BGH: Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten

Im Rahmen eines „Diesel-Verfahrens“ ging es in der Revisionsinstanz zuletzt nur noch um die Frage, ob die unterlegene Beklagte auch die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers zu erstatten hat. Der BGH (Beschl. v. 23.6.2022 – VII ZR 294/21) fasst in dieser Entscheidung die Voraussetzungen dafür gut zusammen. Als Anspruchsgrundlage war hier – wie in der Hauptsache – auch § 826 BGB einschlägig.

Die allgemeinen Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlage bejaht der BGH: Da es sich um einen nicht einfach gelagerten Sachverhalt handelte, durfte der Kläger sich veranlasst sehen, sogleich einen Rechtsanwalt einzuschalten, ohne zunächst selbst bei der Beklagten vorstellig zu werden. Soweit die Beklagte behauptet hatte, den Klägervertretern sei aufgrund allgemeiner Berichterstattung ihre Rechtsansicht bekannt gewesen, dringt sie damit nicht durch. Eine von vornherein bestehende Zahlungsunwilligkeit, die tatsächlich die Einschaltung eines Rechtsanwaltes zum Versuch der vorprozessualen Regulierung ausscheidet, ist damit nicht in der erforderlichen Weise dargetan, zumal der Schädiger dafür die Darlegungs- und Beweislast trägt.

Die entscheidende Frage war hier allerdings, ob – was für den Erstattungsanspruch Voraussetzung ist (!) – hier überhaupt von dem Kläger ein Mandat für die außergerichtliche Vertretung erteilt worden war. Ist nämlich das Mandat nur zur gerichtlichen Vertretung erteilt worden, gehört ein vorprozessuales Schreiben schon zu einer die Klage vorbereitenden Tätigkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG. Dann fällt nur die Verfahrensgebühr, jedoch keine Geschäftsgebühr an. Hier war es jedoch so, dass die Klägervertreter im vorprozessualen Anwaltsschreiben mitgeteilt hatten, sie würden dem Kläger zur Klage raten, wenn die Beklagte nicht zahlen werde. Der BGH sieht darin einen ausreichenden Vortrag für eine außergerichtliche Tätigkeit. Dabei weist der BGH erneut darauf hin, dass auch ein unter der aufschiebenden Bedingung der Erfolglosigkeit der vorprozessualen Regulierung erteilter Prozessauftrag ausreichend ist, um eine Geschäftsgebühr entstehen zu lassen.

Fazit: Mit dieser Sicht der Dinge hält der BGH die Pflicht zur Darlegung der Umstände innerhalb einer realistischen Grenze und vermeidet die unnötige Aufblähung des Prozessstoffes wegen einer Nebenforderung. In die Vorlagen für vorprozessuale Schreiben sollte in etwa folgende Formulierung aufgenommen werden: „Wenn Sie die Forderung nicht innerhalb von zwei Wochen gezahlt haben, werde ich der Mandantschaft dazu raten, gegen Sie eine entsprechende Klage einzureichen.“ Damit dürfte dann das Entstehen einer Geschäftsgebühr hinreichend dargelegt sein.

 

 

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Diese Woche geht es eine Frage zum Patentnichtigkeitsverfahren.

Patentnichtigkeitsklage nach Erlöschen des angegriffenen Schutzrechts
Urteil vom 21. Juli 2022 – X ZR 110/21

Mit einer besonderen Konstellation des Patentnichtigkeitsverfahrens befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Beklagte war Inhaber eines deutschen Patents, das ein Verfahren zur embryonenerhaltenden Gewinnung pluripotenter embryonaler Stammzellen betraf. Der Kläger – ein eingetragener Verein – hat die Nichtigerklärung des Schutzrechts beantragt, weil dessen Gegenstand die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken betreffe und deshalb gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG von der Patentierung ausgeschlossen sei. Der Beklagte hat erklärt, der Klage nicht zu widersprechen und auf die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Streitpatent gegenüber dem Kläger zu verzichten. Noch während des erstinstanzlichen Verfahrens ist das Patent wegen Nichtzahlung der fälligen Jahresgebühr erloschen. Das Bundespatentgericht hat die Klage daraufhin wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen.

Die Berufung des Klägers bleibt erfolglos.

Die nach § 81 PatG statthafte Nichtigkeitsklage gegen ein Patent ist zwar grundsätzlich als Popularklage ausgestaltet, die kein konkretes Rechtsschutzbedürfnis erfordert. Nach dem Erlöschen des angegriffenen Patents bleibt die Klage aber nur dann zulässig, wenn der Kläger ein eigenes Rechtsschutzbedürfnis hat. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall nicht vor. Der Kläger muss nicht befürchten, dass er wegen Verletzung des Patents während dessen Laufzeit in Anspruch genommen wird. Subjektive Rechte, die durch die Erteilung des Patents verletzt sein könnten, sind nicht ersichtlich. Das allgemeine Interesse an der Sicherung einer gesetzeskonformen Erteilungspraxis des Patentamts reicht nicht aus, um ein Rechtsschutzbedürfnis zu begründen. Auch aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich nicht das Gebot, den Rechtsweg allein im Interesse der Allgemeinheit zu eröffnen.

Praxistipp: Das Verbot der Patentierung der Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken ist unionsrechtlich vorgegeben. Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt es auch für technische Lehren, die zwar ihrerseits keinen Verstoß gegen dieses Verbot darstellen, einen solchen Verstoß aber voraussetzen. Für eine Lehre, die auf die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen beschränkt ist, die ohne Zerstörung von Embryonen gewonnen werden können, gilt das Verbot nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht.

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Diese Woche geht es um die Ermittlung ausländischen Rechts.

Keine Darlegungs- und Beweislast bezüglich ausländischer Rechtsnormen
Beschluss vom 24. August 2022 – XII ZB 268/19

Mit den Anforderungen aus § 293 ZPO befasst sich der XII. Zivilsenat.

Die Antragstellerin begehrt die Vollstreckbarerklärung eines in den USA ergangenen Urteils über nachehelichen Unterhalt. Die Ehe der Beteiligten ist im Jahr 2014 durch ein Bezirksgericht des US-Bundesstaats Oregon geschieden worden. Der Antragstellerin wurde darin nachehelicher Unterhalt in Höhe von 4.000 US-Dollar pro Monat für die ersten vier Jahre und 3.000 US-Dollar pro Monat für die Zeit danach zugesprochen. Die Antragstellerin heiratete im Januar 2018 erneut. Das Bezirksgericht reduzierte daraufhin den Unterhaltsbetrag für die Zeit ab Mai 2018 auf 2.200 US-Dollar pro Monat. Das AG hat den Unterhaltstitel für die Zeit ab Mai 2018 antragsgemäß für vollstreckbar erklärt. Das OLG hat den Antrag hingegen zurückgewiesen.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Entgegen der Auffassung des OLG darf der Antrag auf Vollstreckbarerklärung in der Beschwerdeinstanz nicht schon deshalb zurückgewiesen werden, weil die Antragstellerin keinen schriftlichen Nachweis über die Vollstreckbarkeit der Entscheidung vorgelegt hat. Nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. b des einschlägigen Haager Unterhaltsübereinkommens aus dem Jahr 2007 (HUÜ 2007) ist ein solches Schriftstück dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung zwar beizufügen. Sein Fehlen führt aber nur in der ersten Instanz zwingend zur Zurückweisung des Antrags. In diesem Stadium dürfen gemäß Art. 23 Abs. 4 Satz 2 HUÜ 2007 weder Antragsteller noch Antragsgegner Einwendungen vorbringen; das Gericht hat eine allein an formalen Kriterien ausgerichtete Prüfung vorzunehmen. Das Beschwerdeverfahren, in dem die Beteiligten weitergehende Einwendungen vorbringen können, richtet sich demgegenüber nach dem nationalen Recht. Im Verfahren vor einem deutschen Beschwerdegericht ist die in Rede stehende Bescheinigung deshalb entbehrlich, wenn die Vollstreckbarkeit auf andere Weise festgestellt werden kann.

Im Streitfall ist unstreitig, dass der für die Zeit ab Mai 2018 ergangene Unterhaltstitel rechtskräftig ist. Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung wäre deshalb allenfalls dann unbegründet, wenn die Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen im Bundesstaat Oregon einer zusätzlichen Erklärung des Gerichts bedürfte. Dies ist eine Rechtsfrage, die das Gericht gemäß § 293 ZPO von Amts wegen zu klären hat. Die Grundsätze über die Darlegungs- und Beweislast sind insoweit nicht anwendbar. Das Berufungsgericht durfte den Antrag deshalb nicht mit der Begründung zurückweisen, die Antragstellerin habe keinen Nachweis über die Vollstreckbarkeit rechtskräftiger Urteile in Oregon vorgelegt.

Der BGH weist ergänzend darauf hin, dass der Antrag auch nicht wegen Verstoßes gegen den ordre public unbegründet sein dürfte. Nach deutschem Recht kommt nachehelicher Unterhalt nach einer Wiederverheiratung zwar nicht in Betracht. Diese Einschränkung ist aber nicht so wesentlich, dass eine auf abweichendem Auslandsrecht beruhende Entscheidung als nicht mehr hinnehmbar anzusehen wäre. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Unterhaltsberechtigte ein gemeinsames minderjähriges Kind betreut.

Praxistipp: Die offizielle Liste der Vertragsstaaten des Haager Unterhaltsübereinkommens 2007 und des Zeitpunkts des jeweiligen Inkrafttretens ist abrufbar unter https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/status-table/?cid=131.

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Diese Woche geht es um einen typischen Anwendungsfall von Art. 103 Abs. 1 GG und § 544 Abs. 9 ZPO.

Unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Beschluss vom 16. August 2022 – VI ZR 1151/20

Mit einem übergangenen Beweisangebot bezüglich eines Zeugen befasst sich der VI. Zivilsenat.

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung beim Ersetzen einer Kniegelenk-Prothese in Anspruch. Sie macht unter anderem geltend, der tibiale (d. h. im Schienbein verankerte) Teil der Prothese sei in erheblicher Fehlstellung eingebracht worden. Die Klage ist in den beiden ersten Instanzen im Wesentlichen erfolglos geblieben.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO (d. h. ohne mündliche Verhandlung) zur Zurückverweisung der Sache an das OLG. Das OLG hat die von der Klägerin angebotene Vernehmung eines Arztes, der eine Revisionsoperation durchgeführt hat, zu Unrecht abgelehnt.

Der Zeuge hat bei der Revisionsoperation lediglich den femuralen (d. h. im Oberschenkel verankerten) Teil der Prothese ausgetauscht, nicht aber den tibialen. Die Klägerin hat seine Vernehmung zum Beweis der Tatsache angeboten, dass er die tibiale Komponente nur deshalb nicht ausgetauscht habe, weil sie fest einzementiert gewesen sei und nicht ohne Beschädigung des Schienbeins hätte entfernt werden können.

Das OLG hielt die Vernehmung für entbehrlich, weil der Zeuge in seinem schriftlichen Operationsbericht festgehalten hatte, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich gewesen. Darin liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Es ist nicht auszuschließen, dass der Zeuge den Vortrag der Klägerin bestätigt, auch wenn dies nach Auffassung des OLG in Widerspruch zum Operationsbericht steht. Das OLG muss dem Beweisangebot deshalb nachgehen und darf erst nach Vernehmung des Zeugen seine Beweiswürdigung vornehmen.

Praxistipp: Lässt das Gericht schon vor der abschließenden Entscheidung erkennen, dass es einem Beweisangebot nicht nachkommen will, muss die betroffene Partei dies noch in derselben Instanz beanstanden. Ansonsten droht ein Rügeverlust in der Revisionsinstanz.

OLG Karlsruhe: Besorgnis der Befangenheit durch Übersehen eines Befangenheitsantrages

In einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 11.5. 2022 – 9 W 24/22) ging es um die Frage, ob alleine das Übersehen eines Befangenheitsantrages schon die Besorgnis der Befangenheit begründen kann, was das OLG bejaht hat.

In einer über 100 Seiten langen Klageerwiderung befand sich ein Befangenheitsantrag der Beklagten. Der zuständige Richter las lediglich das Inhaltsverzeichnis des Schriftsatzes, übersah demgemäß den Befangenheitsantrag und stellte die Klageerwiderung mit einer Verfügung zu. Alsdann ging noch eine Widerklage ein, darin wurde erneut auf den Befangenheitsantrag hingewiesen sowie auf den Verstoß gegen § 47 ZPO durch die erwähnte Verfügung. Gleichzeitig wurde ein erneuter Befangenheitsantrag gestellt. In seiner dienstlichen Stellungnahme entschuldigte sich der Richter für sein Versäumnis.

Nach der Auffassung des OLG lässt der Verstoß gegen § 47 ZPO den Schluss darauf zu, dass der abgelehnte Richter bei der Wahrnehmung der Belange der Beklagten eine evident fehlende Sorgfalt an den Tag legt und deswegen bei der Beklagten der Eindruck entsteht, der Richter werde auch später das Vorbringen der Beklagten nicht ernst nehmen.

Diese Sicht der Dinge geht nach hiesiger Einschätzung an der Praxis vorbei. Die Überlastung der Gerichte ist allgemein bekannt. Es ist lebensfern davon auszugehen, dass jeder Schriftsatz, der bei Gericht eingeht, sofort vollständig gelesen und verarbeitet werden kann. Eine derartige Vorgehensweise wäre auch eine Verschwendung richterlicher Ressourcen. Wenn offensichtlich ist, dass eine über 100 Seiten lange Klageerwiderung nicht ohne eine erneute Stellungnahme des Klägers sachgerecht bewertet werden kann, macht es keinen Sinn, dieselbe gleich durch zu studieren. Wesentlich sinnvoller und ressourcenschonender ist es, diesen Schriftsatz erst dann vollständig zur Kenntnis zu nehmen, wenn die Sache soweit „ausgeschrieben“ erscheint, dass eine sachgemäße Förderung derselben möglich ist. Dies weiß im Normalfall auch jeder Rechtsanwalt. Deswegen wird bei langen Schriftsätzen auch stets am Anfang auf wichtige Anträge hingewiesen, oftmals sogar in Fettdruck.

Fazit: Diese Entscheidung sollte daher keinesfalls Schule machen, zumal sie geradezu dazu auffordert, durch versteckte Befangenheitsanträge Verfahren zu verzögern!

 

 

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Diese Woche geht es um die Bindungswirkung einer Verweisung zwischen einem Spezialsenat im Sinne von § 119a GVG und einem anderen Senat desselben Gerichts.

Negativer Kompetenzkonflikt mit Spezialsenat
Beschluss vom 26. Juli 2022 – X ARZ 3/22

Mit der entsprechenden Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bei Verweisungen innerhalb desselben Gerichts befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Kläger begehrt die Rückabwicklung eines Vertrags über den Erwerb von Bäumen in Brasilien. Die Beklagte hatte den Abschluss als attraktive Kapitalanlage angeboten. Nach dem Ende des Anlagezeitraums leistete sie keine Zahlungen. Die Klage auf Rückzahlung des Anlagebetrags von rund 10.000 Euro Zug um Zug gegen Rückübertragung des Eigentums an den Bäumen hatte in erster Instanz Erfolg.

Die Berufung der Beklagten wurde zunächst einem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Senat des OLG zugeteilt. Dieser erklärte sich für unzuständig und gab die Sache an den für Bank- und Finanzgeschäfte im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG zuständigen Spezialsenat ab. Dieser erklärte sich ebenfalls für unzuständig und legte die Sache dem für Gerichtsstandbestimmungen zuständigen Zivilsenat vor. Dieser teilte die Rechtsauffassung des Spezialsenats, dass kein Bank- oder Finanzgeschäft vorliege. Er sah sich an einer Zuweisung zu dem ursprünglich mit der Sache befassten Senat aber durch eine Entscheidung eines anderen OLG gehindert, das die Leistung der Beklagten als Finanzdienstleistung im Sinne von § 312b Abs. 1 Satz 2 BGB angesehen hatte. Deshalb legte er die Sache gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 ZPO dem BGH vor.

Der BGH erklärte den Spezialsenat für zuständig. Er ließ offen, ob es sich um eine Streitigkeit aus einem Bank- oder Finanzgeschäft im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG handelt. Die Zuständigkeit ergibt sich im Streitfall schon daraus, dass die Abgabeentscheidung des zunächst mit der Sache befassten Senats entsprechend § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist. Entgegen der bislang überwiegenden Auffassung in Literatur und Instanzrechtsprechung liegt eine planwidrige Gesetzeslücke vor.

Für vergleichbare Fälle eines Konflikts über eine sich schon aus dem Gesetz ergebende Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Gerichts sieht das Gesetz eine Bindungswirkung vor. Im Verhältnis zwischen Zivilkammern und Kammern für Handelssachen ergibt sich diese Wirkung aus § 102 Satz 2 GVG, im Verhältnis zwischen Spruchkörpern für Zivilsachen, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus § 17a Abs. 6 GVG. Dass eine entsprechende Regelung für das Verhältnis zwischen Spezialkammern im Sinne von § 72a GVG bzw. Spezialsenaten im Sinne von § 119a GVG und anderen Spruchkörpern desselben Gerichts fehlt, beruht nicht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Die hierdurch entstandene Lücke ist durch entsprechende Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO zu schließen.

Praxistipp: Um Verzögerungen zu vermeiden, sollten beide Parteien das Gericht sowohl in erster als auch in zweiter Instanz möglichst frühzeitig auf eine mögliche Spezialzuständigkeit nach § 72a bzw. § 119a GVG aufmerksam machen.

OLG Hamburg: Wartepflicht des Rechtsanwalts bei Verzögerungen durch das Gericht

In einer Entscheidung des Hanseatischen OLG in Hamburg (Beschl. v. 20.5.2022 – 7 W 57/22, MDR 2022, 1113) ging es letztlich um die Frage, wie lange ein Rechtsanwalt auf das Gericht warten muss, wenn sich ein vorheriger Termin des Gerichts länger hinzieht als geplant. Im Beschwerdeverfahren (§ 336 Abs. 1 ZPO) war zu beurteilen, ob der Rechtsanwalt zu früh gegangen war und deswegen das LG gegen die von ihm vertretene Partei ein Versäumnisurteil hätte erlassen müssen oder nicht. Das LG hatte im Widerspruchsverfahren gegen eine einstweilige Verfügung Termin auf 12:30 Uhr bestimmt. Das Gericht teilte um diese Uhrzeit mit, dass der Termin sich voraussichtlich um eine Stunde, möglicherweise auch noch etwas länger, verschieben würde. Um 12:55 Uhr gab der Rechtsanwalt bekannt, er könne nicht länger warten, da er um 14:00 Uhr einen nicht verschiebbaren Termin habe und entfernte sich. Gleichzeitig regte er an, den Termin zu verschieben. Das LG hatte dann den bei Aufruf der Sache gestellten Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils zurückgewiesen und einen neuen Termin bestimmt. Das OLG hob diese Entscheidung auf und wies das LG an einen neuen Termin zu bestimmen, ohne den betroffenen Rechtsanwalt zu laden.

Ein Termin beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 220 Abs. 1 ZPO), von einer konkludenten Terminsaufhebung kann daher nicht ausgegangen werden. Allerdings war der Rechtsanwalt hier berechtigt, gemäß § 227 ZPO einen Antrag auf Verlegung des Termins zu stellen. Der Rechtsanwalt hat aber schuldhaft im Sinne des § 337 Satz 1 ZPO gehandelt, weil er nicht auf eine Verlegung des Termins vertrauen durfte. Unter Berufung auf eine ältere Entscheidung des BVerwG (Beschl. v. 28.12.1998 – 4 B 119-98, NJW 1999, 2131) hält das OLG eine Wartezeit von über einer Stunde noch für hinnehmbar. Der Verlegungsgrund sei zudem mit der einfachen Behauptung, einen nicht verschiebbaren Termin zu haben, nicht nachvollziehbar glaubhaft gemacht worden.

Gerichtstermine können sich leider immer wieder verzögern, regelmäßig durch unvorhersehbare Ereignisse. Die meisten dadurch entstehenden Probleme werden sicherlich kollegial und/oder pragmatisch gelöst. Wenn es jedoch einmal ernst wird, muss man zum einen mindestens eine Stunde warten können und zum anderen, wenn es nicht anders geht, einen Verlegungsgrund direkt glaubhaft machen können. Die Zeit von einer Stunde gilt für die Landgerichte und Oberlandesgerichte, bei den Amtsgerichten wird man, da die Verfahren in der Tendenz natürlich weniger umfangreich sind, diese Zeit vielleicht etwas reduzieren können.

Fazit: Wer als Rechtsanwalt einen Termin wahrzunehmen hat, muss daher stets gut planen. Zunächst einmal muss genug Zeit eingeplant werden, um auch überraschenden Verzögerungen bei der Anreise Rechnung tragen zu können. Verzögert sich dann der Beginn des Termins, muss man auch noch ausreichend Zeit mitbringen, um darauf zu warten. All dies ist sehr ärgerlich, lässt sich aber bedauerlicherweise nicht vermeiden.

 

 

 

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Diese Woche geht es um das Rechtsverhältnis zwischen einer Vorverkaufsstelle für Eintrittskarten und deren Kunden.

Vertrieb von Eintrittskarten durch eine Vorverkaufsstelle als Kommissionärin des Veranstalters
Urteile vom 13. Juli 2022 – VIII ZR 317/21 und VIII ZR 329/21

Mit grundlegenden vertragsrechtlichen Fragen befasst sich der VIII. Zivilsenat in zwei durch die Pandemie entstandenen Rechtsstreitigkeiten

Die Kläger erwarben kurz vor Weihnachten 2019 über die Internet-Seite der Beklagten Eintrittskarten für ein Musical im April 2020 bzw. ein Konzert im März 2020. Die Beklagte ist als Ticketsystemdienstleisterin für eine Vielzahl von Veranstaltungen tätig. Sie vertreibt die Karten im Auftrag des jeweiligen Veranstalters.

Beide Veranstaltungen wurden wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Die Veranstalterin bot Gutscheine zum Erwerb anderer Karten an. Die Kläger lehnten dies ab und verlangten stattdessen von der Beklagten die Rückerstattung des Kaufpreises. Die Klagen hatten in erster Instanz Erfolg. Das LG wies sie auf die Berufung der Beklagten ab.

Der BGH tritt der Vorinstanz darin bei, dass die Beklagte die Verträge mit den Klägern als Kommissionärin, also auf Rechnung des Veranstalters, aber im eigenen Namen abgeschlossen hat und dass es sich um einen Rechtskauf handelt, nämlich den Kauf des Rechts auf Teilnahme an der von dem Veranstalter durchzuführenden Veranstaltung, das durch die Eintrittskarte als kleines Inhaberpapier (§ 807 BGB) verbrieft ist. Ihre Pflichten aus diesem Vertrag hat die Beklagte durch Übereignung der Eintrittskarten vollständig erfüllt.

Später eingetretene Umstände, die das Recht auf Teilnahme an der Veranstaltung beeinträchtigen, begründen keine Gewährleistungsrechte gegenüber der Beklagten. Entscheidend ist allein die Mangelfreiheit im Zeitpunkt der Übergabe, hier also im Dezember 2019. Für die Durchführung der Veranstaltung haftet die Beklagte nicht.

Ein Widerrufsrecht ist nach § 312g Abs. 1 Nr. 9 BGB ausgeschlossen, weil es sich um einen Vertrag zur Erbringung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitbetätigungen handelt, der für die Erbringung einen spezifischen Termin vorsieht. Dies gilt, wie der EuGH bereits entschieden hat, auch für den Erwerb von Eintrittskarten von einem im eigenen Namen handelnden Vermittler.

Ob die Pandemie zum Wegfall der Geschäftsgrundlage geführt hat, lässt der BGH ebenso wie das LG offen. Selbst wenn die Frage zu bejahen wäre, stünden den Klägern keine Ansprüche gegen die Beklagte auf Rückzahlung des Kaufpreises zu. Nach der in Art. 240 § 5 EGBGB zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers war den Klägern ein Festhalten am Vertrag – d.h. die Annahme der vom Veranstalter angebotenen Gutscheine – zuzumuten.

Praxistipp: Nach Art. 240 § 5 EGBGB kann der Inhaber eines nach dieser Vorschrift ausgegebenen Gutscheins die Auszahlung des Werts verlangen, wenn er den Gutschein bis zum 31.12.2021 nicht eingelöst hat.

Oberster Gerichtshof der USA lehnt „discovery“ für Schiedsgerichte ab

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass in den USA ein Verfahren praktiziert wird, das hierzulande regelmäßig auf wenig Gegenliebe stößt. Die sog. „discovery“ (Entdeckung, Ermittlung).  Über dieses Verfahren kann eine potentielle Streitpartei von der potentiellen Gegenpartei schon vor dem eigentlichen Prozess die Herausgabe von Dokumenten u. a. verlangen. Dabei besteht in den USA auch die Möglichkeit, dass dort entsprechende Ersuchen bearbeitet werden, die aus dem Ausland kommen.

Die entscheidende Frage war nun, ob auch Schiedsgerichte die Voraussetzungen der einschlägigen Vorschrift erfüllen, ob also ein Schiedsgericht ein entsprechendes Ersuchen stellen kann. Der Oberste Gerichtshof der USA hat die Frage einstimmig entschieden, d. h. mit 9 : 0 Stimmen: Nein! Der einschlägige Wortlaut der Vorschrift lautete u. a. wie folgt: Discovery ist zulässig „for use in a proceeding in a foreign or international tribunal“; also in etwa: für den Gebrauch in einem Verfahren vor einem ausländischen oder internationalen Gericht. Letztlich ist damit klar, dass Schiedsgerichte nicht als solche Gerichte angesehen werden können, zumal das Wort „arbitration“ an keiner Stelle in der Vorschrift enthalten ist.

Die Entscheidung hat die von Donald Trump vorgeschlagene jüngere Richter Amy Coney Barrett verfasst. Man kann an dieser Entscheidung jedoch sehen, dass die politische Orientierung der Richter, anders als in anderen Fällen, hier keine Rolle gespielt hat. Sie argumentiert sorgfältig unter Heranziehung von Wörterbüchern zum Wortlaut der Vorschrift und unterbreitet anschließend auch noch darüber hinaus gehende Sachargumente.

Für die Attraktivität von Schiedsgerichtsverfahren ist diese Entscheidung allerdings eher nachteilig. Aber wenigstens wurde die Frage nunmehr verbindlich geklärt, was angesichts divergierender Entscheidungen von Berufungsgerichten in den USA dringend erforderlich war.

OLG Braunschweig: Unstatthafte Beschwerde eines Rechtsanwalts gegen eine vorläufige Wertfestsetzung

Das OLG Braunschweig (Beschl. v. 13.6.2022 – 4 W 16/22) hat einen wichtigen Grundsatz des Streitwertrechts betont.

Das LG Itzehoe setzte den Wert eines Verfahrens auf 27.897,13 Euro fest und verwies anschließend das Verfahren wegen örtlicher Unzuständigkeit an das LG Braunschweig. Der Klägervertreter vertrat die Auffassung, der Wert sei zu niedrig festgesetzt worden und legte nach der Verweisung im eigenen Namen gegen den Streitwertbeschluss Beschwerde ein. Der Beschwerde wurde vom LG Braunshcweig nicht abgeholfen, sondern dem für das LG Braunschweig zuständigen OLG Braunschweig vorgelegt. Das OLG verwarf die Beschwerde als unzulässig.

Das für das LG Braunschweig zuständige OLG hatte hier richtigerweise zu entscheiden. Nach einer Verweisung eines Rechtsstreites ist über ein Rechtsmittel so zu entscheiden, als stamme die angefochtene Entscheidung von dem übernehmenden Gericht.

Die Beschwerde ist jedoch nicht statthaft. Das LG Itzhoe hatte den Streitwert nämlich nur vorläufig zur Bestimmung der Zuständigkeit festgesetzt. Dies wäre zwar nicht erforderlich gewesen, erfolgt jedoch gleichwohl durchaus häufig. Damit handelte es sich hier um die Festsetzung des Zuständigkeitsstreitwertes, nicht des Gebührenstreitwertes. Eine derartige Wertfestsetzung ist für die Partei nicht anfechtbar. Die Beschwerdemöglichkeit der §§ 63, 68 GKG betrifft nur die verbindliche Festsetzung des Gebührenstreitwertes. Im Streitwertrecht steht dem Rechtsanwalt auch kein im Vergleich zur Partei weitergehendes Beschwerderecht zur Verfügung. Demensprechend hilft § 32 Abs. 2 RVG dem Rechtsanwalt hier nach ganz h. M. gleichfalls nicht weiter.

Fazit: Die Festsetzung eines Zuständigkeitsstreitwertes durch ein Gericht kann somit weder von der Partei noch von einem Rechtsanwalt angefochten werden. Wenn es erforderlich werden sollte, steht es dem Rechtsanwalt im Übrigen frei, den Weg des § 32 RVG zu gehen, mithin aus eigenem Recht die Festsetzung des Wertes für seine Gebühren zu verlangen.