1. November 2024 erneut angeordnet, dass die Kläger binnen zwei Wochen das beA-Nachrichtenjournal vorzulegen haben. Dieser Beschluss ist dem Klägervertreter sowohl elektronisch – wobei wiederum kein eeB vom Klägervertreter zurückgesandt worden ist – als auch gegen PZU am 20. November 2024 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 4. Dezember 2024 hat der Klägervertreter beantragt, die Frist zur Vorlage des Nachrichtenjournals bis zum 3. Januar 2025 zu verlängern. Der Senat hat daraufhin die Frist bis zum 3. Januar 2025 verlängert. Hierauf erfolgte keine weitere Reaktion seitens der Kläger.

Das Kammergericht verwirft die Berufung, weil die Berufungsfrist nicht gewahrt wurde. Die Berufung ist am 15. März 2024 beim KG eingegangen. Die Berufungsfrist war zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen, weil dem Klägervertreter das Landgerichtsurteil schon deutlich früher, jedenfalls vor dem 15. Februar 2024 zugestellt worden war. Denn es ist von einer Zustellung vor dem 15. Februar 2024 jedenfalls gemäß § 189 ZPO auszugehen. Nach § 189 ZPO gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt, in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Allein der Umstand, dass der Rechtsanwalt – wie hier – eine Rücksendung des ihm zu Zwecken der Beurkundung des Zustellungsempfangs übermittelten eB unterlässt, hindert eine Heilung des Zustellungsmangels gemäß § 189 ZPO nicht, wenn neben dem tatsächlichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks die weiter erforderliche Empfangsbereitschaft des Zustellungsempfängers anderweit festgestellt werden kann.

Der Senat ist nach einer Gesamtwürdigung des Verfahrensstoffes jenseits vernünftiger Zweifel davon überzeugt, dass die Zustellung des Landgerichtsurteils an den Klägervertreter bereits deutlich vor dem 15. Februar 2024 erfolgt ist. Der Klägervertreter hat entgegen der Anordnung des Senats das beA-Nachrichtenjournal nicht vorgelegt. Die Nichtbefolgung dieser Anordnung nach § 142 Abs. 1 ZPO ist gemäß §§ 286, 427 Satz 2 ZPO vom Senat frei zu würdigen. Der Senat hatte in dem Beschluss vom 1. November 2024 das beA-Nachrichtenjournal angefordert, das ausweist, wann die Nachricht des Landgerichts eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat. In diesem Journal ist u.a. gespeichert, wann eine empfangene Nachricht durch einen Benutzer erstmals geöffnet wurde („Gelesen von“-Vermerk). Auch wenn das beA-Nachrichtenjournal nicht mehr jederzeit ohne weiteres abrufbar ist, weil beA-Nachrichten inklusive des zugehörigen Journals nach 120 Tagen automatisch gelöscht werden, sind Rechtsanwälte gemäß § 50 BRAO verpflichtet, die beA-Nachrichten (und damit auch das Nachrichtenjournal) vor der Löschung zu exportieren und zu archivieren. Daher kann dahinstehen, ob der Klägervertreter das Nachrichtenjournal trotz Besitzes desselben nicht vorgelegt hat oder ob die Nichtvorlage des Nachrichtenjournals auf mangelnder Archivierung beruht, denn beides wäre gleichermaßen nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung zu würdigen. Des Weiteren bestätigt das Nachrichtenprotokoll, dass das am 17. Januar 2024 an den Klägervertreter per beA übersandte Landgerichtsurteil dort am 17. Januar 2024 um 13:28:17 Uhr empfangen wurde. Es ist nicht erkennbar, wieso gleichwohl zwischen dem Empfang, also der Sichtbarkeit der Nachricht in seinem Postfach ab 17. Januar 2024 um 13:28:17 Uhr und der für eine Rechtzeitigkeit der hiesigen Berufung zugrunde zu legenden tatsächlichen Kenntnisnahme frühestens am 15. Februar 2024 mehr als vier Wochen liegen sollen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss. Insgesamt würdigt der Senat diesen Sachverhalt dahingehend, dass der Klägervertreter das Urteil weit vor dem 15. Februar 2024 mittels seines beA tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Anders vermag sich der Senat das beharrliche Unterlassen des Klägervertreters, die angeforderte Unterlage zu übersenden, nicht zu erklären.

Wie bei einer Zustellung nach § 173 ZPO muss neben den tatsächlichen Zugang noch die zumindest konkludente Äußerung des Willens hinzukommen, das zur Empfangnahme angebotene Schriftstück dem Angebot entsprechend als zugestellt entgegenzunehmen. Die erforderliche Empfangsbereitschaft kann nicht allein durch den bloßen Nachweis des tatsächlichen Zugangs iSv. § 189 ZPO ersetzt werden. Auf der anderen Seite lässt die fehlende Zurücksendung des Empfangsbekenntnisses für sich genommen keinen entscheidend gegen eine fehlende Empfangsbereitschaft sprechenden Willen des Adressaten erkennen. Denn von einer Weigerung, das zuzustellende Schriftstück in Empfang zu nehmen, kann auch bei fehlender Rücksendung eines unterschriebenen eB nicht ausgegangen werden, wenn die Gesamtumstände gleichwohl in die gegenteilige Richtung weisen und hinreichend zuverlässig auf die Empfangsbereitschaft des Adressaten schließen lassen. Gemessen hieran ist von einer Empfangsbereitschaft des Prozessbevollmächtigten in Bezug auf das ihm bereits am 17. Januar 2024 per beA übersandte erstinstanzliche Urteil weit vor dem 15. Februar 2024 auszugehen. Insoweit ist wiederum zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss. Es ist also nicht davon auszugehen, dass der Klägervertreter unter bewusstem Verstoß gegen für ihn geltende berufsrechtliche Regelungen für die Dauer von vier Wochen ohne weiteres nicht empfangsbereit für Zustellungen war. Ferner hat der Klägervertreter in der Folge – wenn auch erst nach erneuter Zustellung gegen PZU – Berufung eingelegt. Es ist weder vom Klägervertreter dargetan noch sonst ersichtlich, dass und warum er trotz tatsächlicher Kenntnisnahme des am 17. Januar 2024 per beA übermittelten erstinstanzlichen Urteils vier Wochen lang keinen Empfangswillen gehabt haben soll; auf die ausdrücklichen Nachfragen des Senats mit Verfügung vom 28. Juni 2024 hat der Klägervertreter nicht reagiert. Die unterlassene Rücksendung des eB lässt auch deshalb keinerlei Rückschlüsse auf eine fehlende Empfangsbereitschaft zu, weil der Kläger anscheinend auch den Senatsbeschluss vom 17. September 2024 empfangsbereit entgegengenommen hat, obwohl er bis heute kein eB zurückgesandt hat; denn sein Fristverlängerungsantrag vom 4. Dezember 2024 nimmt ausdrücklich Bezug auf diesen Beschluss. Soweit der Klägervertreter grundsätzlich bei gegen Empfangsbekenntnis zuzustellenden Dokumenten nie Empfangswillen haben sollte, wäre dies mit seiner Funktion als Rechtsanwalt nicht vereinbar und wegen Rechtsmissbrauchs unbeachtlich.

 

Fazit: Für den Beweis der Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses eines Rechtsanwalts betreffend die Zustellung eines Landgerichtsurteils kann es, wenn die elektronische Eingangsbestätigung des Systems des Rechtsanwalts und das in dem Empfangsbekenntnis angegebene Zustelldatum zeitlich erheblich auseinanderliegen, entsprechend § 427 ZPO den Ausschlag geben, dass der Rechtsanwalt entgegen einer Anordnung nach § 142 Abs. 1 ZPO das beA-Nachrichtenjournal zu der elektronischen Übersendung des Landgerichtsurteils nicht vorlegt. (OLG München, Beschluss vom 19. Juni 2024 – 23 U 8369/21 –, MDR 2024, 1234).

Anwaltsblog 7/2025: Per beA übermittelte Schriftsätze müssen auf Richtigkeit und Vollständigkeit überprüft werden!

Mit den Kontroll- und Überprüfungspflichten eines Rechtsanwalts, der einen fristgebundenen Schriftsatz per beA an das Gericht übermittelt, hatte sich der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2024 – II ZB 5/24):

 

Ein Urteil des Amtsgerichts ist der Klägerin am 14. September 2023 zugestellt worden. Am Montag, den 16. Oktober 2023 ist beim Landgericht nach Dienstschluss eine über das beA durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin persönlich übersandte einfach signierte Nachricht eingegangen, die zwei Anhänge im PDF-Format enthielt, nämlich das erstinstanzliche Urteil als PDF-Dokument und ein weiteres PDF-Dokument mit dem Namen „Schriftsatz.PDF“, das jedoch nur ein leeres Blatt enthielt. Nachdem die Klägerin darauf am Folgetag hingewiesen worden war, hat sie am gleichen Tag die Berufungsschrift übermittelt und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Ihr Prozessbevollmächtigter habe auf die Softwares „MS-Word“ als Textverarbeitungsprogramm und „RA-Micro“ zurückgegriffen. Letztere bilde die Schnittstelle zwischen der Textverarbeitung und dem beA. Ihr Prozessbevollmächtigter habe am 16. Oktober 2023 die Berufungsschrift erstellt und innerhalb der Textverarbeitung mit dem mit der Berufung angegriffenen Urteil verbunden, was ihm auch angezeigt worden sei. Nach Fertigstellung und Speicherung habe er die Dokumente in den Postausgang verschoben, einfach elektronisch signiert und an das Landgericht versandt, wobei er sich davon überzeugt habe, dass der richtige Schriftsatz vorhanden gewesen sei.. Nach Übermittlung habe er sich über das Zustellungsprotokoll über die erfolgreiche Zustellung informiert. Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe schuldhaft gehandelt. Es sei nicht erkennbar, dass er sich über den Inhalt des zu versendenden Schriftstücks nach dessen Erstellung und vor dessen Versendung vergewissert hätte.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Recht die Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der Beklagten wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen. Die Klägerin hat nicht glaubhaft gemacht, ohne ein – ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares – Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen zu sein. Sie hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter vor der elektronischen Signatur der PDF-Datei und der Übersendung an das Gericht diese Datei hinreichend überprüft und kontrolliert hat. Eine aus einem anderen Dateiformat in eine PDF-Datei umgewandelte Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift ist durch den signierenden Rechtsanwalt vor der Übermittlung im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs an das Gericht per beA darauf zu überprüfen, ob ihr Inhalt dem Inhalt der Ausgangsdatei entspricht. Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs entsprechen grundsätzlich denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch bei der Signierung eines ein Rechtsmittel oder eine Rechtsmittelbegründung enthaltenden fristwahrenden elektronischen Dokuments (§ 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO) gehört es daher zu den Pflichten eines Rechtsanwalts, das zu signierende Dokument zuvor selbst sorgfältig auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen. Entscheidend ist, dass das tatsächlich signierte Dokument überprüft wird, was insbesondere auch in den Fällen gilt, in denen eine Datei durch Scan-, Kopier- und Speichervorgänge erneut erstellt wird. Durch diese Vorgänge wird im elektronischen Bereich eine besondere Gefahrenquelle geschaffen, so dass es erforderlich ist, das letztlich zu signierende Dokument zu überprüfen. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter eine entsprechende Überprüfung vorgenommen hat. Dieser hat die Berufungsschrift im Word-Programm erstellt. Diese ist als PDF-Dokument abgespeichert und übersendet worden. Dass vor der Signatur das PDF-Dokument von ihrem Prozessbevollmächtigten auf inhaltliche Richtigkeit überprüft worden ist, legt die Klägerin nicht dar. Sie beruft sich vielmehr darauf, dass durch die Umwandlung der DOC-Datei des Programms „MS-Word“ in ein PDF-Format technisch leere Seiten erzeugt werden könnten aufgrund eines technischen Versagens, das ihrem Prozessbevollmächtigten nicht zuzurechnen sei. Hätte dieser jedoch die PDF-Datei nochmals geöffnet, hätte er sehen müssen, dass diese nur eine leere Seite enthielt. Die mangelnde Überprüfung hat dazu geführt, dass die Berufungsfrist wegen der Übersendung der Datei mit der leeren Seite versäumt wurde.

 

Fazit: Eine aus einem anderen Dateiformat in eine PDF-Datei umgewandelte Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift ist durch den signierenden Rechtsanwalt vor der Übermittlung im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs an das Gericht per besonderem elektronischen Anwaltspostfach darauf zu überprüfen, ob ihr Inhalt dem Inhalt der Ausgangsdatei entspricht.

OLG Frankfurt a. M.: Rechtsmittel bei Entscheidungen nach § 769 ZPO

In einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt a. M. (Beschl. v. 23.10.2024 – 3 W 28/24) hatte der Kläger vor dem LG eine Vollstreckungsgegenklage nach § 767 Abs. 1 ZPO erhoben und damit einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 769 Abs. 1 ZPO verbunden. Das LG lehnte diesen Antrag ab. Gegen diesen Beschluss legte der Kläger sofortige Beschwerde ein. Das OLG Frankfurt hat die Beschwerde verworfen.  Es folgt der ganz h. M.: Entscheidungen, die im Rahmen des § 769 ZPO erfolgen, sind nicht beschwerdefähig (BGH v. 21.4.2004 – XII ZB 279/03, MDR 2004, 1137). Dies ergibt sich daraus, dass § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO entsprechend anzuwenden ist. Diese Vorschrift regelt, dass ein Beschluss über die Einstellung der Zwangsvollstreckung in verschiedenen Fallkonstellationen nicht anfechtbar ist.

Das erstinstanzliche Gericht hat jedoch die Möglichkeit, die getroffene Entscheidung jederzeit zu ändern und kann damit einer Änderung der Prozesslage sofort Rechnung tragen. Dies ist ausreichend, denn dieses Gericht kann die Prozessaussichten am besten beurteilen. Das Beschwerdegericht soll dort nicht hineinreden können. Diesem Erfordernis war das LG vorliegend auch nachgekommen.

Interessant sind hier außerdem die Nebenentscheidungen. Das OLG legt dem Kläger als Unterlegenem zunächst die Kosten des Verfahrens auf (§ 97 Abs. 1  ZPO). Dies ist klar. Auf die Festsetzung eines Gegenstandswertes wurde verzichtet, da vorliegend keine Wertgebühr, sondern eine Festgebühr anfällt (Nr. 1812 Anl. 1 GKG). Für die Festsetzung des Wertes für die anwaltliche Tätigkeit war der notwendige (§ 33 Abs. 1 RVG) Antrag nicht gestellt worden. Im Übrigen dürfte diese Tätigkeit für den Rechtsanwalt allerdings nicht mehr zu dem Rechtszug gehören. § 19 Abs. 1 Nr. 11 RVG ist, da Beschwerde eingelegt wurde, nicht (mehr) einschlägig. Maßgeblich müsste dementsprechend Nr. 3500 VV RVG sein (0,5-Gebühr).

Wichtig ist: Im Rahmen von Entscheidungen nach § 769 ZPO kann man sich ein Rechtsmittel sparen. Man muss jedoch daran denken, dass die Entscheidung vom Gericht jederzeit geändert werden kann. Bei einem günstigen Prozessverlauf kann sich also ein entsprechender Antrag lohnen! Wenn in einer Beschwerdeinstanz separate Gebühren anfallen, lohnt sich stets ein Antrag auf Wertfestsetzung für die Anwaltsgebühren!

Anwaltsblog 6/2025: Reicht für den erstmaligen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist die Angabe aus, dass die Begründung „binnen einer Frist von sechs Wochen“ erfolgen wird?

Mit den Anforderungen an einen erstmaligen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hatte sich zum wiederholten Mal der BGH zu befassen (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2024 – IX ZB 16/23):

 

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte gegen das Urteil des Landgerichts Berufung eingelegt. In der Berufungsschrift heißt es: „Anträge und die Begründung bleiben einem besonderen Schriftsatz vorbehalten, welcher binnen einer Frist von sechs Wochen und somit bis zum 07.02.2023 erfolgen wird.“ Auf den Hinweis des Berufungsgerichts vom 2. Februar 2023, dass die Frist für die Berufungsbegründung am 30. Januar 2023 abgelaufen sei, hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufung begründet und hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung dieser Frist beantragt, weil die Berufungsschrift einen Antrag auf Fristverlängerung enthalten habe. Das Berufungsgericht hat unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen.

Die Rechtsbeschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat dem Kläger mit Recht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und seine Berufung als unzulässig verworfen, weil die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht. Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners – auf eine solche hat sich der Kläger nicht berufen – auf Antrag um bis zu einen Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. Ein Berufungskläger muss grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Ohne Verschulden iSv. § 233 ZPO handelt der Rechtsanwalt daher nur dann, wenn er auf die Fristverlängerung vertrauen durfte, weil deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Das setzt die Vollständigkeit des Fristverlängerungsantrags voraus. Hierzu gehört auch die Darlegung eines erheblichen Grundes iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO für die Notwendigkeit der Fristverlängerung, an die bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Wird der Antrag auf Fristverlängerung nicht in diesem Sinne begründet, muss der Rechtsmittelführer hingegen damit rechnen, dass der Vorsitzende in einem solchen Antrag eine Verzögerung des Rechtsstreits sehen und das Gesuch deshalb ablehnen werde.

Bei Anlegung dieses Maßstabs bedarf es keiner Entscheidung, ob der Berufungsschrift überhaupt ein konkludenter Antrag auf Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung zu entnehmen ist. Denn mangels Darlegung eines erheblichen Grundes durfte der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht auf die Gewährung einer Fristverlängerung vertrauen. Im Übrigen kann einem (unterstellten) Verlängerungsantrag auch keine konkludente Darlegung eines erheblichen Grundes entnommen werden. Der Kläger beruft sich darauf, sein Prozessbevollmächtigter sei wegen einer Häufung von Fristsachen im Januar 2023 an der rechtzeitigen Prüfung der Erfolgsaussichten der Berufung und der Fertigstellung der Berufungsbegründung gehindert gewesen. Zwar kann unter Umständen auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen genügen und zählt zu den erheblichen Gründen insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten. Einer Auslegung des Fristverlängerungsantrags dahingehend, dass sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers konkludent auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe, steht jedoch entgegen, dass im Antrag überhaupt keine Umstände genannt werden, aus denen der Anlass der begehrten Fristverlängerung hätte entnommen und aus denen somit ein Rückschluss auf den erheblichen Grund hätte gezogen werden können. Allein aus der unterbliebenen Angabe anderer Hinderungsgründe folgt nicht, dass sich der Klägervertreter zur Begründung seines Fristverlängerungsantrags (konkludent) auf eine Arbeitsüberlastung berufen habe. Denn eine solche ist nicht ohne weiteres als erheblicher Grund iSd. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO zu vermuten.

 

Fazit: Beantragt ein Prozessbevollmächtigter in der Berufungsschrift allenfalls konkludent eine Verlängerung der Frist für die Berufungsbegründung und führt er hierfür keine Umstände an, muss er mit einer Ablehnung des Fristverlängerungsantrags rechnen.

Blog powered by Zöller: Der digitale Zivilprozess rückt näher

Dass die Ziviljustiz dringend den Anschluss an das digitale Zeitalter finden muss, ist mittlerweile allgemeine Meinung; Statements dazu aus Praxis und Wissenschaft gibt es bereits zuhauf. Mit besonderem Interesse wurde aber dem Abschlussbericht der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ entgegengesehen, denn von diesem mit Vertretern der Justizverwaltungen, der Gerichtspraxis, der Anwaltschaft und der Wissenschaft besetzten Gremium durften grundlegende Richtungsentscheidungen für die Reformpolitik erwartetet werden. Der soeben veröffentlichte Abschlussbericht enttäuscht diese Erwartungen nicht. Obwohl er an den hergebrachten Strukturen und Grundsätzen des Zivilprozesses festhält, verschafft er ihm durch maß- und sinnvolle Nutzung der digitalen Technologie ein neues, zeitgemäßes Format.

Entscheidendes Element des künftigen Zivilprozesses wird die Verfahrensmanagement-Plattform sein, auf der das gesamte Verfahren, insbesondere die Kommunikation zwischen dem Gericht und den anderen Prozessbeteiligten abgewickelt wird. An die Stelle eines Konglomerats von PDF-Dateien (wie in der bisherigen E-Akte) tritt dann ein cloudbasiertes Verfahrensdokument. Parteivortrag sowie Hinweise und Entscheidungen des Gerichts werden dort eingestellt und übersichtlich geordnet. Sieben Tage nach Mitteilung des Neueingangs gilt das Dokument als zugegangen, sodass die Formalitäten des Zustellungsverfahrens entfallen können. Richter und Anwälte können sich jederzeit durch Blick in das digitale Verfahrensdokument über den aktuellen Sachstand informieren, ihn auch variabel nach ihren Präferenzen (z.B. chronologisch, sachlich, nach Urhebern geordnet) darstellen lassen. Der Bericht sieht hier auch Einsatzmöglichkeiten für KI und – in einem weiteren Schritt – für die kollaborative Fortschreibung des Parteivortrags.

Die Kommission beschränkt sich nicht darauf, diese Möglichkeiten nach Art einer Zukunftsvision in den Raum zu stellen, sondern befasst sich, teilweise auf existierende Modelle im Ausland und in der Schiedsgerichtsbarkeit Bezug nehmend, eingehend mit der praktischen Umsetzbarkeit. Das gilt auch für die Beteiligung von Naturalparteien, deren Zugang zum Gerichtsverfahren im Übrigen durch ein bundeseinheitliches Justizportal – ein weiteres Herzstück des Kommissionsberichts – verbessert werden soll.

Nicht weniger bedeutsam sind die Vorschläge der Kommission für ein effizienteres Verfahrensmanagement.  Sie sind auf eine stringente, frühzeitig einsetzende, mit den Parteien abgestimmte, transparente Verfahrensplanung gerichtet. Der Vorsitzende soll durch einen Organisationstermin oder verfahrensleitende Hinweise für die Strukturierung des Streitstoffs sorgen. Der Grundsatz der mündlichen Verhandlung soll zwar beibehalten, aber zeitgemäß modifiziert, virtuelle Verhandlungsformen sollen ausgebaut werden.

Mit Nachdruck – und bis ins Einzelne gehenden Vorschlägen – spricht sich der Bericht dafür aus, das Kammerprinzip und spezialisierte Spruchkörper, auch über Gerichtssprengel hinaus, zu fördern. Die Kammer für Handelssachen soll aufgewertet werden.

Auf die ungezählten weiteren Vorschläge des 240 Seiten umfassenden Berichts kann hier nicht eingegangen werden; sie reichen vom Einsatz digitaler, auf KI basierender Assistenzprogramme über die Ersetzung von Formularen durch digitale Eingabe- und Abfragesysteme, das Nutzbarmachen von Beweiserhebungen für Parallelverfahren und neue Formen der Urteilsverkündung bis zur Automatisierung des Kostenfestsetzungsverfahrens und zur Einführung eines Vollstreckungsregisters, welches die Ausfertigung des Titels und die Erteilung der Klausel ersetzen soll.

Dass sich Manches wie Science Fiction liest, liegt nicht an mangelhafter Bodenhaftung der Verfasser, sondern daran, dass sich die Ziviljustiz zu lange den modernen Entwicklungen verschlossen hat. Auch der Kommission ist klar, dass sich nicht alle Vorschläge auf einen Schlag verwirklichen lassen; zu manchen Punkten schlägt sie weitere Erörterungen oder Erprobungsgesetze vor. Dabei sind die Aussichten auf ein baldiges Tätigwerden des Gesetzgebers nicht schlecht, denn die durch rückläufige Prozesszahlen, zunehmende Verfahrensdauern und belastende Massenverfahren gekennzeichnete Situation der Ziviljustiz verlangt dringende Abhilfe.

Dass das Thema auf die rechtspolitische Agenda kommt, wird zudem unterstützt durch die Initiative einer von Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte eingerichteten Arbeitsgruppe. Diese hat in ihren Münchener Thesen und einem Tagungsband Anforderungen an einen Zivilprozess der Zukunft aufgestellt, die weitgehend mit der Tendenz des Kommissionsberichts übereinstimmen, aber auch zusätzliche Aspekte, etwa den Einbau konsensualer Elemente, Handhaben gegen überlange Verfahrensdauern und die Bündelung von Massenverfahren behandeln.

Die Vorarbeiten für die heute noch geltende ZPO von 1877 dauerten rund 40 Jahre; es gab ungezählte Kommissionen und Entwürfe.  Mit den heutigen Herausforderungen und der rasanten technologischen Entwicklung wäre ein solches Procedere nicht zu vereinbaren. Zu Recht spricht sich die Kommission daher für ein iteratives Vorgehen mittels Legal Design Thinking aus. Ziel muss nicht eine völlig neue ZPO sein. Kurzfristig umsetzbare Vorschläge der Arbeitsgruppen sollten daher vorgezogen, die zweifellos aufwendige Entwicklung der elektronischen Systeme vorangetrieben, aber nicht abgewartet werden. Probeläufe in Reallaboren sind angesagt. Manche Empfehlungen können auch schon nach geltendem Recht umgesetzt werden, z.B. die virtuelle Verfahrenskonferenz zur Strukturierung von Prozessstoff und -verlauf (s. Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 139 ZPO Rn. 4 ff., § 273 ZPO Rn. 15).


Aktuelle Gesetzesänderungen werden vom Zöller stets aufbereitet. In den Online-Aktualisierungen finden Sie Änderungen auch zwischen den Auflagen. Zudem wird der Zöller die zu erwartenden Änderungen rund um den „Zivilprozess der Zukunft“ intensiv und vielfältig begleiten.