Die Professoren Stefan Leible, Peter Mankowski und Ansgar Staudinger im Interview zu grenzüberschreitenden B2B-Verträgen, der nicht einfachen Suche nach dem zuständigen Gericht bei grenzüberschreitenden Klagen und der dabei entscheidenden Frage, wie Mandanten zu ihrem Recht kommen sowie zum Komplex der grenzüberschreitenden Verbrauchersachen

Grenzüberschreitende Mandate nehmen in der anwaltlichen Praxis von Jahr zu Jahr zu. Die damit verbundenen Fragestellungen sind vielfältig, häufig schwer und mit hohem Rechercheaufwand zu beantworten. Daran orientiert, haben die Autoren des gerade in 5. Auflage erschienenen Bandes „Brüssel Ia-VO“ aus der Reihe „Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht“ ihre Kommentierung konsequent ausgerichtet. Die drei Autoren des Bandes standen mir für einige sehr unterschiedliche praxisrelevante Fragen zur Verfügung.

Pittrich: Vielen Dank, dass Sie uns für das Interview zur Verfügung stehen. Ich darf, Herr Professor Mankowski, mit der Frage beginnen, mit denen viele grenzüberschreitend beratende Anwält_innen konfrontiert sind: Gibt es für die Gestaltung grenzüberschreitender B2B-Verträge eigentlich etwas Wichtigeres als Gerichtsstandsvereinbarungen?

Mankowski: Ein klares Nein. Die Dispute Resolution Clause sollte am Anfang jeder seriösen „internationalen“ Vertragsgestaltung stehen. Im europäischen Raum ist Art. 25 Brüssel Ia-VO von überragender Bedeutung. In der täglichen Praxis sind Spezialfragen und Details zu klären, z.B. zu Unternehmensverbünden, Mehrparteienvereinbarungen oder Konflikten zwischen mehreren Gerichtsstandsvereinbarungen. Das spiegelt sich auch in einer Vielzahl von Entscheidungen des EuGH wider.

Pittrich: Eine andere Frage, die ich immer wieder aus der Praxis höre, ist: Wo ist die „Grenze“ zwischen grenzüberschreitendem Zivil- und Öffentlichem Recht?

Mankowski: Die Abgrenzung zwischen Zivilsachen einerseits und öffentlich-rechtlichen Sachen hat sich zu einem Dauerbrenner entwickelt. Hier ist die Grenze für eine Vielzahl von Gebieten, z.B. für die staatliche Exportförderung durch Bürgschaften und Garantien, zu ziehen. Aktuelles Beispiel für die Bedeutung der Abgrenzung ist die Entscheidung des EuGH vom 7. Mai 2020 (C-641/18, ECLI:EU:C:2020:349 – LG/Rina SpA u. Ente Registro Italiano Navale): Auf welche Seite der Grenze fällt die Haftung eines Schiffszertifizierers, wenn eine Zertifizierung rechtlich zwingend vorgeschrieben ist? Das betrifft übrigens keineswegs nur die Schiffszertifizierung, sondern vielmehr jegliche Art von Pflichtzertifizierung.

Pittrich: Die nachfolgende Frage, Herr Professor Leible, hört sich einfacher an, als sie vielleicht ist: Wie findet man bei grenzüberschreitenden Klagen das zuständigen Gericht, damit die Mandanten schnell zu ihrem Recht kommen?

Leible: In der Tat ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten, da sich, je nach Fall, viele unterschiedliche Fragen anschließen. Um die Komplexität der Frage zu verdeutlichen möchte ich mit „Gegenfragen“ antworten. Grenzüberschreitende Verträge sind einer der häufigsten Gründe für grenzüberschreitende Klagen. Aber wie bestimme ich das für Streitigkeiten aus solchen Verträgen zuständige Gericht, wenn es an einer Gerichtsstandsvereinbarung fehlt? Wie bestimme ich autonom, d.h. ohne Rückgriff auf das nationale Recht, nach der Brüssel Ia-VO den vertraglichen Erfüllungsort? Welche Besonderheiten gelten für Kauf- und welche für Dienstleistungsverträge? Wie und vor allem unter welchen Voraussetzungen wirken Erfüllungsortvereinbarungen? Und was gilt bei mehreren Liefer- oder Leistungsorten? Es fehlt hier leider der Platz, um Ihre Frage zu beantworten, ich hoffe aber einen Einblick in die Problematik gegeben zu haben und erlaube mir auf meine ausführliche Kommentierung in „Brüssel Ia-VO“ zu verweisen.

Pittrich: Ein brennendes, aktuelles Problem sind über das Internet begangene unerlaubte Handlungen und die Bestimmung des Gerichtsstands. Was ist hier zu beachten?

Leible: Bei der ohnehin häufig schwierigen Bestimmung des Gerichtsstands bei grenzüberschreitenden Delikten, spielen seit dem Eintritt in das elektronische Zeitalter über das Internet begangene unerlaubte Handlungen eine besondere Rolle. Maßgeblich ist auch hier grundsätzlich der Ort des Eintritts des schädigenden Ereignisses. Für Internetdelikte hat der EuGH in den vergangenen Jahren freilich die Kriterien zur Bestimmung des Schadensortes weiterentwickelt und verfeinert. Dies gilt ebenso für die gerade auch im grenzüberschreitenden Bereich in letzten Jahren immer bedeutsamer gewordenen Fälle er Veruntreuung von Anlagegeldern oder des Kapitalanlagebetrugs.

Pittrich: Herr Professor Staudinger, von erhebliche Praxisrelevanz sind grenzüberschreitende Verbrauchersachen, die in den Art. 17 ff. Brüssel Ia-VO geregelt sind. Wie sieht es aus, wenn ein privater Kapitalanleger, möglicherweise in Millionenhöhe, Geld investiert? Gilt auch der als Verbraucher?

Staudinger: In der Tat geht es hier um eine Abgrenzungsfrage. Eine Antwort gibt der Europäische Gerichtshof in seiner aktuellen Entscheidung vom 2. April 2020 (Rechtsache C-500/18). So hängt die Verbrauchereigenschaft für das Internationale Zivilverfahrensrecht lediglich davon ab, dass eine natürliche Person mit dem Abschluss des Vertrages einen privaten Zweck verfolgt. Die Höhe der investierten Geldbeträge oder auch die Anzahl von durchgeführten Transaktionen sind insofern irrelevant.

Pittrich: Haben Sie einen Tipp, welcher Punkt oder welche Regelungen bei der Beantwortung von Zuständigkeitsfragen in Verbrauchersachen des Unionsprivatrechts zusätzlich zu beachten sind?

Staudinger: Wichtig ist bei der Beantwortung der Frage nach der Zuständigkeit in grenzüberschreitenden Verbrauchersachen, dass immer auch das anwendbare Recht nach Maßgabe der Rom I-VO in den Blick genommen wird. Ein Beispiel hierfür ist die Kontrolle von Gerichtsstandsvereinbarungen zwischen Unternehmern und Verbrauchern. Derartige Gerichtsstandsklauseln werden nicht nur nach Art. 19 und Art. 25 Brüssel Ia-VO überprüft, sondern gleichermaßen anhand des AGB-Rechtes. Doch welches AGB-Recht ist überhaupt einschlägig bei einem internationalen Sachverhalt? Hier sind die einschlägigen Regelungen der Rom I-VO mitzuberücksichtigen.

Pittrich: Herzlichen Dank für das Interview!

[1] Professor Dr. Stefan Leibleist Präsident der Universität Bayreuth, und hat dort den Lehrstuhl Zivilrecht IV: Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im deutschen und europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht und der Privatrechtsvergleichung.

[2] Professor Dr. Peter Mankowski ist Ordinarius für Bürgerliches Recht, Rechtsvergleichung und Internationales Privat- und Prozessrecht an der Universität Hamburg. Er veröffentlicht in deutscher und englischer Sprache, mit dem Schwerpunkt des internationalen Privat- und Prozessrechts. Weitere Themenbereiche seiner Publikationen sind: Allgemeines Zivilrecht, Lauterkeitsrecht, Verbraucherschutzrecht, Schiedsrecht und Internationales Einheitsrecht sowie Rechtsvergleichung.

[3] Professor Dr. Ansgar Staudinger ist Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht, Deutsches und Internationales Verfahrensrecht, Europäisches Privatrecht, Versicherungsrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Bielefeld. Er engagiert sich in vielen Institutionen und ist u.a Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstags und der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht.

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Diese Woche geht es um die Zuständigkeit zur Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht

Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht
Beschluss vom 12. November 2020 – V ZB 148/19

Mit der Beglaubigungsbefugnis der Betreuungsbehörden gemäß § 6 BtBG befasst sich der V. Zivilsenat.

Ein im Jahr 2016 verstorbener Erblasser hatte den beiden Verfahrensbeteiligten im Jahr 2011 in einer als Vorsorgevollmacht bezeichneten Urkunde jeweils Einzelvollmacht zu seiner Vertretung in der Gesundheitsfürsorge, vertraglichen Angelegenheiten und Rechtsstreitigkeiten sowie in allen Vermögensangelegenheiten einschließlich des Erwerbs und der Veräußerung von Vermögen erteilt, und zwar mit der Maßgabe, dass die Vollmacht über den Tod hinaus gültig sein soll. Die Urkundsperson der Betreuungsbehörde beglaubigte die Echtheit der Unterschrift gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 des Betreuungsbehördengesetzes (BtBG). Im Jahr 2019 übertrug die Beteiligte zu 1 im Namen der unbekannten Erben den zum Nachlass gehörenden Grundbesitz unentgeltlich auf den Beteiligten zu 2. Das Grundbuchamt gab den Beteiligten durch Zwischenverfügung auf, eine Genehmigungserklärung der Erben und einen Erbnachweis vorzulegen. Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Der BGH hebt die Zwischenverfügung auf.

Entgegen der Auffassung des Grundbuchamts hat die Beteiligte zu 1 ihre Vollmacht in der nach § 29 Abs. 1 Satz 1 GBO erforderlichen Form nachgewiesen. Die nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG zulässige Beglaubigung einer Vorsorgevollmacht durch einen dafür gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BtBG ermächtigten Mitarbeiter der Betreuungsbehörde ist eine öffentliche Beglaubigung im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 GBO.

Eine Vorsorgevollmacht im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG ist eine Vollmacht, die zu dem Zweck erteilt wird, eine künftig mögliche Betreuungsbedürftigkeit zu vermeiden. Eine solche Zwecksetzung ergibt sich im Streitfall schon aus der Bezeichnung als Vorsorgevollmacht. Die Beglaubigungsbefugnis nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BtBG besteht auch für Vollmachten, die im Außenverhältnis unbedingt erteilt und nur im Innenverhältnis auf den Vorsorgefall beschränkt werden, und für Vollmachten, die über den Tod des Vollmachtgebers hinaus gelten sollen.

Praxistipp: Welche Behörde auf örtlicher Ebene in Betreuungsangelegenheiten zuständig ist, bestimmt sich gemäß § 1 Abs. 1 BtBG nach Landesrecht. In der Regel ist sie auf Ebene der Stadt- und Landkreise angesiedelt. Örtlich zuständig ist gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 BtBG die Behörde, in deren Bezirk der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für die Wirksamkeit der Beglaubigung genügt die sachliche Zuständigkeit.

Kann bald der inländischen Verbraucher seinen deutschen Reiseveranstalter an seinem Firmensitz verklagen?

Das Landgericht Mainz hat am 16. Juli 2020 in der Rechtssache C-317/20, BeckEuRS 2020, 652467 ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH eingereicht mit der Frage, ob Artikel 18 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-VO) dahingehend auszulegen sei, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter, ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Ausland liegt (sog. „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen könne?

Möglicherweise steht den Reiseveranstaltern ein Paradigmenwechsel hinsichtlich des Gerichtsstandes bevor. Der für die Anwendung der Zuständigkeitsregeln der Brüssel Ia-VO notwendige Auslandsbezug könne sich möglicherweise auch aus dem Erfüllungsort einer Pauschalreise im ausländischen Mitgliedsstaat oder Drittstaat ergeben. Wenn also z. B. ein Pauschalreisender aus München bei seinem Reiseveranstalter mit Sitz in Hannover eine Reisepreisminderung einklagen möchte, will das LG Mainz geklärt haben, ob der Verbraucher seine vertraglichen Ansprüche gegen seinen Reiseveranstalter sowohl am Sitz in Hannover als auch an seinem Wohnsitz in München einklagen könne.

Die EU-Kommission schlägt in ihrer Stellungnahme vom 8.12.2020 vor, diese Frage zu bejahen, obwohl die bisher ganz herrschende Meinung in der Rechtsprechung und der reiserechtlichen Literatur einen solchen Verbrauchergerichtsstand am Wohnort des Reisenden abgelehnt hat (vgl. Führich, Reiserecht, 7. Aufl. 2015, § 4 Rn. 9, ff. 11 m.w. Nachw. Die Kommission ist der Auffassung, dass sich der Gerichtsstand bei solchen unechten Inlandsfällen „ausschließlich“ nach der Brüssel Ia-VO richte und die nationalen Zuständigkeitsvorschriften der §§ 12 ff. ZPO auch nicht subsidiär gelten, sondern durch das vorrangige EU-Recht verdrängt würden. Werde also ein Pauschalreisevertrag zwischen zwei inländischen Vertragspartnern grenzüberschreitend erfüllt mit z.B. einem Flug nach Mallorca und einem dortigen Hotelaufenthalt oder einer Kreuzfahrt mit verschiedenen ausländischen Hafenanlandungen sei die Brüssel Ia-VO vorrangig heranzuziehen (so bisher Staudinger in Führich/Staudinger, Reiserecht, 8. Aufl. 2019, § 4 Rn. 2 m.w.Nachw.).

Ich habe nach wie vor erhebliche Zweifel, ob die Internationalität einer Pauschalreise durch eine ausländische Destination als Zielgebiet ausreicht, den für die Brüssel Ia-VO notwendigen Auslandsbezug zu schaffen, außer das anwendbare Kollisionsrecht beruft selbst das ausländische Recht oder den Gerichtsstand wie z. B. bei der Miete eines Ferienhauses in der EU nach Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia-VO. Ein normrelevanter Auslandsbezug ist m. E. abzulehnen, wenn ein Reiseveranstalter Teile seiner Reiseleistungen im Ausland zu erbringen hat. Reisevertraglich werden damit keine Rechtsnormen des Zielgebiets angewendet. Auch eine deliktische Handlung im Zielgebiet ist als mögliche Verkehrsicherungspflichtverletzung nicht im Ausland begangen, da es nicht auf den Erfolgsort der Pflichtverletzung ankommt. Eine mögliche Pflichtverletzung eines deutschen Veranstalters ist dem inländischen Management zuzurechnen. Letztlich hat auch der deutsche Gesetzgeber einen zusätzlichen Verbrauchergerichtsstand nach Art. 18 der Brüssel Ia-VO nicht gewollt. Würde man Art. 18 der VO derartig erweiternd auslegen, würde in unzulässiger Weise in die Kompetenz des nationalen Gesetzgebers in Berlin eingegriffen werden. Die ZPO kennt bis heute keinen allgemeinen Verbrauchergerichtsstand. Eine Ausnahme ist nur Art. 225 VVG mit einem Verbrauchergerichtsstand in Versicherungssachen (Führich in Führich/Staudinger, Reiserecht, § 30 Rn. 27). Mit einer solchen Auslegung des Art. 18 der Brüssel Ia-VO würden fast alle deutschen Regelungen des Gerichtsstands der §§ 12 ff. ZPO ihres Anwendungsbereichs beraubt (Führich, Reiserecht, 7. Aufl. 2015, § 4 Rn. 11 m. w. Nachw.).

Prof. Dr. Ernst Führich

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Diese Woche geht es um die Pflichten des Inhabers einer Internetanschlusses nach einer Urheberrechtsverletzung

Angabe des Täters einer Urheberrechtsverletzung
Urteil vom 17. Dezember 2020 – I ZR 228/19

Mit der Frage einer Auskunftspflicht des Inhabers eines Internetanschlusses befasst sich der I. Zivilsenat.

Die Klägerin nahm den Beklagten wegen des unbefugten Anbietens eines urheberrechtlich geschützten Computerspiels auf Schadensersatz in Anspruch. Das Angebot war über einen Internetanschluss verbreitet worden, dessen Inhaberin der Beklagte ist. Auf die Abmahnung der Klägerin hatte der Beklagte eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben, zugleich aber mitgeteilt, er selbst habe das Spiel nicht öffentlich im Internet zugänglich gemacht. Auf die von der Klägerin erhobene Klage auf Erstattung von Abmahnkosten und Schadensersatz in Höhe von insgesamt rund 1.900 Euro trug der Beklagte vor, die Verletzung sei durch den Sohn einer Arbeitskollegin seiner Lebensgefährtin begangen worden. Die Klägerin beantragte zuletzt nur noch die Feststellung, dass der Beklagte ihr die Kosten des Rechtsstreits zu ersetzen hat. Dieser Antrag blieb in den beiden ersten Instanzen ohne Erfolg.

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg. Der Antrag ist zwar zulässig, weil die Klägerin die zu erstattenden Kosten nicht beziffern und ihren Anspruch wegen der Rücknahme des Hauptantrags nicht im Wege der Kostenfestsetzung geltend machen kann. Er ist aber unbegründet, weil der Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet war, den Täter zu benennen. Eine Nebenpflicht zur Auskunftserteilung aus dem Unterlassungsvertrag scheidet aus, weil der Beklagte beim Abschluss dieses Vertrags bereits darauf hingewiesen hat, dass er nicht der Täter ist. Aus der Verletzung des Urheberrechts ergibt sich eine solche Pflicht nicht, weil der Beklagte für die Verletzung nicht verantwortlich ist. Die Stellung als Inhaber des Anschlusses, über den die Verletzung begangen wurde, begründet auch kein vorvertragliches Schuldverhältnis, das zu einer Auskunftspflicht führen könnte. Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag scheiden in dieser Konstellation ebenfalls aus. Eine Ersatzpflicht aus § 826 BGB käme allenfalls dann in Betracht, wenn der Beklagte vorprozessual wissentlich falsche Angaben über den Täter gemacht hätte.

Praxistipp: Im Prozess trifft den Anschlussinhaber eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, welchen anderen Personen er den Internetanschluss zur Verfügung gestellt hat. Kommt er dem nicht nach, besteht eine tatsächliche Vermutung für seine Täterschaft.

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Diese Woche geht es um den Mindestinhalt einer Berufungsschrift

Zweifelsfreie Bezeichnung des Berufungsklägers
Beschluss vom 11. November 2022 – V ZB 32/20

Mit den Anforderungen an die Bezeichnung des Berufungsklägers befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien streiten mit Klage, Widerklage und Drittwiderklage um die Freigabe von hinterlegten Beträgen aus Grundstücksgeschäften. Das LG hat die Klage abgewiesen und der Widerklage sowie der Drittwiderklage im Wesentlichen stattgegeben. Der erstinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Klägerin und des Drittwiderbeklagten reichte innerhalb der Berufungsfrist einen Schriftsatz mit folgendem Inhalt ein:

„In dem Rechtsstreit [Name und Vorname der Klägerin] u. a. ./. [Name und Vorname des Beklagten], LG Kempten, [Aktenzeichen] legen wir gegen das Urteil des LG Kempten vom 30.08.2019, zugegangen am 04.09.2019, Berufung ein.“

Dem Schriftsatz waren Rubrum und Tenor des angefochtenen Urteils beigefügt.

Das OLG verwarf die Berufung als unzulässig. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde der Klägerin und des Widerbeklagten bleibt ohne Erfolg.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss eine Rechtsmittelschrift für sich allein betrachtet oder mit Hilfe weiterer Unterlagen bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eindeutig erkennen lassen, wer Rechtsmittelführer und wer Rechtsmittelgegner sein soll. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Aus den innerhalb der Berufungsfrist übermittelten Unterlagen geht zwar hervor, dass die Berufung durch den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Klägerin und des Widerbeklagten eingelegt wurde und dass diese durch das angefochtene Urteil beschwert sind. Es gibt aber keine Auslegungsregel, die besagt, dass ein Rechtsmittel im Zweifel für alle unterlegenen Streitgenossen eingelegt wird.

Praxistipp: Um die aufgezeigten Schwierigkeiten zu vermeiden, sollte die Rechtsmittelschrift das komplette Rubrum der angefochtenen Entscheidung wiedergeben und die ausdrückliche Erklärung enthalten, für welche Parteien das Rechtsmittel eingelegt wird.

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Diese Woche geht es um den Anwendungsbereich des Wohnraummietrechts

Vermietung von Wohnräumen an gewerblichen Zwischenmieter
Urteil vom 13. Januar 2021 – VIII ZR 66/19

Mit den Voraussetzungen einer Einordnung als Wohnraummietvertrag befasst sich der VIII. Zivilsenat.

Der Kläger ist Zwangsverwalter eines Grundstücks. Die Schuldnerin hatte acht dazu gehörende Wohnungen an eine GmbH & Co. KG vermietet. Der Vertrag trägt die Überschrift „Mietvertrag über Wohnraum“ und sieht unter anderem vor, dass sich die Kündigungsfristen nach der (für die Wohnraummiete geltenden) Regelung in § 573c BGB richten. Ferner ist vereinbart, dass der Mieter zu einer Untervermietung berechtigt ist. Im August 2011 kündigte der Kläger den Mietvertrag mit der Gesellschaft. Diese vermietete kurz darauf – noch vor Ablauf der Kündigungsfrist – eine der Wohnungen an den Beklagten. Im Juni 2016 kündigte der Kläger das Mietverhältnis mit dem Beklagten wegen Zahlungsverzugs fristlos, hilfsweise fristgemäß. Das AG verurteilte den Beklagten antragsgemäß zu Räumung und Herausgabe sowie zur Zahlung von rückständiger Miete und Nebenkosten. Das LG wies die Klage ab.

Der BGH verweist die Sache an das LG zurück. Entgegen der Auffassung des LG ist der Kläger gemäß § 565 Abs. 1 Satz 1 BGB in das Mietverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Beklagten eingetreten. Die von ihm im August 2011 erklärte Kündigung war wirksam. Sie bedurfte nicht eines berechtigten Interesses im Sinne von § 573 BGB, weil der gekündigte Vertrag nicht den Vorschriften über die Wohnraummiete unterlag. Nach dem Gesetz sind diese Vorschriften nur dann anwendbar, wenn der Mieter die Wohnung zu Wohnzwecken nutzen will. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall nicht vor, weil die Gesellschaft die Wohnungen zum Zwecke der Weitervermietung angemietet hat. Entgegen der Auffassung des LG ist dem Vertrag mit der Gesellschaft keine konkludente Einigung über die Geltung der genannten Vorschriften zu entnehmen. Die Bezeichnung als Wohnraummietvertrag und die Vereinbarung der in § 573c BGB geltenden Kündigungsfristen reichen hierfür nicht aus.

Praxistipp: Für den Untermieter hat die Beendigung des Hauptmietvertrags in solchen Konstellationen lediglich einen Vermieterwechsel gemäß § 565 Abs. 1 Satz 1 BGB zur Folge.

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Diese Woche geht es um die Pflicht zur Erhaltung einer Nachbarwand nach Abbrennen eines daran angebauten Gebäudes.

Abbrennen eines an eine Nachbarwand angebauten Gebäudes
Beschluss vom 22. Januar 2021 – V ZB 12/19

Mit den Pflichten aus § 922 Abs. 3 BGB befasst sich der V. Zivilsenat.

Die Parteien sind Eigentümer zweier benachbarter Grundstücke, die durch Teilung entstanden sind. Schon vor der Teilung war auf dem nunmehr dem Beklagten gehörenden Grundstück eine Scheune errichtet worden. An deren Giebelwand wurde später ein nunmehr auf dem Grundstück des Klägers stehendes Wohnhaus angebaut. Im Teilungsvertrag wurde vereinbart, dass die Grundstücksgrenze durch die gemeinsame Giebelmauer verlaufen soll. Im Jahr 2011 wurde die Scheune durch einen Brand, der auch auf das Wohnhaus übergriff, stark beschädigt. Der Kläger erhielt von seiner Gebäudeversicherung 50.000 Euro zur Sanierung der Trennwand. Vom Beklagten verlangt er unter anderem, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Trennwand gegen Witterung, Wärmeverlust und Feuchtigkeitsimmissionen zu schützen. Das LG wies die Klage insoweit ab. Das OLG verurteilte den Beklagten antragsgemäß.

Der BGH verweist die Sache auf die Revision des Beklagten an das OLG zurück – allerdings nur deshalb, weil der Umfang des dem Kläger stehenden Anspruchs näherer Klärung bedarf.

Dem Grunde nach sieht der BGH den Klageanspruch gemäß § 922 Satz 3 und § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB als begründet an. Die Trennwand war zwar weder bei ihrer Errichtung noch beim Bau des Wohnhauses eine gemeinsame Grenzanlage im Sinne von § 921 BGB. Sie erlangte diese Eigenschaft aber mit der einvernehmlichen Aufteilung des Grundstücks. Mangels abweichender Vereinbarung darf die Wand gemäß § 922 Satz 3 BGB nur einvernehmlich beseitigt oder geändert werden. Durch das Abbrennen der Scheune ist eine der Zustimmung bedürfende Änderung eingetreten, weil das Wohnhaus des Klägers nicht mehr in gleicher Weise gegen Witterungseinwirkungen geschützt ist. Hierfür ist der Beklagte als Zustandsstörer verantwortlich, und zwar – anders als hinsichtlich der am Wohnhaus eingetretenen Schäden – unabhängig davon, ob er den Brand zu verantworten hat. Der Kläger kann deshalb analog § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB verlangen, dass die eingetretene Störung beseitigt wird.

Der Anspruch ist nicht gemäß § 86 Abs. 1 VVG auf die Gebäudeversicherung des Klägers übergegangen. Der Anspruch aus § 922 Satz 3 und § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB ist untrennbar mit dem Eigentum am Grundstück verbunden. Zudem fehlt es an der nach § 86 Abs. 1 VVG erforderlichen Kongruenz. Die Gebäudeversicherung deckt zwar auch Schäden an der Trennwand ab. Der Anspruch aus § 922 Satz 3 und § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB ist aber auf Erhalt des Bestandes und der Funktion der Wand als gemeinsame Grenzeinrichtung gerichtet, unabhängig davon, ob eine Substanzverletzung eingetreten ist.

Auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen ist die vom OLG ausgesprochene Verurteilung aber zu weitgehend. Zum einen muss dem Beklagten die Möglichkeit offenbleiben, die vorherige Funktion in der Weise wiederherzustellen, dass er eine neue Scheune an die Wand anbaut. Zum anderen darf der Kläger eine Wärmedämmung nur verlangen, wenn und soweit die Wand durch die abgebrannte Scheune ebenfalls gegen Wärmeverlust geschützt war. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, muss das OLG nach Zurückverweisung aufklären.

Praxistipp: Die Anwendung von § 921 und § 922 BGB setzt voraus, dass die gemeinsame Einrichtung die Grundstücksgrenze überschreitet.

OLG Brandenburg: Besorgnis der Befangenheit bei Untätigkeit?

Das OLG Brandenburg (Beschl. v. 21.9.2020 – 1 W 25/20) hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die bloße Untätigkeit eines Richters eine Besorgnis der Befangenheit begründen könne. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Sachverhalt: Der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragte im Juni 2018 bei dem Amtsgericht einen Erbschein. Im November 2018 wies die Richterin darauf hin, dass der Antragsteller nach ihrer Auffassung durch ein Negativtestament als Erbe ausgeschlossen sei. Deswegen käme die beantragte Erteilung des Erbscheins nicht in Betracht. Der Antragsteller hielt an seiner abweichenden Rechtsauffassung fest. Er bat um eine Entscheidung. Diese Bitten wiederholte der Antragsteller im Februar, Mai und Juni 2019 und schließlich im Januar 2020. Im Juni 2020 lehnte der Antragsteller dann die Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab und erhob darüber hinaus eine Verzögerungsrüge. In ihrer dienstlichen Erklärung führt die Richterin aus, sie habe die Sache vor sich hergeschoben, um sich zu einem späteren Zeitpunkt die nötige Zeit für die Bearbeitung der Sache zu nehmen. Das AG wies den Antrag zurück, das OLG beschied die sofortige Beschwerde gleichfalls negativ.

Die Entscheidung des Gerichts: Das OLG weist darauf hin, dass die schlichte Untätigkeit eines Richters ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine Besorgnis der Befangenheit noch nicht begründen kann. Eine Untätigkeit kann eine Besorgnis der Befangenheit bestenfalls dann rechtfertigen, wenn die mitgeteilten Gründe unhaltbar sind oder wenn Gründe nicht einmal mitgeteilt werden und daraus der Schluss auf eine rechtsschutzfeindliche Gesinnung gegenüber der Partei gerechtfertigt ist. Dabei ist es nicht möglich, eine derartige Gesinnung einfach zu unterstellen. Somit kann hier eine Besorgnis der Befangenheit nicht unterstellt werden.

Fazit: Eine andere Entscheidung ist aus praktischen Erwägungen heraus kaum vorstellbar! Ansonsten hätte – wenigstens theoretisch – jeder Richter die Möglichkeit, sich einer für ihn unangenehmen Sache dadurch zu entledigen, dass er sie einfach nicht bearbeitet. Natürlich ist nicht zu verkennen, dass jahrelange Verzögerungen für die Rechtssuchenden im Einzelfall zu unerträglichen Situationen führen können. Dieser Konflikt ist letztlich kaum oder gar nicht lösbar. Im Zweifelsfall bleibt wahrscheinlich nur übrig, die Justizverwaltung in Gestalt des Justizministeriums mit der Androhung von Amtshaftungsansprüchen unter Druck zu setzen. Dann kann man nur hoffen, dass die Amtshaftungsklage tatsächlich in angemessener Dauer bearbeitet wird und nicht auch mit Verzögerungsrügen und Befangenheitsanträgen endet.

 

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Diese Woche geht es um die Kostenentscheidung bei Rücknahme einer von Beginn an unbegründeten Klage.

Anlass zur Einreichung der Klage
Beschluss vom 17. Dezember 2020 – I ZB 38/20

Mit den Voraussetzungen des § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO befasst sich der I. Zivilsenat.

Die Klägerin hatte die Beklagte wegen Urheberrechtsverletzung abgemahnt, weil über den Internetanschluss der Beklagten an einem bestimmten Tag zwei Folgen einer Fernsehserie öffentlich zum Download angeboten worden waren. Die Beklagte gab ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und ohne Angaben zur Nutzung ihres Internetanschlusses eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab. Die Klägerin klagte daraufhin auf Schadensersatz und Erstattung von Rechtsverfolgungskosten in Höhe von insgesamt 1.107,50 Euro. In ihrer Klageerwiderung teilte die Beklagte mit, sie habe ihre Wohnung im betreffenden Zeitraum über Airbnb vermietet und sich andernorts aufgehalten. Die Mieterin habe mitgeteilt, dass vermutlich einer ihrer Brüder die Rechtsverletzung begangen habe. Die Klägerin nahm die Klage zurück und beantragte, der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Das AG hob die Kosten gegeneinander auf. Die Beschwerde der Beklagten blieb erfolglos.

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten führt zu einer Kostenentscheidung zu Lasten der Klägerin. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen können die Kosten nicht gemäß § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO ganz oder teilweise der Beklagten auferlegt werden. Es fehlt schon an einem Anlass zur Klage im Sinne dieser Vorschrift. Zur Erfüllung dieser Voraussetzung reicht es zwar aus, wenn die Klage zumindest vor Rechtshängigkeit zu irgendeinem Zeitpunkt zulässig und begründet gewesen wäre und der Kläger bei Einreichung der Klage weder wusste noch wissen musste, dass sich eine Änderung ergeben hat. Nicht ausreichend ist aber, wenn der Kläger nur subjektiv davon ausging, dass seine Klage Erfolg haben würde. Darüber hinaus ist eine Kostenentscheidung zugunsten der Klägerin im Streitfall auch deshalb nicht möglich, weil das Ereignis, das den Anlass zur Klage entfallen ließ, erst nach Rechtshängigkeit eingetreten ist. § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO ist nur dann anwendbar, wenn das ändernde Ereignis vor Rechtshängigkeit stattgefunden hat. Eine Umdeutung der Klagerücknahme in eine Erledigungserklärung oder einen Antrag auf Feststellung eines materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruchs ist nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nicht möglich.

Praxistipp: Wegen der fehlenden Möglichkeit der Umdeutung sollte der Kläger in solchen Fällen vor der Rücknahme sorgfältig prüfen, ob nicht eine Erledigungserklärung oder ein Antrag auf Feststellung der materiell-rechtlichen Pflicht zur Kostentragung zweckmäßiger ist.

Hervorstehendes Gehwegpflaster als Stein des Anstoßes: Das OLG Hamm zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gegenüber Fußgängern

Unebenes Pflaster als „Stolperfalle“: gar kein seltener Fall

Es ist wohl jedem schon passiert: man geht – oder schlendert – dahin, oft in Gedanken versunken, da stößt man mit den Fuß auf einen (mehr oder minder leicht) hervorstehenden Pflasterstein. Meist geht es ja gut (und man schimpft über sich selbst, weil man nicht besser auf den Weg geachtet hat). Tatsächlich scheint die Stolperfalle Pflaster gar nicht so selten aufgestellt zu sein: Recherchen im Internet ergeben jedenfalls ohne Aufwand pressewirksame Fälle  aus Lohr am Main (2013), Ebrach (2016), Ratingen (2016), Germering (2019) oder Meschede (2019).

OLG Hamm: Urt. v. 16.10.2019 – 11 U 72/19

Auch in einem jüngst vom OLG Hamm entschiedenen Fall wurde ein hervorstehender Pflasterstein einer Passantin zum Verhängnis. Die damals 64jährige Klägerin fiel im August 2017 auf dem Alten Markt in Bochum-Wattenscheid hin und brach sich dabei mehrfach den linken Oberarmknochen.

Sie warf der beklagten Stadt vor, ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben, weil sie einen 4 bis 5 cm über das Straßenniveau hinausragenden Pflasterstein, der nicht ohne weiteres erkennbar war, nicht beseitigt hat. Die Stadt dagegen berief sich darauf, dass sie die Pflasterung und den Plattenbelag auf dem Alten Markt regelmäßig (einmal pro Woche) durch geschultes Personal überprüfen lasse.

Das LG Bochum hatte die Klage mit Urt. v. 7.6.2019 – 5 O 338/18 abgewiesen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass es nicht darauf ankomme, in welcher Höhe der Pflasterstein herausgestanden habe, weil die beklagte Stadt den Markplatz jedenfalls ausreichend kontrolliert habe.

Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil war nicht erfolgreich. Zwar bestünden – so das OLG Hamm – keine Zweifel daran, dass die Klägerin zur angegebenen Zeit an der angegebenen Stelle über einen hochstehenden Pflasterstein gestolpert sei und sich durch den Sturz eine Fraktur des linken Oberarmknochens zugezogen habe. Auch sei klar, dass dieser Pflasterstein eine Gefahrenstelle dargestellt habe, die zu beseitigen gewesen sei. Dennoch hafte die beklagte Stadt nicht, weil sie ihre Kontrollpflicht nicht verletzt habe. Dabei müsse eine Stadt oder Gemeinde allerdings Straßen und Wege auf ihrem Gebiet überprüfen, um neue Schäden oder Gefahren zu erkennen und die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Hierzu gehöre es, die Straßen und Wege – in Abhängigkeit von ihrer Verkehrsbedeutung – regelmäßig zu beobachten und in angemessenen Zeitabschnitten zu befahren oder zu begehen. Nicht verlangt werden könne aber, dass eine Straße oder ein Weg ständig völlig frei von Mängeln und Gefahren sei, da sich ein solcher Zustand nicht erreichen lasse. Diesen Anforderungen habe die beklagte Stadt genügt, indem sie rund fünf Tage vor dem Unfall die spätere Unfallstelle bei einer ihrer wöchentlichen Kontrollen noch durch einen Straßenbegeher habe überprüfen lassen. Für eine nicht ausreichende Kontrolle der Wegstrecke bestünden keine Anhaltspunkte. Der Pflasterstein könne sich auch kurz vor dem Unfall der Klägerin gelockert haben. Die Ungewissheit bezüglich der Ursache und dem Zeitpunkt der Lockerung gehe zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Klägerin.

Der Kontext der Entscheidung

Wer sein Grundstück der Öffentlichkeit zugänglich macht, muss auch dafür sorgen, dass die Benutzung ohne Gefahren möglich ist – er hat eine Verkehrssicherungspflicht. Ausgangspunkt für die Anerkennung von Verkehrssicherungspflichten ist die Überlegung, dass ein Geschädigter grundsätzlich nur dann Ansprüche hat, wenn seine Rechtsgüter aktiv durch Handlungen eines Anderen verletzt wurden. Nur in Ausnahmefällen kann ein Unterlassen zum Schadensersatz verpflichten, nämlich dann, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Eine solche (Verkehrssicherungs-)Pflicht ergibt sich daraus, dass der Verfügungsberechtigte seine Gefahrenquelle beherrscht und deshalb auch entsprechende Vorkehrungen für eine (möglichst) gefahrlose Benutzung zu sorgen hat.

Die praktisch völlige Gefahrlosigkeit von Straßen oder Plätzen kann allerdings mit zumutbaren Mitteln nicht erreicht und deshalb vom Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden. Die Verkehrssicherungspflicht geht deshalb auch nicht weiter, als dass der Verpflichtete in geeigneter und zumutbarer Weise diejenigen Gefahren auszuräumen hat oder gegebenenfalls vor ihnen warnen muss, die der „normale“ Verkehrsteilnehmer nicht erkennen kann und auf die er sich auch nicht einstellen muss. Es werden also nur die Vorkehrungen geschuldet, die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von den Verkehrsteilnehmern abzuwehren.

Die Rechtsprechung zu „Stolperfallen“

Fußgänger etwa müssen kleinere Mängel des Pflasters in Form von Unebenheiten hinnehmen, weil sie sich durch eine entsprechende Gehweise darauf einrichten können. Sind die Unebenheiten vom Fußgänger nicht mehr zu beherrschen, muß der Verkehrssicherungspflichtige sie beseitigen (OLG Thüringen, Urt. v. 29.7.1997 – 3 U 1464/96, juris). Eine Erhebung von lediglich 1,2 cm hat der BGH nicht als Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht angesehen (BGH, Urt. v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, MDR 1989, 1084). Unter Berücksichtigung des Gesamtbilds wurde bei einem Gehweg eine Unebenheit von 2 cm als hinnehmbar angesehen (OLG Hamm v. 2208.1989 – 9 U 318/88, VersR 1991, 1415). Allgemein kann einem Fußgänger, wenn keine besonderen Umstände hinzukommen, eine Unebenheit von 2 cm zugemutet werden (OLG Celle, Urt. v. 23.12.1997 – 9 U 120/97, MDR 1998, 1031). Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht liegt aber vor, wenn ein Pflasterstein auf von Fußgängern benutzten Verkehrsräumen mehr als 4 cm über das sonstige Niveau hinausragt (OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.12.1989 – 14 U 159/88,  MDR 1990, 722). Bei scharfkantigen Unebenheiten können bereits Höhenunterschiede von mehr als 2 cm vom Verkehrssicherungspflichtigen die Beseitigung dieses Zustands verlangen (OLG Hamm v. 18.7.1986 – 9 U 328/85, VersR 1988, 467 f.; OLG Hamm v. 7.5.1993 – 9 U 227/921, VersR 1993, 1030; ebenso OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 52/91, VersR 1992, 355, für eine 2,5 cm hohe Aufkantung). Besteht die Gefahr einer Ablenkung durch Schaufenster kann bereits eine Vertiefung von 1,5 cm für den Fußgänger unzumutbar sein (BGH v. 27.10.1966 – III ZR 132/65, MDR 1967, 387).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Verkehrssicherungspflichtige gehalten ist, Straßen und Wege in einem Zustand zu erhalten, der verhindert, dass durch Schadstellen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Dieser Pflicht trägt die Gemeinde Rechnung, indem sie Straßen, Wege und Gehwege regelmäßigen Kontrollen unterzieht und Schadstellen ausbessert (zum Ganzen: LG Essen, Urt. v. 12.05.2005 – 4 O 370/04, juris)